H. G. Wells – Gesammelte Werke

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ich be­schat­te­te die Au­gen mit der Hand. »Es ist wie die Land­schaft ei­nes Traums. Die­se Din­ge sind we­ni­ger wie ir­di­sche Land­pflan­zen als wie das, was man sich zwi­schen den Fel­sen auf dem Mee­res­bo­den vor­stellt. Sehn Sie das da­hin­ten an! Man könn­te es für eine Ei­dech­se hal­ten, die in eine Pflan­ze ver­wan­delt wäre. Und der Glanz!«

»Dies ist nur erst der fri­sche Mor­gen«, sag­te Ca­vor.

Er seufz­te und blick­te um sich. »Dies ist kei­ne Welt für Men­schen«, sag­te er. »Und doch, ge­wis­ser­ma­ßen – es ruft da­nach.«

Er ver­stumm­te eine Wei­le, dann be­gann er sein nach­denk­li­ches Sum­men.

Ich fuhr un­ter ei­ner leich­ten Berüh­rung zu­sam­men und sah, wie mir ein dün­nes Blatt fah­ler Flech­ten über den Schuh schlug. Ich trat da­nach und es zer­fiel zu Pul­ver, und je­des Fleck­chen be­gann zu wach­sen.

Ich hör­te Ca­vor scharf auf­schrei­en und sah, dass ihn ei­nes der fest­ge­wach­se­nen Ba­jo­net­te des Strauch­werks ge­sto­chen hat­te.

Er zö­ger­te, fei­ne Au­gen such­ten un­ter den Fel­sen um uns. Ein plötz­li­cher ro­si­ger Schein war einen rau­en Fels­pfei­ler em­por­ge­kro­chen. Es war ein ganz merk­wür­di­ges Rosa, ein fah­les Magen­ta.

»Sehn Sie!«, sag­te ich und dreh­te mich um, aber sie­he, Ca­vor war ver­schwun­den.

Ei­nen Mo­ment stand ich ge­bannt. Dann tat ich einen has­ti­gen Schritt, um über den Rand des Fel­sens zu bli­cken. Aber in mei­ner Über­ra­schung über sein Ver­schwin­den ver­gaß ich von neu­em, dass wir auf dem Mon­de wa­ren. Der Druck mei­nes Fu­ßes, den ich zum Schritt aus­üb­te, hät­te mich auf der Erde einen Me­ter weit ge­tra­gen, auf dem Mon­de trug er mich sechs – gute fünf Me­ter über den Rand hin­aus. Im Mo­ment hat­te das etwa die Wir­kung je­nes Albs, in dem man fällt und fällt. Denn wäh­rend man auf der Erde in der ers­ten Se­kun­de ei­nes Falls sech­zehn Fuß fällt, fällt man auf dem Mon­de zwei, und mit nur ei­nem Sechs­tel sei­nes Ge­wichts. Ich fiel, oder ich sprang viel­mehr zehn Me­ter hin­ab, den­ke ich. Es schi­en eine gan­ze Zeit zu dau­ern, fünf oder sechs Se­kun­den, soll­te ich mei­nen. Ich schweb­te durch die Luft und fiel wie eine Fe­der, knie­tief in eine Schnee­trift auf dem Bo­den ei­ner Rin­ne aus blau­grau­em, weiß­ge­äder­tem Fels hin­ein.

Ich blick­te mich um. »Ca­vor!«, rief ich; aber kein Ca­vor war zu se­hen.

»Ca­vor!«, rief ich lau­ter, und die Fel­sen war­fen mir ihr Echo zu­rück.

Ich wand­te mich wild, zu den Fel­sen und klet­ter­te auf ihre Gip­fel. »Ca­vor!«, rief ich. Mei­ne Stim­me klang wie die Stim­me ei­nes ver­lo­re­nen Lam­mes.

Auch die Sphä­re war au­ßer Sicht, und einen Mo­ment be­drück­te mir ein furcht­ba­res Ge­fühl der Ver­las­sen­heit das Herz.

Dann sah ich ihn. Er lach­te und ges­ti­ku­lier­te, um mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich zu len­ken. Er stand auf ei­nem nack­ten Fels­stück zwan­zig oder drei­ßig Me­ter ent­fernt. Sei­ne Stim­me konn­te ich nicht hö­ren, aber sei­ne Ges­ten sag­ten: »Sprin­gen Sie!« Ich zö­ger­te; die Ent­fer­nung schi­en enorm. Aber ich über­leg­te mir, ich müs­se doch si­cher im­stan­de sein, eine grö­ße­re Ent­fer­nung zu neh­men als Ca­vor.

Ich tat einen Schritt zu­rück, nahm mich zu­sam­men und sprang mit al­ler Macht. Ich schi­en ge­ra­de­wegs in die Lust em­por­zu­schie­ßen, als soll­te ich nie wie­der her­un­ter­kom­men …

Es war furcht­bar und reiz­voll, und so wild wie ein Alb, auf die­se Art da­von­flie­gen. Ich sah gleich, dass mein Sprung viel zu hef­tig ge­we­sen war. Ich flog glatt über Ca­vors Kopf weg, und sah eine stach­li­ge Wirr­nis in ei­nem Spalt mei­nem Fall ent­ge­gen­star­ren. Ich stieß einen Schre­ckens­schrei aus. Ich streck­te die Hän­de vor mich hin und spann­te mei­ne Bei­ne.

Ich schlug auf eine pilzar­ti­ge Mas­se, die rings um mich auf­spritz­te und nach al­len Rich­tun­gen hin eine Mas­se oran­ge­far­be­ner Spo­ren fort­schleu­der­te und mich mit oran­ge­gel­ben Pul­ver be­deck­te. Ich über­schlug mich spru­delnd und kam, von atem­lo­sem La­chen ge­schüt­tet, zur Ruhe.

Ich sah Ca­vors klei­nes, run­des Ge­sicht über eine bors­ti­ge He­cke spä­hen. Er rief eine mat­te Fra­ge. »Eh?«, ver­such­te ich zu ru­fen, konn­te es aber vor Atem­man­gel nicht. Er ar­bei­te­te sich zu mir hin, in­dem er vor­sich­tig durch die Bü­sche kam.

»Wir müs­sen uns in acht neh­men«, sag­te er. »Die­ser Mond hat kei­ne Zucht. Er wird uns noch zer­schmet­tern las­sen.«

Er half mir auf die Füße. »Sie ha­ben sich zu sehr an­ge­strengt«, sag­te er, in­dem er mit der Hand auf das gel­be Zeug klopf­te, um es von mei­nem An­zug zu ent­fer­nen.

Ich stand pas­siv und keu­chend da und ließ ihn mir die Gal­ler­te von Kni­en und Ell­bo­gen schla­gen und über mein Miss­ge­schick pre­di­gen. »Wir be­rück­sich­ti­gen die Gra­vi­ta­ti­on nicht ge­nug. Un­se­re Mus­keln sind noch kaum er­zo­gen. Wir müs­sen ein we­nig üben, wenn Sie wie­der zu Atem ge­kom­men sind.«

Ich zog mir zwei oder drei klei­ne Dor­nen aus der Hand und blieb eine Zeit lang auf ei­nem Fels­block sit­zen. Mir beb­ten die Mus­keln, und ich hat­te je­nes Ge­fühl der per­sön­li­chen Ent­täu­schung, das auf der Erde den be­fällt, der beim Er­ler­nen des Rad­fah­rens den ers­ten Fall tut.

Plötz­lich fiel es Ca­vor ein, die kal­te Luft in dem Spalt kön­ne mir nach dem Son­nenglanz ein Fie­ber ge­ben. So klet­ter­ten wir in den Son­nen­schein zu­rück. Wir fan­den, dass ich von mei­nem Sturz au­ßer ein paar Ab­schür­fun­gen kei­ner­lei erns­te Be­schä­di­gung da­von­ge­tra­gen hat­te, und auf Ca­vors Vor­schlag blick­ten wir uns dann nach ei­nem si­che­ren und leich­ten Lan­de­platz für mei­nen nächs­ten Sprung um. Wir wähl­ten eine Fel­sen­plat­te in etwa zehn Me­ter Ent­fer­nung, die durch ein klei­nes Dickicht von oli­ven­grü­nen Dor­nen von uns ge­trennt war.

»Stel­len Sie sich vor, es wäre da!«, sag­te Ca­vor, der die Mie­ne ei­nes Trai­ners an­nahm, und er zeig­te auf eine Stel­le, die von mei­nen Ze­hen etwa vier Fuß ent­fernt war. Die­sen Sprung brach­te ich ohne Schwie­rig­keit fer­tig, und ich muss ge­ste­hen, ich fand eine ge­wis­se Be­frie­di­gung dar­in, dass Ca­vor um einen Fuß oder so zu kurz sprang und die Dor­nen des Ge­strüpps zu kos­ten be­kam. »Man muss sich in acht neh­men, se­hen Sie!«, sag­te er und zog sich die Dor­nen her­aus, und da­mit hör­te er auf, mein Men­tor zu sein und wur­de mein Mit­lehr­ling in der Kunst der Be­we­gung auf dem Mon­de.

Wir wähl­ten einen noch leich­teren Sprung und ta­ten ihn ohne Schwie­rig­keit; dann spran­gen wir wie­der zu­rück, und so mehr­mals hin und her, in­dem wir un­se­re Mus­keln an den neu­en Maß­stab ge­wöhn­ten. Ich hät­te es nie ge­glaubt, wenn ich es nicht aus­pro­biert hät­te, wie schnell die­se An­pas­sung vor sich ge­hen wür­de. In ganz kur­z­er Zeit, si­cher nach we­ni­ger als drei­ßig Sprün­gen, konn­ten wir die für eine Ent­fer­nung nö­ti­ge An­stren­gung mit fast ir­di­scher Si­cher­heit be­ur­tei­len.

Und noch wäh­rend all der Zeit wuch­sen die Mond­pflan­zen um uns, im­mer hö­her und dich­ter und wir­rer, je­den Au­gen­blick di­cker und grö­ßer, dor­ni­ge Pflan­zen, grü­ne Kak­tus­mas­sen, Pil­ze, flei­schi­ge und flech­ten­ar­ti­ge Din­ge, die selt­sams­ten strah­li­gen und ge­wun­de­nen Ge­stal­ten. Aber wir wa­ren so mit un­serm Sprin­gen be­schäf­tigt, dass wir eine Zeit lang nicht auf ihre un­ent­weg­te Ent­fal­tung ach­te­ten.

Eine au­ßer­or­dent­li­che Ge­ho­ben­heit hat­te uns er­grif­fen. Zum Teil glau­be ich, war es das Ge­fühl der Be­frei­ung aus dem Ge­fäng­nis der Sphä­re. Haupt­säch­lich aber war es die dün­ne Fri­sche der Luft, die, wie ich si­cher glau­be, einen viel hö­he­ren Bruch­teil Sau­er­stoff ent­hielt als un­se­re ir­di­sche At­mo­sphä­re. Trotz der Fremd­ar­tig­keit un­se­rer gan­zen Um­ge­bung fühl­te ich mich so aben­teu­er­lich und ex­pe­ri­men­tell, wie sich ein Cock­ney füh­len wür­de, den man zum ers­ten Mal un­ter die Ber­ge stell­te; und ich glau­be nicht, dass es ei­nem von uns ein­fiel, ob­gleich wir dem Un­be­kann­ten von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über stan­den, uns sehr zu fürch­ten.

Wir wa­ren von ei­nem Un­ter­neh­mungs­geist ge­bis­sen. Wir wähl­ten eine flech­ten­be­deck­te Kopje in etwa fünf­zehn Me­ter Ent­fer­nung und lan­de­ten glatt ei­ner nach dem an­de­ren auf sei­nem Gip­fel. »Gut!«, rie­fen wir ein­an­der zu, »gut!«, und Ca­vor mach­te drei Schrit­te und sprang zu ei­nem ver­lo­cken­den Schnee­hang, reich­li­che zwan­zig Me­ter und mehr ent­fernt, da­von. Ei­nen Mo­ment blieb ich von der gro­tes­ken Wir­kung sei­ner auf­flie­gen­den Ge­stalt – sei­ner schmut­zi­gen Kricket­müt­ze und des bors­ti­gen Haars, sei­nes klei­nen, run­den Rump­fes, sei­ner Arme und sei­ner in Knie­ho­sen eng ein­ge­knöpf­ten Bei­ne – vor der ma­gi­schen Geräu­mig­keit der Monds­ze­ne­rie – ge­bannt ste­hen. Mich fass­te ein plötz­li­ches La­chen, und dann sprang ich ab, ihm zu fol­gen. Plumps! fiel ich ne­ben ihm nie­der.

Wir mach­ten ein paar gar­gan­tua­ni­sche Schrit­te, spran­gen noch drei oder vier­mal und setz­ten uns schließ­lich in ei­ner flech­ten­be­deck­ten Höh­lung nie­der. Un­se­re Lun­gen schmerz­ten. Wir sa­ßen da und hiel­ten uns die Sei­ten und such­ten wie­der zu Atem zu kom­men, in­dem wir ein­an­der Bei­fall zu­blick­ten. Ca­vor keuch­te et­was von »er­staun­li­chen Emp­fin­dun­gen«. Und dann kam mir ein Ge­dan­ke in den Kopf. Im Mo­ment er­schi­en er nicht als ein be­son­ders er­schre­cken­der Ge­dan­ke, nur als eine na­tür­li­che Fra­ge, die sich aus der Si­tua­ti­on er­gab.

»Ne­ben­bei«, sag­te ich, »wo mag die Sphä­re des Ge­naue­ren lie­gen?«

Ca­vor blick­te mich an. »Eh?«

Die vol­le Be­deu­tung des­sen, was wir sag­ten, blitz­te mir scharf auf.

»Ca­vor!«, rief ich und leg­te ihm eine Hand auf den Arm, »wo ist die Sphä­re?«

 

10 – Auf dem Mond verirrte Menschen

Sein Ge­sicht nahm et­was von mei­nem Ent­set­zen an. Er stand auf und starr­te um sich in das Ge­strüpp, das uns um­zäun­te und um uns auf­stieg und in lei­den­schaft­li­chem Wachs­tum nach oben rang. Er leg­te sich eine zwei­feln­de Hand an die Lip­pen. Er sprach mit ei­nem plötz­li­chen Man­gel an Si­cher­heit. »Ich glau­be«, sag­te er lang­sam, »wir ha­ben sie … ir­gend­wo … da­her­um ge­las­sen.«

Er zeig­te mit zö­gern­dem Fin­ger, der über einen Bo­gen schwank­te.

»Ich bin nicht si­cher.« Die Be­stür­zung in sei­nem Bli­cke ver­tief­te sich. »Auf je­den Fall«, sag­te er, die Au­gen auf mich ge­rich­tet, »kann es nicht weit sein.«

Wir wa­ren bei­de auf­ge­stan­den. Wir stie­ßen be­deu­tungs­lo­se Aus­ru­fe aus, un­se­re Au­gen such­ten in dem sich ver­schlin­gen­den, dich­ter wer­den­den Dschun­gel rings um uns.

Über­all rings um uns schäum­ten und schwank­ten die strah­len­den Bü­sche, die schwel­len­den Kak­teen, die krie­chen­den Flech­ten. Über­all dort, wo Schat­ten war, blie­ben die Schnee­we­hen lie­gen. Nach Nor­den, nach Sü­den, nach Os­ten und Wes­ten er­streck­te sich die glei­che Mo­no­to­nie un­ge­wohn­ter For­men. Und ir­gend­wo be­gra­ben schon in die­sem ver­schlun­ge­nen Wirr­warr, lag un­se­re Sphä­re, un­ser Haus, un­ser ein­zi­ger Vor­rat, un­se­re ein­zi­ge Hoff­nung auf Ret­tung aus die­ser fan­tas­ti­schen Wild­nis eph­eme­rer Pflan­zen, in die wir ge­ra­ten wa­ren.

»Ich glau­be doch«, sag­te er, plötz­lich zei­gend, »es könn­te da drü­ben sein.«

»Nein«, sag­te ich. »Wir ha­ben uns in ei­ner Kur­ve ge­dreht! Seh’n Sie! da ist die Spur mei­nes Ab­sat­zes. Es ist klar, sie muss mehr nach Os­ten lie­gen, viel mehr. Nein! – die Sphä­re muss da drü­ben sein.«

»Ich glau­be«, sag­te Ca­vor, »ich habe die Son­ne die gan­ze Zeit über rechts ge­habt.«

»Bei je­dem Sprung, scheint mir«, sag­te ich, »ist mein Schat­ten vor mir her­ge­flo­gen.«

Wir starr­ten uns ge­gen­sei­tig in die Au­gen. Das Ge­biet des Kra­ters war un­se­rer Fan­ta­sie un­ge­heu­er weit ge­wor­den, das wach­sen­de Dickicht be­reits un­durch­dring­lich dicht.

»Gü­ti­ger Him­mel! Was für Nar­ren wir ge­we­sen sind!«

»Es ist klar, dass wir sie wie­der­fin­den müs­sen«, sag­te Ca­vor, »und das bald. Die Son­ne wird stär­ker. Wir wür­den schon jetzt vor Hit­ze ohn­mäch­tig wer­den, wenn es nicht so tro­cken wäre. Und … ich habe Hun­ger.«

Ich starr­te ihn an. Die­se Sei­te der Sa­che hat­te ich vor­her nicht ver­mu­tet. Aber es über­kam mich so­fort – ein po­si­ti­ves Ver­lan­gen. »Ja«, sag­te ich mit Nach­druck, »ich habe auch Hun­ger.«

Er stand mit ei­nem Blick ak­ti­ver Ent­schlos­sen­heit auf. »Aus je­den Fall müs­sen wir die Sphä­re fin­den.«

So ru­hig wie mög­lich über­blick­ten wir die end­lo­sen Ris­se und Dickich­te, die den Bo­den des Kra­ters bil­de­ten, und wir bei­de wo­gen in der Stil­le die Aus­sicht ab, ob wir die Sphä­re fin­den wür­den, ehe die Hit­ze und der Hun­ger uns über­wäl­tig­ten.

»Sie kann kei­ne fünf­zig Me­ter von hier ent­fernt sein«, sag­te Ca­vor mit un­ent­schie­de­nen Ges­ten. »Das ein­zi­ge ist, her­um­zu­su­chen, bis wir sie fin­den.«

»Das ist al­les, was wir tun kön­nen«, sag­te ich ohne jede Le­ben­dig­keit, mit un­se­rer Jagd zu be­gin­nen. »Ich woll­te, die­se ver­damm­ten Dorn­bü­sche wüch­sen nicht so schnell.«

»Das ist es ge­ra­de«, sag­te Ca­vor. »Aber sie hat auf ei­ner Schnee­bank ge­le­gen.«

Ich starr­te in der un­be­stimm­ten Hoff­nung um­her, ich wer­de einen Kopf oder einen Busch wie­der­er­ken­nen, der in der Nähe der Sphä­re ge­stan­den hat­te. Aber al­les war die ver­wir­ren­de Gleich­heit, über­all die auf­stre­ben­den Bü­sche, die schwel­len­den Pil­ze, die schwin­den­den Schnee­bän­ke, die sich ste­tig und un­ver­meid­lich än­der­ten. Die Son­ne seng­te und stach, die Schwä­che ei­nes un­er­klär­li­chen Hun­gers misch­te sich mit un­se­rer un­end­li­chen Be­stür­zung. Und wie wir noch so da stan­den, ver­wirrt und ver­lo­ren un­ter un­er­hör­ten Din­gen, wur­den wir uns zum ers­ten Mal ei­nes Schal­les auf dem Mond be­wusst, der et­was an­de­res war, als die Re­gung der wach­sen­den Pflan­zen, das leich­te Seuf­zen des Win­des oder die Geräusche, die wir sel­ber ge­macht hat­ten.

Bumm … Bumm … Bumm …

Er kam von un­ter un­se­ren Fü­ßen her – ein Schall im Mond. Es war, als hör­ten wir ihn eben­so­sehr mit un­sern Fü­ßen wie mit un­sern Ohren. Sei­ne dump­fe Re­so­nanz war durch die Fer­ne ge­dämpft, ge­dämpft von den da­zwi­schen­lie­gen­den Mas­sen. Kein Schall, den ich mir vor­stel­len kann, hät­te uns mehr er­stau­nen kön­nen, oder hät­te den Aus­druck der Din­ge um uns voll­stän­di­ger ver­än­dern kön­nen. Denn die­ser rei­che, lang­sa­me und über­leg­te Schall, so schi­en es uns, konn­te nichts sein als der Schlag ei­ner rie­sen­haf­ten, ver­gra­be­nen Uhr.

Bumm … Bumm … Bumm …

Ein Schall, der an stil­le Klös­ter er­in­ner­te, an schlaflo­se Näch­te in volk­rei­chen Städ­ten, an Wa­chen und die er­war­te­te Stun­de, an al­les, was ge­ord­net und me­tho­disch am Le­ben ist, und der dröhn­te schwan­ger und ge­heim­nis­voll em­por in die­se fan­tas­ti­sche Wüs­te! Für das Auge war al­les un­ver­än­dert: die Ein­sam­keit der Bü­sche und Kak­teen, die sich schwei­gend im Win­de wieg­ten, er­streck­te sich un­ge­bro­chen bis zu den fer­nen Klip­pen, der noch dunkle Him­mel zu Häup­ten war leer; und die hei­ße Son­ne zö­ger­te und brann­te. Und durch all das hin­durch poch­te eine War­nung, eine Dro­hung, die­ses Schall­rät­sel hin­durch.

Bumm … Bumm … Bumm …

Wir frag­ten ein­an­der mit schwa­chen und mat­ten Stim­men. »Eine Uhr?«

»Wie eine Uhr!«

»Was ist es?«

»Was kann es sein?«

»Zäh­len Sie«, lau­te­te Ca­vors ver­spä­te­ter Vor­schlag, und bei dem Wor­te hör­te das Schla­gen auf.

Die Stil­le, die rhyth­mi­sche Ent­täu­schung der Stil­le, wirk­te als ein neu­er Stoß. Ei­nen Mo­ment konn­te man zwei­feln, ob man je einen Ton ge­hört hat­te. Ober ob er nicht noch fort­dau­er­te. Hat­te ich wirk­lich einen Schall ge­hört?

Ich fühl­te den Druck von Ca­vors Hand auf mei­nem Arm. Er sprach im Flüs­ter­ton, als fürch­te er, ein schla­fen­des Et­was zu we­cken. »Las­ten Sie uns zu­sam­men­blei­ben«, flüs­ter­te er, »und nach der Sphä­re su­chen. Wir müs­sen zur Sphä­re zu­rück­kom­men. Dies geht über un­ser Ver­ständ­nis hin­aus.«

»In wel­cher Rich­tung sol­len wir ge­hen?«

Er zö­ger­te. Eine in­ten­si­ve Über­zeu­gung von der Ge­gen­wart von We­sen, von un­sicht­ba­ren Din­gen um uns und in un­se­rer Nähe be­herrsch­te un­se­ren Geist. Was konn­te es sein? Wo moch­ten wir sein? War die­se dür­re Ein­öde, die wech­selnd ge­fro­ren und ver­sengt wur­de, nur die äu­ße­re Rin­de und Mas­ke ei­ner un­ter­ir­di­schen Welt? Und wenn, wel­cher Art von Welt? Wel­che Art Be­woh­ner konn­te sie nicht plötz­lich auf uns aus­spei­en!

Und dann stach in die schmer­zen­de Stil­le hin­ein, leb­haft und plötz­lich wie ein un­er­war­te­ter Don­ner­schlag, ein Ge­klirr und ein Ras­seln hin­ein, als wä­ren plötz­lich große me­tal­le­ne Tore auf­ge­sto­ßen.

Das un­ter­brach un­se­re Schrit­te. Wir stan­den still und starr­ten hilf­los. Dann stahl Ca­vor sich auf mich zu.

»Ich ver­ste­he das nicht!«, flüs­ter­te er mir nah am Ge­sicht. Er schwenk­te die Hand un­be­stimmt nach dem Him­mel hin – die un­be­stimm­te An­deu­tung noch un­be­stimm­te­rer Ge­dan­ken.

»Ein Ver­steck! Wenn ir­gend et­was käme …«

Ich blick­te um uns. Ich nick­te ihm zu­stim­mend mit dem Kop­fe zu.

Wir bra­chen wie­der auf und be­weg­ten uns ver­stoh­len mit den über­trie­be­nen Vor­sichts­maß­re­geln ge­gen ein Geräusch. Wir gin­gen auf ein Ge­strüpp­dickicht zu. Ein Geras­sel, wie wenn man Häm­mer um einen Kes­sel schlägt, be­schleu­nig­te un­se­re Schrit­te. »Wir müs­sen krie­chen«, flüs­ter­te Ca­vor.

Die un­te­ren Blät­ter der Ba­jo­nett­pflan­zen, die schon von den jün­ge­ren dar­über be­schat­tet wur­den, be­gan­nen zu wel­ken und zu ver­schrump­fen, so­dass wir uns zwi­schen den di­cker wer­den­den Stäm­men ohne erns­ten Scha­den durch­ar­bei­ten konn­ten. Auf einen Stich ins Ge­sicht oder in den Arm ach­te­ten wir nicht. Im Her­zen des Dickichts mach­te ich Halt und starr­te Ca­vor keu­chend ins Ge­sicht.

»Un­ter­ir­disch«, flüs­ter­te er. »Da un­ten.«

»Sie kön­nen her­aus­kom­men.«

»Wir müs­sen die Sphä­re fin­den!«

»Ja«, sag­te ich, »aber wie?«

»Wenn wir aber nicht zu ihr kom­men.«

»Krie­chen, bis wir zu ihr kom­men.«

»Ver­bor­gen blei­ben. Se­hen, wie sie sind.«

»Wir wol­len zu­sam­men­blei­ben«, sag­te ich.

Er dach­te nach. »Wo­hin sol­len wir ge­hen?«

»Wir müs­sen un­ser Glück ver­su­chen.«

Wir späh­ten hier­hin und dort­hin. Dann be­gan­nen wir sehr um­sich­tig durch den un­te­ren Dschun­gel zu krie­chen, in dem wir, so gut wir es be­ur­tei­len konn­ten, einen Kreis schlu­gen und jetzt bei je­dem schwan­ken­den Schwamm­ge­wächs, bei je­dem Schall in­ne­hiel­ten, nur auf die Sphä­re be­dacht, aus der wir so tö­rich­ter­wei­se auf­ge­taucht wa­ren. Von Zeit zu Zeit dran­gen aus der Erde un­ter uns im­mer wie­der Er­schüt­te­run­gen her­auf, Schlä­ge, un­heim­li­che, un­er­klär­li­che, me­cha­ni­sche Töne: und ein­mal, und dann noch­mals hör­ten wir et­was, ein schwa­ches Ras­seln und einen Tu­mult, durch die Luft her zu uns ge­tra­gen. Aber furcht­sam, wie wir wa­ren, wag­ten wir kei­nen er­höh­ten Punkt auf­zu­su­chen, um den Kra­ter zu über­bli­cken. Lan­ge sa­hen wir nichts von den We­sen, de­ren Geräusche so reich­lich und be­harr­lich wa­ren. Wäre nicht die Mat­tig­keit un­se­res Hun­gers und die Tro­cken­heit un­se­rer Keh­len ge­we­sen, so hät­te dies Krie­chen et­was von ei­nem sehr leb­haf­ten Traum ge­habt. Es war so ab­so­lut un­re­al. Das ein­zi­ge Ele­ment, das einen Hauch von Rea­li­tät hat­te, wa­ren die­se Töne.

Man stel­le es sich vor! Um uns der traum­haf­te Dschun­gel mit den stil­len Ba­jo­nett­blät­tern, die über uns strahl­ten, und die stil­len, leb­haf­ten, son­ne­ge­spren­kel­ten Flech­ten un­ter un­se­ren Hän­den und Kni­en, die vor der Ge­walt ih­res Wachs­tums wog­ten, wie ein Tep­pich wogt, wenn der Wind dar­un­ter fasst. Hin und wie­der sperr­te uns eine neue Ge­stalt in leb­haf­ter Far­be den Weg. Die Zel­len, die die­se Pflan­zen auf­bau­ten, wa­ren schon so groß wie mein Dau­men; sie gli­chen Per­len aus ge­färb­tem Glas. Und all die­se Din­ge wa­ren im un­ge­mil­der­ten Glanz der Son­ne ge­sät­tigt, wur­den ge­gen einen Him­mel ge­se­hen, der bläu­lich schwarz und trotz des Son­nen­scheins noch mit ein paar über­le­ben­den Ster­nen über­sät war. Fremd­ar­tig! so­gar die For­men und die Tex­tur der Stei­ne wa­ren fremd­ar­tig. Al­les war fremd­ar­tig, das Ge­fühl des Kör­pers war un­er­hört und jede neue Be­we­gung en­de­te in ei­ner Über­ra­schung. Der Atem ström­te dünn durch den Hals ein, das Blut floss ei­nem in ei­ner po­chen­den Flut durch die Ohren – bum, bum, bum, bum, bum …

Und im­mer ka­men uns von Zeit zu Zeit Schau­er des Aufruhrs, Häm­mern, das Ras­seln und Schla­gen von Ma­schi­nen zu Ohren, und dann – das Brül­len großer Tie­re!