»Es mag sonderbar sein, aber es ist doch kein Verbrechen. Warum werde ich von der Polizei in solcher Weise angegriffen – –«
»Ah, das ist ein anderes Kapitel«, entgegnete Jaffers. »Bei dieser Beleuchtung ist es allerdings schwer, Sie zu sehen, aber ich habe einen Verhaftbefehl, und der ist ganz in Ordnung. Wohinter ich her bin, ist nicht Unsichtbarkeit, sondern Raub. Es ist in einem Hause eingebrochen und Geld geraubt worden.«
»Nun?«
»Und die Umstände weisen deutlich darauf hin – –«
»Blödsinn«, sagte der Unsichtbare.
»Das hoffe ich, Herr, aber ich habe den Befehl – –«
»Gut«, entgegnete der Fremde, »ich gehe mit Ihnen. Ich gehe – aber keine Handschellen.«
»Es ist die Regel!«, sagte Jaffers.
»Keine Handschellen!«, wiederholte der Fremde.
»Verzeihen Sie«, begann Jaffers.
Plötzlich ließ sich die Gestalt nieder und bevor jemand begriff, in welcher Absicht, lagen Schuhe, Socken und Beinkleider unter dem Tisch. Dann sprang sie wieder auf und warf ihren Rock ab.
»Halt da!«, rief Jaffers, der plötzlich begriff, was vor sich ging. Er packte die Weste, sie wehrte sich, das Hemd schlüpfte heraus und die erstere blieb ihm leer in der Hand zurück. »Haltet ihn!«, schrie Jaffers, »sobald er die Sachen abwirft – – –«
»Haltet ihn!«, schrien alle und stürzten sich auf das flatternde weiße Hemd, das einzige von der ganzen Gestalt, das noch sichtbar geblieben war.
Der Hemdärmel versetzte Mr. Hall einen wohlgezielten Schlag in das Gesicht, der dessen Annäherungsversuchen ein Ende machte und ihn gegen den alten Toothsome, den Dorfküster, schleuderte. Im nächsten Augenblick wurde das Hemd emporgehoben und bauschte sich in der Luft. Jaffers griff danach, half aber nur es ausziehen. Ein Schlag aus der Luft traf ihn auf den Mund; ohne sich zu besinnen, erhob er seinen Knüttel und schlug Teddy Henfrey heftig mitten auf den Kopf.
»Aufgepasst!«, rief man, aufs Geratewohl zuschlagend, ohne etwas zu treffen. »Haltet ihn!«, »Schließt die Tür!«, »Lasst ihn nicht durch!«, »Ich habe etwas!«, »Hier ist er!«. Ein vollkommenes Babel entstand, auf alle hagelte es Schläge, als Sandy Wadgers, klug wie immer – sein Verstand war durch einen heftigen Schlag auf die Nase noch geschärft worden – die Tür öffnete und das Signal zur Flucht gab. Die anderen, die ihm in wildem Durcheinander folgten, wurden einen Augenblick zwischen den Türpfosten eingekeilt, wobei das Stoßen und Schlagen fortdauerte, Phipps, dem Unitarier, wurde ein Vorderzahn ausgeschlagen, und Henfrey an der Ohrmuschel verletzt, Jaffers bekam einen Schlag auf die Kinnbacken, und als er sich umwendete, erwischte er etwas, was sich bei dem Kampfe zwischen ihn und Huxter stellte und sie voneinander trennte. Er fühlte eine muskulöse Brust, und im nächsten Augenblick stürzte sich die ganze Masse kämpfender, erregter Männer in die dichtgedrängte Vorhalle.
»Ich hab’ ihn!«, schrie Jaffers halb erstickt und taumelnd, mit purpurrotem Gesicht und schwellenden Adern gegen seinen unsichtbaren Feind ankämpfend.
Die Leute wichen rechts und links aus, als sich der seltsame Kampf schnell gegen die Haustür bewegte und auf den wenigen Stufen, die zur Straße hinabführten, sich fortspann. Jaffers schrie, als ob er gewürgt würde, hielt aber nichtsdestoweniger fest und ließ sein Knie spielen. Endlich überstürzte er sich und fiel kopfüber zu Boden. Erst dann verloren seine Finger ihren Halt.
Man hörte aufgeregtes Stimmengewirr. »Haltet ihn!«, »Der Unsichtbare!«, usw., und ein junger Bursche, ein Ortsfremder, dessen Name nicht festgestellt werden konnte, drängte sich vor, ergriff etwas, ließ es fahren und stürzte über den Körper des am Boden liegenden Gendarmen. Mitten auf der Straße kreischte eine Frau auf, als ein Etwas sie beiseite stieß. Ein Hund, der augenscheinlich einen Fußtritt bekommen hatte, kläffte und rannte bellend in Huxters Hof, und damit war die Flucht des Unsichtbaren gelungen. Eine Zeit lang blieben die Leute verblüfft und lebhaft gestikulierend stehen, dann kam die Furcht über sie und zerstreute sie durchs Dorf, wie ein Windstoß, der die welken Blätter herumwirbelt. Aber Jaffers lag still mit aufwärts gerichtetem Antlitz und gebogenen Knien am Fuße der Stufen, die zum Wirtshaus führten.
Das achte Kapitel ist außerordentlich kurz und erzählt, dass Gibbins, der in der ganzen Gegend bekannte Naturforscher, welcher auf der weiten, offenen Düne lag – wie er glaubte, der einzige Mensch auf Meilen im Umkreis – und beinahe eingeschlummert war, ganz nahe bei sich einen Menschen husten, niesen und dann wild fluchen hörte. Er sah auf, ohne etwas zu erblicken. Und doch war die Stimme unbestreitbar da. Sie fuhr fort, mit jener Ausdauer und Reichhaltigkeit der Ausdrücke zu fluchen, welche den gebildeten Menschen auszeichnet. Die Stimme kam zu einem Höhepunkt, wurde schwächer und erstarb endlich in der Entfernung, wie es schien, in der Richtung gegen Adderdean zu. Noch einmal erhob sich das Geräusch zu einem Hustenanfall, dann endete es. Gibbins hatte nichts von den Ereignissen des Morgens gehört, aber jenes Phänomen war so merkwürdig und beunruhigend, dass seine philosophische Ruhe schwand. Er stand hastig auf und eilte, so schnell er konnte, den steilen Hügel hinunter, dem Dorfe zu.
Man muss sich Mr. Thomas Marvel als einen Menschen mit beweglichen, leicht veränderlichen Gesichtszügen, vorspringender, gebogener Nase, gierigem, breitem Triefmaul und ungeheurem, struppigem Bart vorstellen. Seine Gestalt neigte zur Wohlbeleibtheit, und seine kurzen Beine ließen diese Anlage noch mehr hervortreten. Er trug einen abgenutzten Zylinderhut, und die häufige Verwendung von Bindfäden und Schuhriemen, anstatt von Knöpfen, an besonders in die Augen fallenden Stellen seines Anzugs ließ leicht den Junggesellen erraten.
Mr. Thomas Marvel saß, die Füße im Straßengraben, auf der Landstraße, die über die Dünen nach Adderdean führt, ungefähr eine und eine halbe Meile von Iping entfernt. Bis auf zerrissene Socken waren seine Füße unbekleidet; seine großen Zehen waren breit und in steter, gleichsam wachsamer Bewegung. In gemütlichem Tempo – er tat alles langsam und gemütlich – schickte er sich eben an, ein Paar Stiefel anzuprobieren. Sie waren die festesten, die er seit langer Zeit besessen hatte, aber etwas zu groß; wogegen jene, die er abgelegt hatte, bei trockenem Wetter sehr angenehm, für feuchtes Wetter aber zu dünn gesohlt waren. Mr. Thomas Marvel hasste zu weite Schuhe, aber er hasste auch die Nässe. Er war sich niemals klar darüber geworden, was von den beiden Dingen ihm widerwärtiger war, und da es ein schöner Tag war und er nichts Besseres zu tun hatte, so stellte er die vier Stiefel zierlich gruppiert auf die Erde und blickte sie an. Und wie er sie da auf dem Grase zwischen den emporschießenden Frühlingsblumen stehen sah, fiel ihm plötzlich auf, wie ganz besonders hässlich beide Paare waren. Er war daher auch gar nicht erstaunt, eine Stimme hinter sich sagen zu hören:
»Stiefel sind es doch immerhin.«
»Jawohl – geschenkte Stiefel«, entgegnete Mr. Thomas Marvel, den Kopf auf die Seite neigend und sie verachtungsvoll anblickend, »und ich will verdammt sein, wenn ich weiß, welches von beiden im ganzen gesegneten Weltall das hässlichste Paar ist!«
»Hm«, sagte die Stimme.
»Ich habe schon schlechtere getragen – unter uns gesprochen – bisweilen auch gar keine; aber niemals noch so verdammt hässliche – wenn Sie mir diesen Ausdruck gefälligst gestatten. Ich bin tagelang um Stiefel betteln gegangen – speziell um Stiefel – weil meine mir zuwider waren. Fest genug sind sie, das ist wahr, aber ein zu Fuß reisender Gentleman hat seine Stiefel so viel vor Augen! Und, Sie mögen es mir glauben oder nicht, ich habe in dieser ganzen gesegneten Gegend, soviel ich auch suchte, keine besseren aufgetrieben als diese da. Man braucht sie nur anzusehen! Und im Allgemeinen ist die Gegend doch nicht schlecht, was Stiefel anbetrifft. Aber das Glück ist so launenhaft. Seit zehn Jahren oder länger beziehe ich meine Stiefel aus dieser Gegend. Und dann wird man so behandelt.«
»Es ist eine miserable Gegend«, sagte die Stimme, »und die Menschen sind nicht besser als Tiere!«
»Nicht wahr?«, stimmte Mr. Marvel bei. »Gott, aber diese Stiefel! Das ist das Höchste!«
Er wendete den Kopf nach rechts, um die Stiefel des anderen mit den seinigen zu vergleichen. Doch siehe da! Wo die Stiefel seines Gefährten hätten sein sollen, waren weder Beine noch Stiefel. Er wendete den Kopf nach links – aber auch da waren weder Beine noch Stiefel zu finden. Die dunkle Ahnung eines großen Wunders dämmerte in ihm auf. »Wo sind Sie?«, fragte er, sich halb aufrichtend. Er sah nichts als ein Stück offenen Landes, die Düne, über welche der Wind strich, und grüne Baumwipfel in der Ferne.
»Bin ich betrunken?«, sprach Mr. Marvel zu sich selbst. »Sehe ich Gespenster? Habe ich mit mir selbst gesprochen? Was zum –«
»Erschrecken Sie nicht«, sagte eine Stimme.
»Bei mir kommen Sie mit Ihrer Bauchrednerei schlecht an«, rief Mr. Thomas Marvel, schnell aufspringend. »Wo sind Sie? Erschrecken, sehr gut!«
»Erschrecken Sie nicht«, wiederholte die Stimme.
»Du wirst gleich anfangen zu erschrecken, du dummer Kerl«, sagte Thomas Marvel. »Wo bist du? Wenn ich dich erwische –!«
»Bist du in die Erde vergraben?«, fragte er nach einer Pause.
Keine Antwort. Aufs höchste betroffen stand Mr. Thomas Marvel da, barfuß, mit halb offener Jacke.
»Piwit!«, rief ein Kibitz in der Ferne.
»›Piwit!‹ jawohl!«, sagte Mr. Thomas Marvel. »Jetzt ist keine Zeit für dumme Späße!« Im Osten und Westen, Norden und Süden war die Düne wie ausgestorben. Die Straße mit ihren seichten Gräben und weißen Grenzsteinen lief glatt und menschenleer von Nord nach Süd, und bis auf den Vogel, der gerufen hatte, war auch in der Luft und unter dem blauen Himmel Stille und Verlassenheit. »Gott stehe mir bei«, sagte Mr. Thomas Marvel, seinen Rock zuknöpfend, »das kommt vom Trinken. Ich hätte es wissen können.«
»Das kommt nicht vom Trinken«, erwiderte die Stimme. »Nehmen Sie Ihren Mut zusammen.«
»O!«, rief Mr. Marvel, und sein Gesicht wurde so bleich, dass die roten Flecken in demselben noch stärker hervortraten. »Das kommt vom Trinken«, wiederholten seine Lippen lautlos. Langsam zurücktretend, blickte er sich noch immer nach allen Seiten um. »Ich hätte schwören können, dass ich eine Stimme hörte«, flüsterte er.
»Sie hörten sie auch.«
»Da kommt es wieder«, sagte Mr. Marvel, schloss die Augen und legte mit tragischer Gebärde die Hand an die Stirn. Plötzlich wurde er beim Kragen gepackt und heftig geschüttelt; verwirrter denn je blickte er um sich.
»Seien Sie kein Narr!«, sagte die Stimme.
»Ich – habe – meinen – gesegneten – Verstand – verloren!«, jammerte Mr. Marvel. »Es hilft nichts. Ich habe mich zu viel über diese verwünschten Stiefel aufgeregt. Ich habe meinen guten, gesunden Verstand verloren. Oder sind es am Ende Gespenster?«
»Weder das eine noch das andere«, entgegnete die Stimme. »So hören Sie doch!«
»Mein Verstand!«, seufzte Mr. Marvel.
»Eine Minute!«, sagte die Stimme eindringlich; doch konnte man heraushören, wie sie sich mühsam Zurückhaltung auferlegte.
»Nun?«, fragte Mr. Marvel, wobei ihm das seltsame Gefühl überkam, als ob jemand seine Brust berühre.
»Sie halten mich also für eine Täuschung, ein Trugbild?«
»Was könnten Sie sonst sein?«, fragte Mr. Thomas Marvel, sich die Nase reibend.
»Schön«, sagte die Stimme mit dem Tone der Erleichterung, »dann werde ich so lange Kieselsteine auf Sie werfen, bis Sie Ihre Meinung ändern.«
»Aber wo sind Sie denn?«
Die Stimme gab keine Antwort. Flugs kam ein Kieselstein, wie es schien, aus der Luft, und flog um eines Haares Breite an Mr. Marvels Schulter vorbei. Als dieser sich umwendete, sah er einen zweiten Kieselstein aufspringen, eine krumme Linie in der Luft beschreiben, einen Augenblick lang stillstehen und dann mit schwindelerregender Schnelligkeit auf seinen Fuß niederfallen. Mr. Marvel war zu verblüfft, um auszuweichen. Wie ein Blitz war der Stein gekommen, prallte von einer seiner bloßen Zehen ab und flog in den Graben. Mr. Thomas Marvel sprang mit beiden Füßen zugleich in die Höhe und brüllte laut. Dann wollte er davonlaufen, stürzte aber über ein unsichtbares Hindernis und kam unfreiwillig auf dem Boden zu sitzen.
»Nun?«, fragte die Stimme, während ein dritter Stein aufwärts stieg und über dem Landstreicher in der Luft hing, »bin ich bloße Einbildung?«
Statt jeder Antwort versuchte Mr. Marvel, sich zu erheben, wurde aber sofort niedergeworfen. Einen Augenblick lag er still.
»Wenn Sie sich noch einmal wehren«, drohte die Stimme, »werfe ich Ihnen diesen Stein an den Kopf!«
»Wie soll ich das begreifen?«, sprach Mr. Thomas Marvel zu sich. Er setzte sich auf, griff nach der verwundeten Zehe und heftete den Blick auf das dritte Wurfgeschoss. »Ich verstehe es nicht. Steine, die sich selbst werfen, Steine, die sprechen. Schaut, dass Ihr fortkommt. Hol’ Euch der Henker! Mit mir ist’s aus!«
Der dritte Kiesel fiel herab.
»Es ist ganz einfach«, sagte die Stimme. »Ich bin ein unsichtbarer Mensch.«
»Was sonst noch?«, rief Mr. Marvel, vor Schmerz aufschreiend. »Wo steckst du denn, wie stellst du es denn an? Also, ich gestehe, dass ich nicht begreife. Ich ergebe mich!«
»Das ist alles«, erwiderte die Stimme. »Ich bin unsichtbar. Und das sollen Sie endlich begreifen!«
»Das kann jeder sehen. Sie brauchen aber nicht so verdammt ungeduldig zu werden, Herr. Also, erzählen Sie. Wie haben Sie sich versteckt?«
»Ich bin unsichtbar. Das ist die Hauptsache. Und was ich Ihnen beizubringen wünsche, ist –«
»Aber wo sind Sie denn?«, unterbrach Mr. Marvel.
»Hier, sechs Schritte vor Ihnen!«
»Oh, halten Sie mich nicht zum Narren. Ich bin nicht blind. Sie werden mir nächstens erzählen, dass Sie leere Luft sind. Ich bin nicht einer von den unwissenden Landstreichern –«
»Ja, ich bin leere Luft. Sie sehen durch mich hindurch.«
»Was? Haben Sie keinen Körper? Vox et1 – wie heißt es? – Geschnatter. Ist es so?«
»Ich bin ein menschliches Wesen wie Sie – das Nahrung und Kleidung braucht … Aber ich bin unsichtbar. Verstehen Sie? Unsichtbar. Der Gedanke ist doch einfach. Unsichtbar.«
»Was? Wirklich und wahrhaftig?«
»Ja, wirklich.«
»Lassen Sie mich eine Ihrer Hände berühren«, sagte Mr. Marvel, »wenn Sie ein wirklicher Mensch sind. Dann käme es mir doch nicht gar so unglaublich vor –«
»Herr Gott! Wie Sie mich erschreckt haben! so fest anzupacken!«, rief er dann.
Mit den freien Fingern betastete er die Hand, welche sein Gelenk umklammert hatte; dann glitt seine Hand schüchtern den Arm hinauf, berührte eine breite Brust und fuhr über ein bärtiges Gesicht. Sein eigenes Gesicht bot ein Bild der höchsten Verwunderung.
»Das ist großartig!«, sagte er. »Noch interessanter als Hahnenkämpfe. Höchst erstaunlich! Das Kaninchen, das dort eine halbe Meile entfernt läuft, kann ich durch ihren Körper hindurch sehen! Nichts sieht man von Ihnen – außer –«
Er blickte angestrengt in den scheinbar leeren Raum. »Haben Sie vielleicht Brot und Käse gegessen?«, fragte er, den unsichtbaren Arm haltend.
»Sie haben ganz recht. Es hat sich dem Körper noch nicht assimiliert.«
»Oh«, sagte Mr. Marvel, »eine gruslige Geschichte!«
»Natürlich ist das alles nicht halb so merkwürdig, als Sie glauben.«
»Es ist gerade merkwürdig genug für meine bescheidenen Bedürfnisse«, meinte Mr. Thomas Marvel. »Wie machen Sie das? Wie zum Teufel stellt man das an?«
»Das ist eine zu lange Geschichte. Und außerdem –«
»Ich sage Ihnen, ich bin wie vor den Kopf geschlagen«, fuhr Mr. Marvel fort.
»Was ich Ihnen jetzt zu sagen wünsche, ist folgendes: Ich brauche Hilfe. So weit ist es mit mir gekommen. Toll vor Wut, nackt, ohnmächtig, wanderte ich auf der Straße, als ich auf Sie stieß. Ich hätte morden können … Da erblickte ich Sie –«
»Herr Gott!«, stieß Mr. Marvel hervor.
»Ich näherte mich Ihnen von rückwärts – zögerte – ging weiter.«
Mr. Marvels Gesichtsausdruck war geradezu sprechend deutlich.
»Dann blieb ich stehen. Hier, dachte ich, ist einer, den die Welt auch ausgestoßen hat. Das ist mein Mann. So wandte ich mich um und kam auf Sie zu. Auf Sie. Und –«
»Herr Gott!«, sagte Mr. Marvel. »Aber ich bin ganz verwirrt. Darf ich fragen, was Sie meinen und worin ich Ihnen behilflich sein kann? Unsichtbar!«
»Sie sollen mir helfen, mir Kleider, eine Zuflucht und noch anderes zu verschaffen. Ich habe dies alles lang genug entbehrt. Wenn Sie nicht wollen – gut! – Aber Sie müssen wollen!«
»Hören Sie«, antwortete Mr. Marvel. »Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Stoßen Sie mich jetzt nicht mehr herum. Lassen Sie mich gehen. Ich muss mich ein wenig stärken. Und Sie haben mir beinahe die Zehe zerschlagen. Es ist alles so widersinnig: leeres Land, leere Luft. Auf Meilen im Umkreise nichts sichtbar als der Busen der Natur. Und dann kommt eine Stimme. Eine Stimme aus dem Himmel heraus. Und Steine. Und eine Faust. Herr Gott!«
»Fassen Sie sich«, erwiderte die Stimme, »denn Sie müssen den Auftrag ausführen, für den ich Sie ausersehen habe.«
Mr. Marvel stieß die Luft durch die Zähne und machte große Augen.
»Sie habe ich ausersehen«, fuhr die Stimme fort. »Bis auf einige Narren dort unten sind Sie der einzige, der weiß, dass es etwas wie einen unsichtbaren Menschen gibt. Sie sollen mein Helfer sein. Helfen Sie mir – und ich will Großes für Sie tun. Ein unsichtbarer Mensch ist eine Macht.« Er hielt einen Augenblick ein, um heftig zu niesen.
»Aber wenn Sie mich verraten«, fuhr er fort, »wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen auftrage …«
Er brach ab und klopfte Mr. Marvel fest auf die Schulter. Erschreckt schrie dieser auf. »Ich will Sie nicht verraten«, sagte er, wobei er sich der Berührung durch die unsichtbaren Finger zu entziehen suchte. »Glauben Sie nur das nicht. Ich wünsche nichts, als Ihnen helfen zu können – sagen Sie mir nur, was ich tun soll. (O Gott!) Was Sie von mir verlangen, ich bin gern bereit, es zu tun!«
1 von vox et praeterea nihil – Eine Stimme und sonst nichts <<<
Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, begannen die Leute in Iping ihre Meinungen auszutauschen. Der Unglaube erhob plötzlich sein Haupt; zwar nicht sehr sieghaft, aber doch zweifelloser Unglaube. Es ist so leicht, die Existenz eines unsichtbaren Menschen zu leugnen; überdies konnte man diejenigen, welche ihn tatsächlich in Luft aufgehen sehen oder die Kraft seines Armes gefühlt hatten, an den Fingern abzählen. Und augenblicklich fehlte von diesen Zeugen Mr. Wadgers, der sich hinter den Riegeln und Schlössern seines Hauses verschanzt hatte, und Jaffers, welcher besinnungslos im Gastzimmer des »Fuhrmann« lag. Neue und ungewöhnliche Vorkommnisse, die über den Kreis menschlicher Erfahrung hinausgehen, machen oft weniger Eindruck auf das Volk als geringfügige, aber mehr greifbare Ereignisse. Iping war mit Flaggen geschmückt und alle Welt trug Feiertagsstaat. Seit mehr als einem Monat hatte man sich auf den Pfingstmontag gefreut. Am Nachmittag begannen selbst jene, die an den Unsichtbaren glaubten, in der willkürlichen Annahme, dass er den Ort gänzlich verlassen habe, ihren Vergnügungen, wenn auch etwas zerstreut, nachzugehen, und die Skeptiker machten schon Witze über ihn. Aber Skeptiker sowohl als Überzeugte waren den ganzen Tag über in einer bemerkenswert geselligen Stimmung.
Mitten auf Haysmans Wiese stand ein luftiges Zelt, wo Mrs. Bunting und andere Damen Tee bereiteten, während draußen die Kinder aus der Sonntagsschule ein Wettlaufen veranstalteten und unter der lärmenden Führung des Pfarrers und der Misses Cuss und Sackbutt fröhliche Spiele betrieben. Es lag allerdings eine gewisse Unbehaglichkeit in der Luft, aber die meisten Leute waren vernünftig genug, ihre Unruhe, für die sie einen bestimmten Grund nicht hätten angeben können, zu verbergen. Auf der Dorfwiese fand neben der Schaukel und der Kokosnussbude ein schiefgespanntes Seil außerordentlichen Zuspruch seitens der Jugend. Mittels des letzteren wurde man, während man sich an einer schwebenden Handhabe festhielt, pfeilschnell gegen einen am anderen Ende befestigten Sack geworfen. Man ging auch viel spazieren, und die Dampforgel eines kleinen Ringelspiels erfüllte die Luft mit durchdringendem Ölgeruch und ebenso durchdringender Musik. Mitglieder des Vereins, die morgens zur Kirche gegangen waren, trugen stolz ihre rot-grünen Abzeichen zur Schau, und die Lustigsten unter ihnen hatten sogar ihre Hüte mit schmalen, hellfarbigen Bändern geziert. Den alten Fletcher, der über Feiertage ganz besondere Ansichten hatte, konnte man durch das jasminumrankte Fenster oder durch die offene Tür hindurch (beides war gleich gut möglich) erblicken, wie er auf einem Brett stand, welches er über zwei Stühle gelegt hatte, und die Decke seines nach der Straße gelegenen Zimmers übertünchte.
Gegen 4 Uhr betrat ein Fremder, der von der Düne herkam, das Dorf. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einem auffallend schäbigen Zylinder und er schien sehr außer Atem zu sein. Seine Wangen hingen abwechselnd bald schlaff herunter, bald wurden sie links aufgeblasen. Sein fleckiges Gesicht trug einen Ausdruck von Angst. Er bewegte sich mit einer Art gezwungener Lebhaftigkeit. Bei der Kirche änderte er die Richtung und ging auf den »Fuhrmann« zu. Unter anderen erinnert sich auch der alte Fletcher, ihn gesehen zu haben; und tatsächlich war der alte Herr bei dem Anblick des eigentümlich erregten Fremden so betroffen, dass er einen Teil der Tünche unachtsam aus dem Pinsel in seinen Rockärmel fließen ließ.
Nach Angabe eines der Schaubudenbesitzer schien der Fremde mit sich selbst zu sprechen; auch Mr. Huxter machte dieselbe Beobachtung. Er blieb am Fuße der Stufen, die zum »Fuhrmann« führen, stehen, und schien, wie Mr. Huxter behauptet, vor dem Betreten des Gasthofes einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. Endlich stieg er die Stufen hinauf, wendete sich nach links und öffnete die Tür zum Gastzimmer. Mr. Huxter hörte Stimmen aus diesem Raum und aus der Schankstube, die den Mann über seinen Irrtum belehrten.
»Das ist ein Privatzimmer!«, sagte Hall, worauf der Fremde verdrossen die Tür schloss und in die Schankstube ging.
Nach Verlauf von wenigen Minuten erschien er wieder, sich mit dem Handrücken über den Mund fahrend und mit einer Miene ruhiger Zufriedenheit, die Mr. Huxter, er wusste nicht warum, unnatürlich vorkam. Er blickte sich rasch nach allen Seiten um, und dann sah ihn Mr. Huxter in sonderbar geheimnisvoller Weise nach dem Tor des Hofes schleichen, auf den das Fenster des Gastzimmers hinausging. Nach kurzem Zögern lehnte sich der Fremde an einen Torpfosten, zog eine kurze Tonpfeife heraus und begann sie zu stopfen. Die Finger zitterten ihm dabei. Er zündete die Pfeife ungeschickt an und begann träge mit verschränkten Armen zu rauchen – eine Haltung, die seine gelegentlichen, schnellen Blicke auf den Hof allerdings Lügen straften.
All dies sah Mr. Huxter durch das Auslagefenster; das sonderbare Benehmen des Mannes veranlasste ihn auch, seine Beobachtungen fortzusetzen.
Plötzlich richtete sich der Fremde auf und steckte die Pfeife in die Tasche. Dann verschwand er im Hofe. Auf das hin sprang Mr. Huxter, dem es mit einem Male klar wurde, dass er Zeuge eines Diebstahls sei, über den Ladentisch und rannte auf die Straße, um dem Dieb den Weg abzuschneiden. Kaum war er dort angelangt, als sich Mr. Marvel wieder zeigte, den Hut auf der Seite, ein großes Bündel in einem blauen Tischtuche in der einen und drei, wie sich später herausstellte, mit den Hosenträgern des Pfarrers zusammengebundene Bücher in der anderen Hand. Sobald er Mr. Huxter sah, stieß er einen Schrei aus, wendete sich nach links und begann zu laufen. »Haltet den Dieb!«, schrie Mr. Huxter und eilte ihm nach.
Mr. Huxters Beobachtungen waren deutlich, aber von kurzer Dauer. Er sah den Mann gerade vor sich um die Ecke bei der Kirche biegen und gegen die Straße nach der Düne zu rennen. Er sah die Fahnen und Lustbarkeiten des Dorfes, und nur ein oder zwei Leute wendeten sich nach ihm um. Nochmals brüllte er: »Haltet den Dieb!«, und setzte kühn die Verfolgung fort. Kaum war er aber zehn Schritt weitergekommen, als sein Schienbein an irgend etwas Geheimnisvolles anstieß und er nicht länger lief, sondern mit unglaublicher Schnelligkeit durch die Luft flog. Er sah noch, wie sich sein Kopf unheimlich rasch der Erde näherte. Dann schien die Welt in eine Million wirbelnder Lichtflecke zu zerstieben, und »die folgenden Ereignisse interessierten ihn nicht mehr«.