H. G. Wells – Gesammelte Werke

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3. Kapitel – Tausendundeine Flasche

So ge­sch­ah es, dass am 29. Fe­bru­ar, bei be­gin­nen­dem Tau­wet­ter, die­ser merk­wür­di­ge Mensch wie aus den Wol­ken nach Iping her­ab­fiel. Am nächs­ten Tage traf sein Ge­päck ein – und auch die­ses war ei­gen­tüm­lich ge­nug. Es wa­ren al­ler­dings zwei Kof­fer da, wie je­der ver­nünf­ti­ge Mensch sie ha­ben konn­te, aber au­ßer­dem noch eine Bü­cher­kis­te – große, di­cke Bü­cher, man­che in un­ver­ständ­li­cher Schrift – und über ein Dut­zend Kör­be, Kis­ten und Kas­ten, wel­che in Stroh ver­pack­te Ge­gen­stän­de ent­hiel­ten, welch letz­te­re Hall, der in ge­recht­fer­tig­ter Neu­gier­de das Stroh un­ter­such­te, für Glas­fla­schen hielt. Der Frem­de, mit Hut, Stock, Hand­schu­hen und Hals­tuch ver­se­hen, er­schi­en vol­ler Un­ge­duld, als Fea­ren­si­des, des Fuhr­manns, Kar­ren vor dem Hau­se hielt, wäh­rend Hall mit Fea­ren­si­de ein kur­z­es Ge­spräch an­knüpf­te, be­vor er beim Ab­la­den der Kis­ten be­hilf­lich war. Ohne des Fuhr­manns Hund, der freund­lich Halls Bei­ne be­schnüf­fel­te, zu be­ach­ten, trat der Frem­de vor die Tür.

»Be­eilt euch mit den Kis­ten!«, rief er. »Ich habe lan­ge ge­nug war­ten müs­sen!« Und er kam die Stu­fen her­ab auf den Kar­ren zu, als ob er selbst mit Hand an­le­gen woll­te.

Kaum hat­te ihn Fea­ren­si­des Hund je­doch er­blickt, als er un­ru­hig wur­de und zu knur­ren be­gann; als der Frem­de un­ten an­ge­langt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann ge­ra­de auf sei­ne Hand los. »Wupp!«, schrie Hall zu­rück­wei­chend, denn er war Hun­den ge­gen­über ge­ra­de kein Held, und Fea­ren­si­de brüll­te: »Nie­der!«, und lang­te rasch nach sei­ner Peit­sche.

Sie sa­hen, wie die Zäh­ne des Hun­des die Hand fah­ren lie­ßen, hör­ten einen Schlag, sa­hen den Hund zur Sei­te sprin­gen, sich in das Bein des Frem­den ver­bei­ßen und hör­ten deut­lich den Riss, der durch des­sen Bein­klei­der ging. Dann fiel Fea­ren­si­des Peit­sche auf den Hund nie­der, der sich un­ter wü­ten­dem Bel­len un­ter die Rä­der des Kar­rens ver­kroch. All dies ge­sch­ah in dem kur­z­en Zeit­raum ei­ner hal­b­en Mi­nu­te. Nie­mand sprach, alle schri­en. Der Frem­de warf einen schnel­len Blick auf sei­ne zer­ris­se­nen Hand­schu­he und auf sein Bein, schi­en sich zu dem letz­te­ren nie­der­beu­gen zu wol­len, wen­de­te sich dann aber um und eil­te über die Stu­fen in den Gast­hof zu­rück. Man hör­te ihn den Gang durch­ei­len und die Holz­trep­pen zu sei­nem Schlaf­zim­mer em­por­stei­gen.

»Du Vieh, du!«, schrie Fea­ren­si­de, mit der Peit­sche in der Hand vom Wa­gen stei­gend, wäh­rend der Hund durch die Rä­der hin­durch jede sei­ner Be­we­gun­gen be­ob­ach­te­te.

»Komm her! Wirst du wohl!«, füg­te er hin­zu.

Hall war atem­los da­ge­stan­den. »Er ist ge­bis­sen wor­den«, sag­te er end­lich, »ich will nach ihm se­hen.« Und er folg­te dem Frem­den. Im Haus­flur traf er sei­ne Frau. »Des Fuhr­manns Hund hat ihn ge­bis­sen«, teil­te er ihr beim Vor­über­ge­hen mit.

Er ging, ohne zu zau­dern, die Stie­gen hin­auf, öff­ne­te die an­ge­lehn­te Tür zu des Frem­den Schlaf­zim­mer und trat ohne Um­stän­de, nur von sei­nem Mit­ge­fühl ge­lei­tet, ein.

Die Vor­hän­ge wa­ren zu­ge­zo­gen und das Zim­mer dun­kel. Se­kun­den­lang hat­te er eine merk­wür­di­ge Er­schei­nung: er glaub­te zu se­hen, dass ihm ein Arm ohne Hand zu­win­ke und er­blick­te ein Ge­sicht mit drei rie­si­gen Fle­cken von un­be­stimm­ter Far­be auf weißem Grun­de, ei­nem hell­far­bi­gen Stief­müt­ter­chen nicht un­ähn­lich. Dann er­hielt er einen hef­ti­gen Schlag vor die Brust und wur­de zu­rück­ge­sto­ßen, wor­auf die Tür hin­ter ihm zu­ge­schla­gen und ver­rie­gelt wur­de. All das ge­sch­ah so schnell, dass es ihm an Zeit fehl­te, wei­te­re Beo­b­ach­tun­gen an­zu­stel­len: ein In­ein­an­der­flie­ßen von rät­sel­haf­ten Schat­ten, ein Schlag und ein Zu­sam­men­stoß. Da stand er auf dem dunklen klei­nen Flur und dach­te nach, was er da wohl ge­se­hen ha­ben könn­te.

Schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten schloss er sich wie­der der klei­nen Grup­pe an, die sich vor dem »Fuhr­mann« an­ge­sam­melt hat­te. Dort stand Fea­ren­si­de, der die gan­ze Ge­schich­te schon zum zwei­ten Male er­zähl­te; Mrs. Hall, die fort­wäh­rend er­klär­te, sein Hund habe kein Recht ihre Gäs­te zu bei­ßen; Hux­ter, der Krä­mer von jen­seits der Stra­ße, wel­cher un­ver­dros­sen Fra­gen stell­te, und San­dy Wad­gers, der Schmied, der für al­les Ant­wor­ten be­reit hat­te. Au­ßer­dem Frau­en und Kin­der, die alle gleich­zei­tig spra­chen: »Mir soll­te er nur kom­men!« – »Sol­che Hun­de soll­te man nicht hal­ten dür­fen!« – »Wa­rum hat er ihn denn ei­gent­lich ge­bis­sen?«, und so fort.

Mr. Hall, der auf den Stu­fen stand und zu­hör­te, hielt es be­reits für un­mög­lich, dass er die merk­wür­di­gen Din­ge im obe­ren Stock­wer­ke wirk­lich er­lebt habe. Üb­ri­gens war auch sein Wort­schatz zu klein, um sei­nen Emp­fin­dun­gen Aus­druck zu ver­lei­hen.

»Er braucht kei­ne Hil­fe«, er­wi­der­te er auf die Fra­ge sei­ner Frau. »Wir schaf­fen am bes­ten gleich das Ge­päck hin­ein.«

»Man soll­te die Wun­de gleich aus­bren­nen«, sag­te Mr. Hux­ter, »be­son­ders wenn sie ent­zün­det ist.«

»Ich wür­de den Hund ein­fach nie­der­schie­ßen, er ver­dient es«, mein­te eine Frau in der Grup­pe.

Plötz­lich be­gann der Hund von neu­em zu knur­ren.

»Nun! wird’s?«, rief eine är­ger­li­che Stim­me im Haus­flur und dort stand der ver­mumm­te Frem­de, wie im­mer den Rock­kra­gen in die Höhe ge­schla­gen und den Rand sei­nes Hu­tes nach ab­wärts ge­bo­gen. »Je frü­her Sie mei­ne Sa­chen hin­ein­tra­gen, de­sto lie­ber ist es mir.« Von ei­nem un­be­kann­ten Zuschau­er wur­de bei die­ser Ge­le­gen­heit kon­sta­tiert, dass der Frem­de Bein­klei­der und Hand­schu­he ge­wech­selt hat­te.

»Sind Sie ge­bis­sen wor­den, Herr?«, frag­te Fea­ren­si­de. »Es tut mir wirk­lich leid, dass der Hund – –«

»Durchaus nicht«, ver­setz­te der Frem­de. »Be­ei­len Sie sich mit dem Ab­la­den.«

Dann fluch­te er vor sich hin, wie Mr. Hall be­haup­tet. Kaum war der ers­te Korb nach sei­nen An­ga­ben in das Gast­zim­mer ge­schafft, als er sich mit au­ßer­or­dent­li­chem Ei­fer dar­auf­stürz­te und aus­zu­pa­cken an­fing. Ohne die ge­rings­te Rück­sicht auf Mrs. Halls Tep­pich zu neh­men, warf er das Stroh her­aus und be­gann Fla­schen ans Ta­ges­licht zu för­dern. Klei­ne­re, di­cke Fla­schen mit Pul­vern, klei­ne, schlan­ke Fla­schen mit ge­färb­ten und farb­lo­sen Flüs­sig­kei­ten, lang­hal­si­ge, blaue Fla­schen mit der Auf­schrift: »Gift«, dick­bau­chi­ge grü­ne Glas­fla­schen, brei­te wei­ße Fla­schen, Fla­schen mit Glas­pfrop­fen und ge­ätz­ter Eti­ket­te, fein ver­kork­te Fla­schen, Fla­schen mit Holz­de­ckeln, Wein- und Öl­fla­schen, die er auf dem Wä­sche­schrank, dem Ka­min­sims, auf dem Tisch vor dem Fens­ter, auf dem Fuß­bo­den, dem Bü­cher­brett, kurz über­all, rei­hen­wei­se auf­stell­te. Der Apo­the­ker­la­den in Bramb­le­hurst konn­te sich nicht halb so vie­ler Fla­schen rüh­men. Es war ge­ra­de­zu eine Se­hens­wür­dig­keit. Korb auf Korb gab sei­nen In­halt her­aus, bis alle sechs leer wa­ren und das Stroh hoch auf dem Ti­sche auf­ge­häuft lag. Das ein­zi­ge, was au­ßer den Fla­schen aus den Kör­ben her­vor­kam, war eine An­zahl Pro­bier­glä­ser und eine sorg­fäl­tig ver­pack­te Wage.

Und so­wie die Kör­be leer wa­ren, ging der Frem­de ans Fens­ter, be­gann zu ar­bei­ten, ohne sich im ge­rings­ten um die Stroh­hau­fen, das er­lo­sche­ne Feu­er, die Bü­cher­kis­te drau­ßen oder um die Kof­fer und das an­de­re Ge­päck zu küm­mern, das in­zwi­schen in sein Schlaf­zim­mer hin­auf­ge­schafft wor­den war.

Als Mrs. Hall ihm das Mit­ta­ges­sen brach­te, war er schon so eif­rig da­mit be­schäf­tigt, klei­ne Men­gen der Flüs­sig­keit aus den Fla­schen in die Pro­bier­glä­ser zu schüt­ten, dass er ihre Ge­gen­wart nicht eher wahr­nahm, als bis sie den größ­ten Teil des Strohs weg­ge­schafft und das Ser­vier­brett auf den Tisch ge­stellt hat­te, was sie, an­ge­sichts des Zu­stan­des, in dem sich der Fuß­bo­den be­fand, et­was ge­räusch­voll ge­tan ha­ben moch­te. Nun wand­te er halb­wegs den Kopf, um sich so­fort wie­der ab­zu­wen­den. Aber sie be­merk­te, dass er die Bril­le ab­ge­nom­men hat­te, die ne­ben ihm auf dem Ti­sche lag, und es schi­en ihr, als ob er au­ßer­or­dent­lich tie­fe Au­gen­höh­len hät­te. Er setz­te das Au­gen­glas wie­der auf, wand­te sich dann ganz um und blick­te ihr ins Ge­sicht. Sie war eben im Be­griff, sich über das Stroh auf den Die­len zu be­kla­gen, als er ihr zu­vor­kam.

»Ich wünsch­te, Sie kämen nicht her­ein, ohne an­zu­klop­fen«, sprach er in je­nem Tone großer Ge­reizt­heit, der so cha­rak­te­ris­tisch für ihn war.

»Ich klopf­te an, wahr­schein­lich ha­ben Sie – –«

»Das mag sein; bei mei­nen Un­ter­su­chun­gen – mei­nen wirk­lich sehr drin­gen­den und wich­ti­gen Un­ter­su­chun­gen – kann je­doch die lei­ses­te Stö­rung, das Knar­ren ei­ner Tür – Ich muss Sie bit­ten – – –«

»Na­tür­lich, mein Herr. In die­sem Fal­le kön­nen Sie ja den Schlüs­sel um­dre­hen, so oft es ih­nen be­liebt.«

»Ein aus­ge­zeich­ne­ter Ge­dan­ke«, mein­te der Frem­de.

»Aber das Stroh, Herr! Wenn ich mir die Frei­heit neh­men dürf­te, zu be­mer­ken –«

»Lie­ber nicht. Wenn das Stroh Sie stört, set­zen Sie’s auf die Rech­nung.« Und er brumm­te et­was vor sich hin, was ei­nem Flu­che ver­zwei­felt ähn­lich klang.

Er sah so selt­sam aus, als er so kampf­be­reit und zor­nig, eine Fla­sche in der einen, das Pro­bier­glas in der an­de­ren Hand, da­stand, dass Mrs. Hall es mit der Angst krieg­te. Aber sie war eine ent­schlos­se­ne Frau. »In die­sem Fal­le, mein Herr, wür­de ich ger­ne wis­sen, wie hoch –«

»Ein Schil­ling – rech­nen Sie mir einen Schil­ling an. Das wird doch ge­nü­gen?«

 

»Gut«, ent­geg­ne­te Mrs. Hall, in­dem sie das Tisch­tuch er­griff und über den Tisch brei­te­te. »Wenn Sie da­mit ein­ver­stan­den sind, na­tür­lich –«

Er wen­de­te sich ab und nahm, ihr den Rücken keh­rend, den Rock­kra­gen auf­wärts ge­stellt, sei­nen frü­he­ren Platz ein.

Den gan­zen Nach­mit­tag ar­bei­te­te er bei ver­schlos­se­ner Tür und, wie Mrs. Hall be­zeugt, meist still­schwei­gend. Nur ein­mal ver­nahm man eine hef­ti­ge Er­schüt­te­rung, das Klir­ren an­ein­an­der­sto­ßen­der Fla­schen, als ob je­mand auf den Tisch ge­schla­gen hät­te, das Zer­split­tern ei­nes hef­tig zu Bo­den ge­schmet­ter­ten Gla­ses und dann einen schnel­len Schritt, der das Zim­mer durch­maß. Et­was Au­ßer­or­dent­li­ches be­fürch­tend, ging sie zu sei­ner Tür und horch­te. Zu klop­fen nahm sie sich nicht erst die Mühe.

»Ich kom­me nicht wei­ter«, ras­te er. »Ich kom­me nicht wei­ter! Drei­mal­hun­dert­tau­send, vier­mal­hun­dert­tau­send! Sol­che Zah­len! Ich bin be­tro­gen! Mein gan­zes Le­ben kann ich da­mit ver­brin­gen! – Ge­duld! nur Ge­duld! – Oh, ich Narr!«

Das Klap­pern von nä­gel­be­schla­ge­nen Schu­hen auf den Zie­geln der Schank­stu­be, das jetzt laut wur­de, brach­te Mrs. Hall sehr zu ih­rem Ver­druss um die Fort­set­zung sei­nes Selbst­ge­sprächs. Als sie zu­rück­kehr­te, war es wie­der still im Zim­mer, mit Aus­nah­me des lei­sen Kra­chens des Stuh­les und des ge­le­gent­li­chen Klir­rens ei­ner Fla­sche. Al­les war vor­über; der Frem­de hat­te sei­ne Ar­beit wie­der auf­ge­nom­men.

Als sie ihm den Tee brach­te, sah sie un­ter­halb des Spie­gels in der Zim­me­r­e­cke Glas­scher­ben und einen nach­läs­sig weg­ge­wisch­ten, gold­gel­ben Fleck. Sie mach­te ihn dar­auf auf­merk­sam.

»Schrei­ben Sie’s auf die Rech­nung«, knurr­te er sie an. »Um Got­tes wil­len, quä­len Sie mich nicht! Wenn ich Scha­den an­rich­te, schrei­ben Sie’s auf die Rech­nung«, und er fuhr mit den Ein­tra­gun­gen in sein No­tiz­buch fort. – – –

»Ich will dir et­was sa­gen«, be­gann Fea­ren­si­de ge­heim­nis­voll. Es war spät am Nach­mit­tag und die bei­den sa­ßen in der klei­nen Bier­stu­be von Iping bei­sam­men.

»Nun?«, frag­te Ted­dy Hen­frey.

»Der Mensch, von dem du sprichst, den mein Hund ge­bis­sen hat – ich sage dir – er ist schwarz! Sei­ne Bei­ne we­nigs­tens. Ich sah durch den Riss in sei­nen Ho­sen und in sei­nen Hand­schu­hen. Du hät­test doch auch et­was Ro­tes zu se­hen er­war­tet, nicht wahr? Fehl­ge­ra­ten! Al­les war schwarz. Schwarz wie mein Hut da.«

»Mei­ner Treu«, mein­te Hen­frey, »das ist eine selt­sa­me Ge­schich­te. Aber sei­ne Nase ist doch schar­lach­rot!«

»Das ist rich­tig«, er­wi­der­te Fea­ren­si­de, »ich weiß es und will dir sa­gen, wie ich es mir er­klä­re. Der Mensch ist ein Sche­cke, Ted­dy, schwarz und weiß ge­fleckt. Und er schämt sich, es zu zei­gen. Er ist eine Art Misch­blut; an­statt sich zu ver­mi­schen, sind die Far­ben in Fle­cken her­aus­ge­kom­men. Ich habe schon von der­ar­ti­gen Fäl­len ge­hört. Und bei Pfer­den ist es das Ge­wöhn­li­che, wie je­der­mann weiß.«

4. Kapitel – Mr. Cuss interviewt den Fremden

Ich habe die Um­stän­de, wel­che die An­kunft des Frem­den in Iping be­glei­te­ten, mit be­son­de­rer Aus­führ­lich­keit er­zählt, da­mit der Le­ser den merk­wür­di­gen Ein­druck, den er her­vor­rief, ver­ste­hen soll. Aber bis auf zwei ei­gen­tüm­li­che Zwi­schen­fäl­le kann ich über die Um­stän­de sei­nes Auf­ent­hal­tes im »Fuhr­mann« bis zu dem denk­wür­di­gen Tag des Ver­eins­fes­tes rasch hin­weg­ge­hen. Es gab der Haus­ord­nung we­gen zahl­rei­che Schar­müt­zel mit Mrs. Hall, aber bis spät in den April hin­ein, da sich die ers­ten An­zei­chen von Geld­man­gel zu zei­gen be­gan­nen, war sie durch ir­gend­ei­ne klei­ne Ex­tra­be­zah­lung leicht zu be­schwich­ti­gen. Hall lieb­te ihn nicht, und so oft er konn­te, sprach er da­von, dass es rat­sam wäre, sich sei­ner zu ent­le­di­gen. Aber er zeig­te die­se Ab­nei­gung haupt­säch­lich da­durch, dass er sie sorg­fäl­tig ver­barg und sei­nen Gast so­viel als mög­lich mied.

»War­te bis zum Som­mer, bis die Ma­ler kom­men«, mein­te Mrs. Hall ver­stän­dig. »Dann wer­den wir wei­ter­se­hen. Er mag ein we­nig an­spruchs­voll sein, aber pünkt­lich be­zahl­te Rech­nun­gen sind pünkt­lich be­zahl­te Rech­nun­gen, da­ge­gen lässt sich nichts sa­gen.«

Der Frem­de ging nie in die Kir­che und mach­te kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Sonn- und Wo­chen­ta­gen. Auch nicht in sei­ner Klei­dung. Mrs. Hall fand, er ar­bei­te sehr un­re­gel­mä­ßig. Zu­wei­len kam er früh her­un­ter und ar­bei­te­te eif­rig. Dann kam es wie­der vor, dass er spät auf­stand, stun­den­lang auf­ge­regt im Zim­mer auf und ab ging, rauch­te oder im Lehn­stuhl am Feu­er schlief. Er hat­te kei­ner­lei Ver­bin­dung mit der Welt au­ßer­halb des Dor­fes. Sei­ne Ge­müts­s­tim­mung war sehr ver­än­der­lich; meist aber be­nahm er sich wie ein Mensch, der fast Uner­träg­li­ches zu er­dul­den hat, und hie und da hat­te er plötz­li­che An­fäl­le von Wild­heit, in wel­chen er et­was zer­riss, zer­brach oder zer­trat. Von Tag zu Tag ver­stärk­te sich sei­ne Ge­wohn­heit, lei­se mit sich selbst zu spre­chen; aber ob­gleich Mrs. Hall sich Mühe gab, et­was zu er­hor­chen, konn­te sie in sei­ne ab­ge­ris­se­nen Wor­te kei­nen Sinn brin­gen.

Tags­über ging er sel­ten aus, aber im Halb­dun­kel pfleg­te er bei je­dem Wet­ter, bis zur Un­sicht­bar­keit ver­mummt, spa­zie­ren­zu­ge­hen, und selbst dann wähl­te er die ein­sams­ten und dun­kels­ten Wege. Die rie­si­ge Schutz­bril­le, das geis­ter­haft ver­hüll­te Ge­sicht un­ter dem breit­ran­di­gen Hut, trat er oft spät heim­keh­ren­den Ar­bei­tern un­heim­lich plötz­lich ent­ge­gen. Und Ted­dy Hen­frey, der ei­nes Abends um halb zehn Uhr aus dem Gast­hau­se »Zum ro­ten Frack« her­aus­tau­mel­te, wur­de durch des Frem­den un­ge­heu­er­li­chen Kopf, den ein Licht­strahl aus der ge­öff­ne­ten Wirts­stu­ben­tür plötz­lich be­leuch­te­te, töd­lich er­schreckt. Kin­der, die ihn bei An­bruch der Nacht sa­hen, träum­ten von Ge­s­pens­tern, und es war eine of­fe­ne Fra­ge, ob er die Kin­der mehr hass­te oder sie ihn. Auf je­den Fall aber be­stand eine leb­haf­te Ab­nei­gung auf bei­den Sei­ten.

Es war un­ver­meid­lich, dass ein Mensch von so un­ge­wöhn­li­chem Äu­ßern und sol­chem Be­neh­men in ei­nem Dor­fe wie Iping den häu­fi­gen Ge­sprächss­toff bil­de­te. Über sei­ne Be­schäf­ti­gung wa­ren die Mei­nun­gen sehr ge­teilt. Mrs. Hall war in die­sem Punk­te sehr emp­find­lich. Wur­de sie ge­fragt, so er­klär­te sie wohl­ge­fäl­lig, dass er ein »Ex­pe­ri­men­tal­for­scher« sei, und sprach jede Sil­be so sorg­fäl­tig aus, als ob sie fürch­te­te, dar­über zu stol­pern. Frag­te man sie, was ein Ex­pe­ri­men­tal­for­scher ei­gent­lich sei, pfleg­te sie mit ei­ner ge­wis­sen Über­le­gen­heit zu er­wi­dern, dass ge­bil­de­te Leu­te sol­che Sa­chen ge­wöhn­lich wüss­ten, und füg­te als Er­klä­rung bei, dass er »Ent­de­ckun­gen ma­che«. Ihr Gast habe einen Un­fall er­lit­ten, sag­te sie, durch wel­chen sein Ge­sicht und sei­ne Hän­de ent­stellt wor­den wä­ren, und da er zur Emp­find­lich­keit nei­ge, wei­che er na­tür­lich al­len Men­schen aus. Eine weit ver­brei­te­te An­sicht, von der aber Mrs. Hall nichts zu hö­ren be­kam, ging da­hin, der Frem­de sei ein Ver­bre­cher, der sich vor den Au­gen der Po­li­zei ver­ber­ge, um sich der Ge­rech­tig­keit zu ent­zie­hen. Die­ser Ge­dan­ke war dem Ge­hir­ne Mr. Ted­dy Hen­freys ent­sprun­gen und hat­te lei­der die Tat­sa­che ge­gen sich, dass seit Mit­te oder Ende Fe­bru­ar kein Ver­bre­chen von ir­gend­wel­cher Be­deu­tung be­gan­gen wor­den war. In der Fan­ta­sie Mr. Goulds, des Pro­be­leh­rers an der Volks­schu­le, nahm der Ver­dacht eine an­de­re Form an: er hielt den Frem­den für einen ver­klei­de­ten An­ar­chis­ten, der Spreng­stof­fe vor­be­rei­te, und er be­schloss, dem ganz in der Wei­se ei­nes De­tek­tivs nach­zu­spü­ren, so gut es sei­ne Zeit er­laub­te. Sei­ne dies­be­züg­li­che Tä­tig­keit be­stand haupt­säch­lich dar­in, den Frem­den, wo im­mer er ihn traf, scharf an­zu­se­hen oder Leu­te, wel­che den Frem­den nie ge­se­hen hat­ten, zu Mit­tei­lun­gen über den­sel­ben zu ver­an­las­sen. Aber er ent­deck­te nichts.

Die An­hän­ger wie­der ei­ner an­de­ren Schu­le, de­ren Haupt Fea­ren­si­de war, hul­dig­ten ent­we­der der Scheck­en­theo­rie oder ei­ner Abart der­sel­ben. So zum Bei­spiel mein­te Si­las Dur­gan, der Frem­de könn­te sein Glück ma­chen, wenn er sich ent­sch­lös­se, »sich auf Jahr­märk­ten« zu zei­gen, und als Bi­bel­ken­ner ver­glich er den Frem­den mit dem Mann mit dem einen Pfund. Wie­der an­de­re stell­ten ihn als einen harm­lo­sen Irr­sin­ni­gen hin, eine An­nah­me, die den un­leug­ba­ren Vor­zug hat­te, alle Son­der­bar­kei­ten des Frem­den er­klä­ren zu kön­nen. Zwi­schen die­sen Haupt­grup­pen stan­den Leu­te, die sich noch kei­ne fes­te Mei­nung ge­bil­det hat­ten und sol­che, die je­dem recht ga­ben. Das Volk in Sus­sex ist nicht aber­gläu­bisch, und erst nach den Er­eig­nis­sen der ers­ten April­ta­ge tauch­te im Dor­fe der Ge­dan­ke an et­was Über­na­tür­li­ches auf; selbst dann aber glaub­ten nur Frau­en dar­an.

Aber wo­für sie ihn auch hal­ten moch­ten, in der Ab­nei­gung ge­gen den Frem­den wa­ren die Be­woh­ner von Iping so ziem­lich ei­nig. Sei­ne Reiz­bar­keit, die für einen Städ­ter, der sich geis­tig be­schäf­tigt, nichts Merk­wür­di­ges ge­habt hät­te, war für die ru­hi­gen Land­leu­te eine er­staun­li­che Sa­che. Die wil­den Ge­bär­den, bei de­nen sie ihn hie und da über­rasch­ten, die Hast, mit der er nach Ein­bruch der Dun­kel­heit auf ab­ge­le­ge­nen We­gen mehr lief als ging, die un­na­tür­li­che Zu­rück­wei­sung al­ler ih­rer neu­gie­ri­gen An­nä­he­rungs­ver­su­che, sei­ne Vor­lie­be für das Däm­mer­licht, die ihn die Tü­ren schlie­ßen, die Vor­hän­ge her­un­ter­las­sen, Lich­ter und Lam­pen aus­lö­schen ließ – wer konn­te sich mit sol­chen Din­gen be­freun­den? Man wich ihm aus, wenn er durchs Dorf ging, und so­bald er vor­bei war, pfleg­ten hu­mo­ris­tisch ver­an­lag­te Jüng­lin­ge mit auf­ge­schla­ge­nem Rock­kra­gen und ab­wärts ge­bo­ge­ner Hut­krem­pe den ner­vö­sen Schritt und das ge­heim­nis­vol­le Ge­ba­ren des Gas­tes nach­zuah­men. Es war ge­ra­de da­mals das »Lied von der Vo­gel­scheu­che« sehr po­pu­lär. Miss Sat­chell hat­te es im Schul­ver­eins­kon­zert – zu­guns­ten der An­schaf­fung neu­er Kir­chen­leuch­ter – ge­sun­gen. Und so oft nach­her meh­re­re Ipin­ger bei­sam­men stan­den und der Frem­de zu­fäl­lig vor­über­ging, pfiff ei­ner oder der an­de­re, bald laut, bald lei­se, ei­ni­ge Tak­te des Lie­des vor sich hin. Selbst klei­ne Kin­der, die zu­fäl­lig des Abends noch auf der Stra­ße wa­ren, rie­fen ihm »Vo­gel­scheu­che!«, nach und lie­fen dann, stolz über ih­ren Mut, da­von.

Cuss, der Wund­arzt, wur­de von Neu­gier­de ver­zehrt; die Ver­bän­de er­reg­ten sein wis­sen­schaft­li­ches In­ter­es­se, das Gerücht von der un­ge­heu­ren Men­ge von Fla­schen sei­ne Ei­fer­sucht. Den gan­zen April und Mai such­te er krampf­haft nach ei­ner Ge­le­gen­heit, mit dem Frem­den in Berüh­rung zu kom­men. End­lich, ge­gen Pfings­ten, hielt er es nicht län­ger aus und nahm die Sam­mel­lis­te für einen Pfle­ge­rin­nen­fonds zum Vor­wand, um den ge­heim­nis­vol­len Gast im »Fuhr­mann« auf­zu­su­chen. Er war er­staunt zu hö­ren, dass Mr. Hall den Na­men sei­nes Mie­ters nicht kann­te.

»Er nann­te sei­nen Na­men«, er­klär­te Mrs. Hall – eine gänz­lich un­ge­recht­fer­tig­te Be­haup­tung – »aber ich ver­stand ihn nicht recht.« Sie dach­te, es sähe so dumm aus, den Na­men des Man­nes nicht zu wis­sen.

Cuss poch­te an die Tür und trat ein. Eine ziem­lich deut­li­che Ver­wün­schung drang aus dem Zim­mer her­aus.

»Ent­schul­di­gen Sie mein Ein­drin­gen«, be­gann Cuss, dann schloss er die Tür und Mrs. Hall muss­te wohl oder übel auf den Rest des Ge­sprä­ches ver­zich­ten.

Zehn Mi­nu­ten lang hör­te sie mur­meln­de Stim­men, dann folg­te ein Aus­ruf der Über­ra­schung, das Schar­ren von Fü­ßen, der dump­fe Fall ei­nes bei­sei­te ge­schleu­der­ten Stuh­les, ein hei­se­res La­chen – schnel­le Schrit­te nä­her­ten sich der Tür und Cuss er­schi­en mit krei­de­blei­chem Ge­sicht und starr nach rück­wärts ge­wen­de­tem Kopf. Er ließ die Tür hin­ter sich of­fen, ging, ohne sich um­zu­se­hen, durch den Gang und die Trep­pe hin­ab; dann hör­te Mrs. Hall, wie sich sei­ne Schrit­te ei­ligst auf der Stra­ße ent­fern­ten. Den Hut trug er in der Hand. Sie stand hin­ter dem Schank­tisch und blick­te auf die of­fe­ne Wohn­zim­mer­tür. Sie hör­te den Frem­den lei­se la­chen und durch das Zim­mer ge­hen, konn­te aber von ih­rem Plat­ze aus sein Ge­sicht nicht se­hen. Dann wur­de die Tür zu­ge­schla­gen und al­les war wie­der ru­hig.

 

Cuss ging ge­ra­des­wegs durch das Dorf zu Bun­ting, dem Pfar­rer.

»Bin ich ver­rückt?«, be­gann Cuss ohne jede Ein­lei­tung, als er in das ein­fa­che, klei­ne Stu­dier­zim­mer trat. »Sehe ich aus wie ein Irr­sin­ni­ger?«

»Was ist Ih­nen denn ge­sche­hen?«, frag­te der Pfar­rer, auf die lo­sen Blät­ter sei­ner dies­wö­chi­gen Pre­digt ein Zei­chen le­gend.

»Der Mensch im Wirts­hau­se –«

»Ja?«

»Ge­ben Sie mir et­was zu trin­ken«, bat Cuss und setz­te sich nie­der.

Als er sei­ne Ner­ven durch ein Glas bil­li­gen Sher­rys – das ein­zi­ge Ge­tränk, wel­ches der gute Pfar­rer be­saß – ge­stärkt hat­te, be­gann er ihm von der eben statt­ge­fun­de­nen Un­ter­re­dung zu er­zäh­len.

»Ich ging hin­ein«, keuch­te er, »und bat um einen Bei­trag für den Pfle­ge­rin­nen­fonds. Er hat­te die Hän­de in den Ta­schen, als ich ein­trat, und ließ sich breit auf sei­nen Ses­sel nie­der. Dann nies­te er. Ich er­zähl­te ihm, ich hät­te ge­hört, er in­ter­es­sie­re sich für wis­sen­schaft­li­che Fra­gen. Er be­jah­te es, nies­te wie­der und kam aus dem Nie­sen nicht her­aus. Hat­te sich au­gen­schein­lich vor kur­z­em einen höl­li­schen Schnup­fen ge­holt. Kein Wun­der bei der dich­ten Ver­mum­mung. Ich ent­wi­ckel­te ihm die Idee be­züg­lich der Pfle­ge­rin­nen und hielt die gan­ze Zeit die Au­gen of­fen. Fla­schen – Che­mi­ka­li­en über­all, Wage, Pro­bier­glä­ser auf Re­ga­len und ein pe­ne­tran­ter Ge­ruch im Zim­mer. Wür­de er einen Bei­trag ge­ben? Sag­te, er wür­de sich’s über­le­gen. Frag­te ihn ge­ra­de­zu, ob er ex­pe­ri­men­tie­re. Er be­jah­te. Eine lang­wie­ri­ge Un­ter­su­chung? Er wur­de ganz grob: ›Ei­ne ver­dammt lang­wie­ri­ge Un­ter­su­chung‹, sag­te er, und nun kam die gan­ze Sa­che her­aus. Der Mann war ge­ra­de am Sie­de­punkt und mei­ne Fra­ge ließ ihn über­schäu­men. Man hat­te ihm ein Re­zept ge­ge­ben – ein sehr wert­vol­les Re­zept – wo­für, woll­te er nicht sa­gen. Ein ärzt­li­ches? ›Zum Teu­fel! Was wol­len Sie denn aus mir her­aus­brin­gen?‹ Ich bat um Ent­schul­di­gung. Wie­der­hol­tes Nie­sen und Hus­ten. Er fuhr fort: Er hat­te eben das Re­zept le­sen wol­len. Es be­stand aus fünf In­gre­di­en­zi­en. Er hat­te es hin­ge­legt und den Kopf weg­ge­wen­det. Ein Wind­stoß vom Fens­ter ließ das Pa­pier auf­flat­tern. Er hör­te es ra­scheln. Er ar­bei­te­te da­mals in ei­nem Zim­mer mit of­fe­nem Feu­er, sag­te er. Er sah ein Auf­fla­ckern, das Re­zept brann­te und hob sich im Ka­min in die Höhe. Er stürz­te sich dar­auf, ge­ra­de als es in den Ka­min flog. So! In die­sem Au­gen­blick, wie um sei­ne Er­zäh­lung le­ben­di­ger zu ge­stal­ten, hob er den Arm in die Höhe.«

»Nun?«

»Ohne Hand. Nichts als ein lee­rer Är­mel. Gott! dach­te ich, wel­che Verun­stal­tung! Wahr­schein­lich hat er einen künst­li­chen Arm, den er ab­ge­nom­men hat. Dann dach­te ich: Da steckt doch et­was da­hin­ter. Was zum Teu­fel hält die­sen Är­mel of­fen und in die Höhe, wenn nichts dar­in ist? Es war nichts drin, sage ich Ih­nen, bis ganz tief hin­ein, bis zum Schul­ter­ge­lenk nichts. Ich konn­te bis zum Ell­bo­gen hin­ein­se­hen und ein Licht­schim­mer drang durch einen Riss im Stoff. ›Gro­ßer Gott!‹ rief ich aus. Da hielt er ein und starr­te mit sei­nen großen Schutz­glä­sern erst mich, dann sei­nen Är­mel an.«

»Nun?«

»Wei­ter nichts. Er sag­te kein Wort, blick­te nur wild um sich und steck­te den Är­mel schnell wie­der in die Ta­sche. ›Ich habe ge­sag­t‹, fuhr er fort, ›dass das Re­zept brann­te, nicht wahr?‹ Fra­gen­des Hus­ten. ›Wie zum Teu­fel kön­nen Sie einen lee­ren Är­mel so be­we­gen?‹ sag­te ich. ›Lee­ren Är­mel?‹ ›Ja‹, er­wi­der­te ich, ›ei­nen lee­ren Är­mel.‹

›Es ist also ein lee­rer Är­mel. Sie sa­hen den lee­ren Är­mel?‹ Er er­hob sich schnell und auch ich stand auf. Mit drei sehr lang­sa­men Schrit­ten kam er auf mich zu, bis er un­mit­tel­bar ne­ben mir stand. Nies­te ge­wal­tig. Ich wank­te nicht, ob­gleich ich mich hän­gen las­sen will, wenn die­ser ver­bun­de­ne Kopf und die Glotzau­gen nicht je­den gru­seln ma­chen, auf den sie so lang­sam zu­kom­men.

›Ein lee­rer Är­mel, sag­ten Sie‹, wie­der­hol­te er. ›Ge­wiss‹, ent­geg­ne­te ich. Es ist wirk­lich schwer, sei­nen Mann zu stel­len, wenn man still­schwei­gend an­ge­st­arrt wird von ei­nem Men­schen mit ver­hüll­tem Ge­sicht und fun­keln­den Au­genglä­sern. Er zog den Är­mel sehr lang­sam aus der Ta­sche her­aus und er­hob ihn dann ge­gen mich, als ob er ihn mir noch­mals zei­gen woll­te. Das tat er sehr, sehr lang­sam. Ich blick­te ihn an – eine Ewig­keit schi­en es mir. ›Nun?‹ sag­te ich mit un­si­che­rer Stim­me; ›der Är­mel ist leer?‹

Ich muss­te et­was sa­gen, denn ich be­gann mich zu fürch­ten. Ich konn­te tief hin­ein­se­hen. Er streck­te ihn ge­ra­de ge­gen mich aus, lang­sam, ganz lang­sam – un­ge­fähr so – bis der Är­me­lauf­schlag nur noch sechs Zoll von mei­nem Ge­sicht ent­fernt war. Un­heim­li­ches Ge­fühl, einen lee­ren Är­mel so auf sich zu­kom­men zu se­hen! Und dann – –«

»Nun, dann?«

»Et­was – es fühl­te sich ge­nau so an, wie ein Fin­ger und ein Dau­men – pack­te mei­ne Nase.«

Bun­ting lach­te hell auf.

»Und es war doch nichts da«, fuhr Cuss fort, und sei­ne Stim­me klang im­mer schril­ler. »Sie ha­ben gut la­chen, aber ich sage Ih­nen, ich war so er­schro­cken, dass ich ihm einen Schlag auf den Är­mel gab, mich um­dreh­te und aus dem Zim­mer lief – – Ich ver­ließ ihn – –«

Cuss brach ab. Dass sei­ne Auf­re­gung echt war, war nicht zu be­zwei­feln. Hilf­los dreh­te er sich nach al­len Sei­ten und nahm ein zwei­tes Glas von dem sehr mit­tel­mä­ßi­gen Sher­ry des gu­ten Geist­li­chen. »Ich sage Ih­nen«, fuhr er fort, »als ich auf sei­nen Är­mel schlug, hat­te ich das Ge­fühl, einen Arm ge­trof­fen zu ha­ben.

Und doch war kein Arm da! Nicht der Schat­ten ei­nes Ar­mes!«

Mr. Bun­ting dach­te nach. Arg­wöh­nisch blick­te er Cuss an. »Es ist eine sehr son­der­ba­re Ge­schich­te«, be­merk­te er und sah sehr wei­se und ernst­haft da­bei aus. »Wirk­lich«, wie­der­hol­te er dann mit großem Nach­druck, »eine höchst son­der­ba­re Ge­schich­te.«