Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft

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2.2DIE ROLLE VON PIONIERGEMEINSCHAFTEN

Wie ich zu Beginn dieses Kapitels betont habe, ist es für eine Betrachtung des Zustandekommens der tiefgreifenden Mediatisierung unerlässlich, neben korporativen Akteuren eine zweite Art von überindividuellen Akteuren zu berücksichtigen, die vor allem bei der Einführung neuer Technologien eine Rolle spielen: die kollektiven Akteure der sogenannten ›Pioniergemeinschaften‹.33 Im Folgenden möchte ich mich weiter mit diesen auseinandersetzen. Dieser Fokus heißt nicht, dass ich andere kollektive Akteure wie beispielsweise soziale Bewegungen als weniger relevant für die tiefgreifende Mediatisierung ansehen würde, weswegen diese auch im weiteren Verlauf des Buches immer wieder Gegenstand der Betrachtung sind. Aber wenn es um das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung geht, sind Pioniergemeinschaften aufgrund ihrer Orientierung auf zukünftige, technologiebezogene Entwicklungen von besonderer Relevanz.

VON FRÜHEN PIONIER:INNEN ZU PIONIERGEMEINSCHAFTEN

Inwieweit Vordenker:innen und Pionier:innen eine besondere Rolle bei der Entstehung der tiefgreifenden Mediatisierung spielen, belegen historische Studien. Wie Fred Turner gezeigt hat, können wir die Entwicklung des Internets und der daraus entstandenen ›New Economy‹ nicht verstehen, ohne das Whole Earth Network als eine »außerordentlich einflussreiche Gruppe von Journalist:innen und Unternehmer:innen aus der San Francisco Bay Area« zu berücksichtigen (TURNER 2006a: 3). Dieses Netzwerk stellte sich eine Welt vor, die von Computern und Computernetzwerken geprägt ist, lange bevor dies für andere zur Normalität wurde. Der Name dieses Netzwerks bezieht sich auf den Whole Earth Catalog, eine buchartige Publikation, die zwischen 1968 und 1972 von Stewart Brand herausgegeben wurde. Ursprüngliches Ziel des Katalogs war es, den Aussteiger:innen34 der US-Gegenkultur in den 1960er- und 1970er-Jahren die ›Werkzeuge‹ an die Hand zu geben, die hilfreich für das Leben in einer ländlichen Gemeinschaft sein konnten. Im Laufe der Jahre wurde der Katalog zu einer immer umfangreicheren Publikation, die das Lebensgefühl der Gegenkultur breiteren Publika nahebrachte. Der Katalog präsentierte wissenschaftliche Forschung, Hippie-Produkte, militärische Überlebensausrüstung, Ökologie und Mainstream-Konsumkultur und schuf so etwas wie ein »Netzwerkforum« (TURNER 2006a: 5) des Austauschs und der Begegnung.

Mit dem schrittweisen Zusammenbruch der gegenkulturellen Kommunen in den frühen 1970er-Jahren wandte sich das Whole Earth Network dann der Computertechnologie als einer weiteren Möglichkeit zu, Vorstellungen von einer neuen Gemeinschaft zu verwirklichen. Es gibt beispielsweise Verbindungen zum Homebrew Computer Club, in dem Mitte der 1970er-Jahre Visionen des Personal Computers entwickelt wurden,35 zur Hacker-Bewegung36 und später zum MIT Media Lab als idealisierter Institution einer Veränderung der Gesellschaft durch Medientechnologien37. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde dann nach der Einstellung des Whole Earth Catalogs das WELL (Whole Earth ’Lectronic Link), ein Online-Netzwerk mit Sitz in der San Francisco Bay Area,38 zu einer der ältesten Online-Communitys – und damit ein wichtiges Medium des Netzwerks. Später kam das 1993 gestartete Wired-Magazin hinzu, in dem die Vorstellung eines deregulierten, sich selbst organisierenden Internets dominierte und das mit ungebremstem Enthusiasmus Visionen einer digitalen ›New Economy‹ voranbrachte.39 Schließlich wurden aus dem Umfeld des Netzwerks fortlaufend Konferenzen zu verschiedenen Themen von neuen und möglicherweise ›disruptiven‹ Technologien abgehalten. Teil dieser enthusiastischen Atmosphäre war auch eine enge Beziehung zu Politik und politischer Beratung.

An dieser Stelle müssen wir uns davor hüten, die Entwicklung der Technologie im Silicon Valley allein dem Erfolg der »kalifornischen Ideologie« (BARBROOK/CAMERON 1996) zuzuschreiben, in der amerikanische Gegenkultur und marktradikales Unternehmertum zusammenfanden. Wie ich bereits oben argumentiert habe, ist es wichtig, andere Akteure zu berücksichtigen, einschließlich des Staates und seiner (militärischen) Investitionen in Hochtechnologie. Gleichwohl müssen wir die sich schnell verbreitenden Ideen des Whole Earth Network als einen wichtigen Teil der Geschichte der digitalen Medien und ihrer Infrastrukturen im Blick haben. Die Einzigartigkeit dieses Netzwerks liegt einerseits in dem Glauben seiner Pionier:innen an die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch Technologie und andererseits in ihrer Position als Vermittler:innen zwischen verschiedenen Welten der Technologieentwicklung, der Politik, der Wirtschaft, der Gegenkultur und der alltäglichen Mediennutzung. Wie Manuel Castells (2001b) betont hat, kamen in einer besonderen historischen Situation Wissenschaft, Kommunitarismus, Hacker- und Unternehmertum in der Kultur derjenigen, die das Internet schufen, zusammen.40

Ein interessanter Aspekt dieser Dynamik ist, dass die neuen Gemeinschaften, über die Mitglieder des Whole Earth Network ›berichteten‹, nicht einfach ›da‹ waren und daher nicht Gegenstand einer ›investigativen‹ journalistischen Berichterstattung sein konnten. Immer wieder entstanden sie erst als Produkt der ›Berichterstattung‹ über sie, aber auch durch die Konferenzen, die ihre imaginären Mitglieder versammelten. Insofern handelt es sich beim Engagement des Whole Earth Network nicht einfach um Technologiejournalismus im klassischen Sinne des Wortes. Vielmehr ging es bereits hier um ein Kuratieren von technologieorientierten Gemeinschaften: um die ›Definition‹ der Relevanzrahmen dieser Gemeinschaften, um die ›Auswahl‹ potenzieller Mitglieder als Teil ihrer Akteurskonstellationen, um das ›Arrangieren‹ einzelner Statements und deren ›Präsentation‹ gegenüber verschiedenen Publika (sowie der entstehenden Pioniergemeinschaft selbst).

Welchen Einfluss diese Pioniergemeinschaften auf das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung hatten, wird an den expliziten Verweisen von Vertreter:innen führender Technologieunternehmen etwa auf den Whole Earth Catalog oder die Homebrew Computer Club-Treffen deutlich.41 Aber auch heute gibt es derartige Pioniergemeinschaften. Dazu gehören z.B. die Maker-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf die Herstellung neuer und das Basteln mit bestehenden (Medien-)Technologien orientiert sind), die Quantified-Self-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf die technologiebasierte Selbstvermessung und Selbstoptimierung orientiert sind) oder die Hacks/Hackers-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf öffentliche Kommunikation und innovativen Journalismus orientiert sind). Es lässt sich eine Entwicklungslinie zwischen diesen und anderen heutigen Pioniergemeinschaften zurück zum Whole Earth Network ausmachen.42

Pionier:innen sind in dieser Hinsicht weniger außergewöhnliche Erfinder:innen bestimmter Technologien, die in Innovationsdiskursen als ›disruptiv‹ verhandelt werden, sondern bewegen sich eher auf einer alltagsweltlichen Ebene des technologischen Wandels.43 Ebenso wichtig ist es, dass wir uns diesen Akteur:innen reflexiv und kritisch annähern und es vermeiden, ihre Transformationsvorstellungen und Ideologien einfach zu akzeptieren und zu übernehmen. Pionier:innen in dem hier umrissenen Sinne können Professionelle sein (z.B. Journalist:innen, die in einer bestimmten beruflichen Sparte arbeiten) oder Amateur:innen (Menschen, die z.B. als Maker in ihrer Freizeit basteln).44 Eine solche Unterscheidung von ›Professionellen‹ und ›Amateur:innen‹ ist insofern relativ, als ›amateurhafte Pionier:innen‹ in ihrer jeweiligen Domäne ein solches Wissen und solche Kompetenzen erwerben können, dass diese zum Bereich ihres beruflichen Engagements wird. Ein Beispiel hierfür wäre ein Maker, der sich so ›professionalisiert‹, dass er mit seinen Pionierideen seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Darüber hinaus sind ›amateurhafte Pionier:innen‹ nicht unbedingt Amateur:innen im Hinblick auf ihre Ausbildung: Sie sind oft als Ingenieur:innen, Programmierer:innen oder in anderen verwandten Bereichen professionell ausgebildet. Aber wenn sie als Teil der Pioniergemeinschaft agieren, geschieht dies nicht ausgehend von ihrer beruflichen Rolle und sie sind nicht auf eine entsprechende Wertschöpfung ausgerichtet. Im hier verwendeten Sinne können wir den Begriff ›Pionier:in‹ anhand von folgenden vier Punkten festmachen:

1. Pionier:innen konstruieren ihre Identität auf der Basis der Idee, dass sie eine Vorreiterrolle innerhalb einer bestimmten Domäne einnehmen und in dieser von anderen Mitgliedern der Domäne (aber nicht unbedingt von allen) akzeptiert werden.

2. Innerhalb ihrer Domäne agieren Pionier:innen als Intermediäre (BOURDIEU 2010: 151),45 die in ihren Praktiken verschiedene Handlungsfelder (Technologientwicklung, alltagsweltliche Mediennutzung, Politik etc.) miteinander verbinden – und dabei oft explizit für die Notwendigkeit plädieren, über das eigene Feld hinauszugehen.

3. Pionier:innen spielen aufgrund ihrer experimentellen Praktiken eine besondere Rolle für die Entwicklung ihrer Domäne (z.B. in dem Sinne, dass sie auch als Trainer:in oder Berater:in fungieren).

4. Pionier:innen verfügen über Vorstellungen möglicher Zukünfte, die sich als »soziotechnische Imaginationen« (JASANOFF/SANG-HYUN 2015) medienbezogener Entwicklungen beschreiben lassen. Im Hinblick auf ihre Imaginationen werden diese Pionier:innen oft zu einem Thema des allgemeineren Mediendiskurses über den medien- und technologiebezogenen Wandel.

 

Solche Pionier:innen sind typischerweise in Pioniergemeinschaften als »communities of practice« (WENGER 1999) engagiert. Diese Gemeinschaften sind auf die Zukunft und den Wandel ausgerichtet und konstituieren sich typischerweise um bestimmte experimentelle Praktiken. Im Hinblick auf diese Gemeinschaften teilen ihre Mitglieder ein »Wir-Gefühl« und haben »Strukturen« (KNOBLAUCH 2008: 75-77) jenseits situativer Zusammenkünfte etabliert. Innerhalb von Pioniergemeinschaften nehmen professionelle Pionier:innen oft die Rolle einer »organisatorischen Elite« (HITZLER/NIEDERBACHER 2010: 22) ein: Sie sind umfassend in diesen Gemeinschaften engagiert, haben ein detailliertes Wissen über den thematischen Kern dieser Gemeinschaften ausgebildet und sind typischerweise verantwortlich für die Organisation der Aktivitäten dieser Gemeinschaften.

DIE PIONIERGEMEINSCHAFTEN VON HEUTE

Wie oben erwähnt, können wir heute drei bedeutende Pioniergemeinschaften ausmachen, die für das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung von Relevanz sind: die Quantified-Self-Bewegung, die Maker-Bewegung und die Hacks/Hackers-Bewegung (siehe Tabelle 2). Während es verschiedene Bezüge zwischen diesen verschiedenen Pioniergemeinschaften gibt, unterscheiden sie sich durch die Orientierung ihrer Praktiken (auf das Selbst, die Herstellung, die Veröffentlichung), ihre Visionen von medienbezogener Kollektivität und gesellschaftlicher Transformation, ihre Events und die Art und Reichweite ihrer Publikationen (z.B. Websites, Zeitschriften, Berichte).

Die Quantified-Self-Bewegung (QS) hat in der akademischen Forschung viel Aufmerksamkeit erregt,46 vor allem im Hinblick auf individuelle Praktiken der Selbstvermessung.47 Was heute allgemein als ›Self-Tracking‹ bekannt ist, wurde früher ›Life-Logging‹ genannt,48 ein Protokollieren verschiedener Aspekte des alltäglichen Lebens, das als künstlerische und selbstexperimentelle Praxis begann. Der Begriff des ›quantifizierten Selbst‹ bezieht sich jedoch auf eine spezifische und klar definierte Gemeinschaft. Im Anschluss an ein persönliches Treffen von etwa fünfzig interessierten Personen im Jahr 2007 gründeten Gary Wolf und Kevin Kelly – die beiden bereits erwähnten Wired-Journalisten, die dem Whole Earth Network nahestehen – quantifiedself.com. Ihre Website bringt sowohl Produzent:innen als auch Nutzer:innen der entsprechenden Technologien zusammen. Ausgehend von dieser Webseite organisierten sie Konferenzen und Treffen, die sich mit den Möglichkeiten der Selbstvermessung und Erfahrungen mit den verschiedenen damit verbundenen Technologien beschäftigen. Lokale Gruppen sind hauptsächlich als Meet-ups (meetup.com) organisiert, verbunden durch QS-(Online-)Publikationen, die den Diskurs über die Identität dieser Pioniergemeinschaft kuratieren. Seit 2011 hat sich die QS-Bewegung auf Europa ausgeweitet und zunehmend Kontakte zur technologiebasierten Gesundheitsbranche aufgebaut.49 Parallel zu diesen Aktivitäten haben verschiedene Industrien Endgeräte entwickelt, produziert und vermarktet, die sich speziell auf das gesundheitsbezogene Self-Tracking beziehen.

TABELLE2

Beispiele für heutige Pioniergemeinschaften


Die QS-Bewegung ist eine Pioniergemeinschaft, deren Mitglieder ein Interesse an (Medien-)Technologien für Praktiken des Selbst teilen. Wenn es um ihre Imaginationen von gesellschaftlicher Transformation geht, rückt eine datenbasierte Herstellung des Selbst in den Vordergrund – eines Selbst, das sich einem »neuen Individualismus« verschrieben hat, in dessen Zentrum eine dominante Ausrichtung auf das eigene Ich steht (LUPTON 2015: 183). Wir sind hier mit einem Paradoxon konfrontiert: Einerseits ist die QS-Bewegung auf das Individuum fokussiert. Dies kommt in dem schillernden Begriff des »n = 1« (GREENFIELD 2016: 123) zum Ausdruck, dem Sammeln großer Mengen quantifizierter Daten mit Bezug auf eine Person, um deren Leben zu verbessern. Andererseits geht es dieser Pioniergemeinschaft darum, die Kollektivitätsbildung und Gesellschaft insgesamt durch die Etablierung individueller Selbstvermessung zu verändern. Als solche war diese Pioniergemeinschaft insofern ›erfolgreich‹, als sie dazu beigetragen hat, dass in vielen Ländern des Globalen Nordens die Vorstellung einer kontinuierlichen Selbstvermessung – des fortlaufenden Sammelns von Daten über sich selbst, um das eigene Ich zu ›verbessern‹ – zu einem allgemein akzeptierten Diskurs und einer weit verbreiteten Alltagspraxis geworden ist.

Es ist keine einfache Aufgabe, die Anfänge der Pioniergemeinschaft der Maker zu erfassen. Wenn wir Hack Spaces und Fab Labs50 – und nicht nur Maker Spaces – als wichtige Orte betrachten, an denen sich deren Mitglieder zum Austausch von Ideen und zum (technologiebasierten) ›Basteln‹ und ›Machen‹ treffen, sind die Hackerkulturen und ihre Hacker Spaces wichtige Vorläufer der Maker.51 Eine Verbindung zwischen der Hacker- und der Open-Source-Bewegung besteht bis heute.52 Darüber hinaus ist die Do-It-Yourself-Bewegung (DIY) mit ihrer langen Tradition als Community of Practice in Europa und den USA ein wichtiger Kontextfaktor der Geschichte der Maker.53 Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die Maker einen besonderen Fokus auf die Veränderung durch technologische Entwicklungen legen. Im engeren Sinne entstanden die Maker als Pioniergemeinschaft um 2005, als Neil Gershenfelds (2005) Buch über Fab Labs und 3D-Druck veröffentlicht wurde, von Dale Dougherty bei O’Reilly Media das Make: Magazine herausgegeben wurde und die ersten Maker Faires im Silicon Valley stattfanden. Entscheidend für die weitere Ausbreitung dieser Gemeinschaft war die Einführung des Arduino-Boards im Jahr 2005, des RepRap-Open-Source-3D-Druckers im Jahr 2007, des ersten MakerBot-3D-Druckers im Jahr 2009, die Verfügbarkeit des Mikrocomputers Raspberry Pi im Jahr 2012 und – als rahmender Diskurs – die Veröffentlichung des Buches Makers: The New Industrial Revolution, verfasst vom ehemaligen Wired-Chefredakteur Chris Anderson (2012).

Andersons Buch bot eine verdichtete Ideologie für die Pioniergemeinschaft der Maker und ihre Imaginationen von Kollektivität und Veränderung. Von ihm wurden sie als eine »Gemeinschaft Gleichgesinnter aus aller Welt« (ANDERSON 2012: 15, 73-77, 92-95; siehe auch HATCH 2014) dargestellt, deren Mitglieder die Imagination teilen, dass das Internet der Dinge und die damit verbundenen Produktionstechnologien eine ›neue industrielle Revolution‹ herbeiführen würden, die DIY, Handwerk und selbstgemachte technologische Innovationen zusammenführt. Ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung der Maker-Bewegung war das in San Francisco ansässige Unternehmen Maker Media, das von Dale Dougherty gegründet wurde und 2012 von O’Reilly Media das Make: Magazine und die Maker Faire übernahm (DOUGHERTY/CONRAD 2016). Kern der Verbreitung der Maker-Bewegung ist eine Art ›Franchise-Modell‹ (HEPP 2020b) für das Kuratieren des Diskurses um diese Pioniergemeinschaft, wobei das Make: Magazine und insbesondere die Marke Maker Faire von Maker Media global verbreitet wurden, was zusammenkam mit einem (semi-)professionellen Engagement in und für Hacker- und Maker-Spaces, das von einer breiteren Gruppe von Menschen getragen wurde (DAVIES 2017). Im Juni 2019 stellte Maker Media jedoch aufgrund finanzieller Probleme den Betrieb ein und Dale Dougherty gründete die Make: Community zum Kuratieren der Pioniergemeinschaft.

In einer Phase des radikalen Wandels von Journalismus hat die Hacks/Hackers-Bewegung als ein Netzwerk von Journalist:innen und Tech-Enthusiast:innen bei der globalen Verbreitung von Vorstellungen des Datenjournalismus eine nicht unerhebliche Bedeutung. Diese Pioniergemeinschaft hat ihre Wurzeln in einer Vielzahl von Bewegungen, unter denen technologieorientierte Imaginationen von der Zukunft der journalistischen Arbeit verbreitet sind (USHER 2016: 71-100). Einer ihrer Ursprünge liegt in der Open-Data-Bewegung, die enge Verbindungen zur eher computerorientierten Open-Source-Bewegung hat.54 Die Open-Data-Bewegung ist wiederum mit Imaginationen einer neuen Form von offenem Datenjournalismus verbunden, um den es im Kern auch bei der Hacks/Hacker-Bewegung geht. Letztere wurde 2009 in der San Francisco Bay Area als Netzwerk von Journalist:innen (›Hacks‹) und Progammierer:innen (›Hackers‹) gegründet mit dem Ziel, neue Konzepte der Zukunft von Nachrichtenproduktion und Journalismus zu entwickeln.55 Die Pioniergemeinschaft wuchs in den USA schnell und breitete sich international aus, indem lokale Gruppen (›Chapters‹) zuerst in Lateinamerika, dann in Europa und in Australien gegründet wurden. Bis Mai 2019 gab es weltweit 116 lokale Gruppen, die auf der Website der Bewegung präsentiert sowie über eine Mailingliste und Social-Media-Plattformen kuratiert werden. Damit haben sich die Hacks/Hackers schnell »zur größten Organisation ihrer Art entwickelt« (LEWIS/USHER 2014: 384). Die Pioniergemeinschaft hat eine gewisse Nähe zur digitalen Medien- und Technologieindustrie, was sich nicht zuletzt im Mai 2015 mit der Einführung einer Veranstaltungsreihe des Namens ›Connect‹ in Partnerschaft mit Google zeigte.

In einem weiteren Sinne können wir die Hacks/Hackers als eine wichtige Gemeinschaft im weiterreichenden Feld des »Pionierjournalismus« (HEPP/LOOSEN 2021: 577) verstehen. Einerseits ist sie eine Reaktion auf die neuen Möglichkeiten von Journalismus, die der aktuelle Medienwandel eröffnet.56 Andererseits hat der Pionierjournalismus entsprechende Veränderungen durch seine Imaginationen möglicher Zukünfte des Journalismus selbst mit hervorgebracht. Beispiele dafür sind der Datenjournalismus (der digitale Spuren als Nachrichtenquelle nutzt), ein Journalismus datenbasierter Geschäftsmodelle (der auf neue Formen der Wertschöpfung durch Daten setzt), der Non-Profit-Journalismus (der auf Spenden für investigative Berichterstattung basiert), der Chatbot-Journalismus (bei dem ein Chatbot journalistische Inhalte präsentiert) und der Sensorjournalismus (eine automatisierte Form des Journalismus, die auf Sensordaten basiert).57

Unabhängig davon, ob Ideen wie diese zu nachhaltigen Modellen von Journalismus führen werden oder nicht, treibt die Hacks/Hackers-Bewegung aktuelle Veränderungen voran, indem sie neue Medientechnologien als Möglichkeiten für einen produktiveren öffentlichen Diskurs sieht. Die Ermöglichung neuer Arten eines öffentlichen Diskurses durch frei zugängliche Daten ist beispielsweise eine der Imaginationen, die in lokalen Hacks/Hackers-Gruppen als »informelle Handelszonen« zwischen Journalist:innen und Hacker:innen diskutiert werden (LEWIS/USHER 2014: 388). Dies wird vielleicht am besten durch den Begriff ›Hacker-Journalist:in‹ ausgedrückt: Von ihrem eigenen subjektiven Standpunkt aus helfen die ›Hacker-Journalist:innen‹ den Menschen, etwas über ihre Welt zu lernen, und engagieren sich, damit Bürgermedien zu einer besser funktionierenden Demokratie und Gesellschaft beitragen und so die Welt insgesamt zu einem besseren Ort machen.58 Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die experimentelle Nutzung von Daten eine neue Art von öffentlichem Engagement unterstützt und als Ergebnis neue Wege beim Aufbau und bei der Aufrechterhaltung von Kollektiven fördern kann.

Anhand einer Betrachtung von Pioniergemeinschaften wie den oben beschriebenen wird deutlich, inwieweit diese als kollektive Akteure eine wichtige Antriebskraft für das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung sind. In ihrer Selbstwahrnehmung sind die Mitglieder dieser Pioniergemeinschaften Vorreiter:innen in ihren jeweiligen Feldern und treiben aktuelle medienbezogene Entwicklungen voran, indem sie ständig auf der Suche nach den neuesten technologischen Innovationen sind. Typischerweise sind ihre Imaginationen zukünftiger Möglichkeiten ihrer Zeit voraus, was oft dazu führt, dass ihre Ideen nicht verwirklicht werden, im Einzelfall aber zu radikalen Lösungen führen können. Wichtiger als die Frage, ob sich eine bestimmte Idee durchsetzt, ist allerdings, dass solche Pioniergemeinschaften durch ihre Imaginationen Möglichkeitsräume für technologiebasierte Veränderungen eröffnen. Die Relevanz von Pioniergemeinschaften ergibt sich dabei insbesondere indirekt: Indem diese Imaginationen in der allgemeinen Medienberichterstattung aufgegriffen werden, entwickeln Pioniergemeinschaften Einfluss in ihren jeweiligen Domänen. Die QS-Bewegung z.B. experimentierte mit Praktiken der Selbstvermessung und entsprechenden Technologien, lange bevor diese im Mainstream Einzug hielten. Die ›Übersetzung‹ dieser experimentellen Praktiken in die allgemeine Medienberichterstattung über Self-Tracking und Selbstvermessung war oft kritisch und abwertend als Dystopie einer ›Überwachungsgesellschaft‹, besonders in linken und bürgerlichen Medien (HEPP/ALPEN/SIMON 2021). Auf einer tieferen Ebene wurde jedoch die Annahme der Pioniergemeinschaft von der einfachen Veränderbarkeit der Gesellschaft durch solche Technologien im öffentlichen Diskurs übernommen. In ähnlicher Weise entwickeln viele Mitglieder der Maker-Bewegung neuartige Produkte, die vielleicht nie einen Markt finden werden, aber sie spielen und experimentieren trotzdem weiter mit ihren Ideen. Auch hier ist es die Medienberichterstattung über diese neuen Formen des Machens, das Engagement in lokalen Maker-Spaces und ihre Integration in Bildungsnetzwerke, durch die sich die Imaginationen der Maker-Bewegung verbreiten (HEPP/BENZ/SIMON 2021). Gleichermaßen haben Pionierjournalist:innen die Grenzen verschoben. Zum Beispiel ist der Sensorjournalismus – der Sensoren zur Generierung von Daten für einen automatisierten Journalismus verwendet – zwar keine weit verbreitete journalistische Praxis, gleichwohl durch Publikationen wie das Buch Journalismus der Dinge (VICARI 2019) und durch Tagungen in der Lage, Räume für die Reflexion über die Zukunft des Journalismus zu eröffnen. Mit diesen Beispielen im Hinterkopf können wir Pioniergemeinschaften als Laboratorien des Zustandekommens der tiefgreifenden Mediatisierung verstehen: Oft scheitern ihre Versuche, gelegentlich entwickeln sie erfolgreiche Lösungen und Produkte. Entscheidend ist jedoch, dass sie mit Möglichkeiten experimentieren und so Vorstellungen einer tiefgreifend mediatisierten Zukunft und damit entstehenden digitalen Gesellschaft entwickeln.

 

Auf diese Weise agieren Pioniergemeinschaften als Intermediäre. Sie sind eine Mischung aus sozialer Bewegung und Thinktank und bringen typischerweise Produzent:innen und Entwickler:innen mit Nutzer:innen zusammen, verbinden Forschung, Politik, Journalismus und Industrie. Sie stellen eine ›verbindende Schicht‹ zwischen verschiedenen korporativen Akteuren wie etablierten Medien- und Technologieunternehmen und staatlichen Behörden dar. Dies zeigt sich im Fall der QS-Bewegung (in der Gründer:innen von Start-ups ebenso aktiv und engagiert sind wie reguläre Nutzer:innen und bei der Veranstaltungen sowohl im akademischen als auch im politischen Kontext stattfinden), der Maker-Bewegung (deren offenes Konzept der Maker-Spaces zu einem weit verbreiteten Ansatz in privaten Unternehmen, Bibliotheken und Schulen geworden ist) und der Hacks/Hackers-Bewegung (die Pionier:innen aus etablierten Medien- und Tech-Unternehmen, Startups und Journalismus zusammenbringt). Als Intermediäre sind Pioniergemeinschaften grundlegend für das laufende Kuratieren von Ideen für heutige digitale Medientechnologien und Infrastrukturen, oft lange bevor sie als etablierte Produkte oder Dienstleistungen verfügbar sind.

Gerade wegen ihrer verbreiteten Selbstdarstellung, ›eine Bewegung von unten‹ zu sein, sollten wir uns jedoch davor hüten, diese kollektiven Akteure nicht auch kritisch zu sehen. Dies hat verschiedene Gründe. So haben Pioniergemeinschaften in den von ihnen imaginierten technologischen Zukünften eine nur geringe Skepsis gegenüber möglichen negativen Folgen des Einsatzes von Technologie. Die typische Lösung für ein medienbezogenes Problem wie Datenverlust oder -missbrauch besteht darin, eine technische Lösung zu finden, die gegenüber der aktuellen ›überlegen‹ ist. Der unerschütterliche Glaube der Pioniergemeinschaften an die Technologie ist tendenziell kurzsichtig, was deren nichtintendierte Nebenfolgen angeht. Hier sehen wir wiederum Anklänge der »kalifornischen Ideologie« (BARBROOK/CAMERON 1996: 44), die den freiheitlichen Geist der Gegenkultur und den unternehmerischen Eifer der Medien- und Technologie-Industrien zu einer Imagination technologischer Machbarkeit und zu einer »Rhetorik der Disruption« (DAUB 2020: 129) verbindet. Als kollektive Akteure sind Pioniergemeinschaften in ihrer Zusammensetzung sehr fluide und es fehlt ihnen weitgehend an demokratischen Strukturen. Typischerweise bleibt ihre Beratungstätigkeit für staatliche Behörden von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt und es ist meist ein hohes Maß an Insiderwissen notwendig, um ihren Einfluss zu erfassen. Pioniergemeinschaften sind entsprechend kollektive Akteure, die die tiefgreifende Mediatisierung eher verdeckt vorantreiben.