Tagebücher der Henker von Paris

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Sei es Schrecken oder Liebe, Chavance schien einen solchen Einfluss auf die Mutter Nicolas' auszuüben, dass sie, sobald sie sich mit ihrem Sohne allein befand, ohne die Fragen zu hören oder zu beantworten, die er über das tragische Ende seines Vaters an sie richtete, ihn vielmehr im Namen ihrer Ruhe beschwor, nicht einen unsinnigen Widerstand zu versuchen und sich schleunigst zurückzuziehen. Gleichzeitig versprach sie ihm, um die Bitterkeit dieses Rates zu mildern, ihm von jetzt an Briefe zukommen zu lassen, und da sie die ärmlichen Kleider, die er trug, bemerkte, nahm sie aus einer Schublade einige Goldstücke und ließ sie in seine Tasche gleiten; endlich umarmte sie, geteilt in ihren Gefühlen als Mutter und Gattin, ihren Sohn mit aller mütterlichen Zärtlichkeit, wiederholte ihre Bitten, dass er fliehen möge, weinte über die Grausamkeit dieser Trennung und führte den Unglücklichen, den sie an die Schulter gefasst hatte, bis vor die Tür, die er hinter sich geräuschvoll schließen hörte.

Da war es, dass er, ehe er sich entfernte, daran dachte, von demjenigen, der den letzten Seufzer Jean Larchers in Empfang genommen hatte, das zu hören, wonach er vergeblich seine Mutter gefragt hatte.

Seit sechs Jahren hatte mein Ahne nie Jean Larcher vergessen, und nie hatte dessen letzte Protestation im Augenblicke, wo er vom Galgen in die Ewigkeit überging, aufgehört, an seinen Ohren widerzuhallen.

Wie der Gefreite, der den armen Buchbinder arretiert hatte, so war auch er überzeugt, dass derselbe nicht schuldig gewesen sei.

Er überbrachte ihm die letzten Grüße seines Vaters, nahm aus einem Koffer das Skapulier, das Jean Larcher ihm geboten hatte, wenn er tot sei, von seinem Körper zu nehmen, und stellte es dem jungen Manne zu.

Nicolas wurde nicht müde, mit seinen Küssen diese Reliquie des armen Märtyrers zu bedecken und sie mit seinen Tränen zu benetzen, bis Charles Sanson ihn fragte, ob er nicht begierig sei, zu erfahren, was dieses Skapulier enthalte.

Nicolas untersuchte es nun mit mehr Aufmerksamkeit.


Es war eines dieser Beweise der merkwürdigen Geduld, welche der Mensch in der Gefangenschaft sich zu eigen macht.

Es bestand in einem Stück schwarzen Tuches, das in mehrere doppelte Falten gelegt war, die mit Haaren aneinander genäht worden. Die beiden Nadeln, die wahrscheinlich bei dieser Arbeit gedient hatten, waren noch darin in Kreuzesform auf einer der Außenseiten des Skapuliers festgesteckt.

Der arme junge Mann zögerte, die Naht zu öffnen; zweifellos dachte er an alles, was sein Vater gelitten hatte, als seine Finger diesen Stoff zusammenfügten; mein Ahne nahm ihm denselben aus der Hand und schnitt ihn mit einer Schere in zwei Teile.

Das Skapulier enthielt ein anderes Stück schwarzen Tuches, auf das der Verurteilte mit Haaren, die man an ihrer Weiße für die seinigen erkannte, einen Namen in sehr leserlichen und vollständig ausgeführten Schriftzügen gestickt hatte.

Dieser Name hieß Chavance.

Mein Ahne war ganz nachdenklich geworden; er sah Nicolas Larcher an. Er bemerkte, dass eine sonderbare Veränderung in dem sanften, weißen und fast weiblichen Gesichte des Jünglings vorgegangen war; seine Augen funkelten, und sein Gesicht war durch einen drohenden Ausdruck entstellt.

Am anderen Morgen mit Tagesanbruch klopfte Nicolas Larcher an die Zimmertür meines Ahnen, der sich bereits ankleidete, um auszugehen.

Er schien noch bewegter als abends zuvor; meinem Ahnen zeigte er ein englisches Geldstück von fünfundzwanzig Livres und erklärte ihm, er erkenne es für eines derjenigen, die er seinem Vater geschickt habe.

Hier war kein Missverständnis möglich; dieses Geldstück war das erste, das er in England verdient hatte – es trug das Bild der Königin Anna; da es sehr selten war, hatte der junge Mann es behalten wollen und das Datum des Tages, an dem er es empfangen, auf der Rückseite eingraviert.

Charles Sanson untersuchte das Geldstück, bat, es ihm anzuvertrauen, und ging aus, nachdem beide ein Zusammentreffen im Sprengel Notre-Dame, gegenüber der Kapelle Saint-Denis-du-Pas verabredet hatten.

Zwei Stunden später fanden sie sich wirklich an diesem Orte zusammen. Mein Ahne führte Nicolas Larcher an einen entlegenen Ort am Ufer des Flusses, und nachdem er ihn aufgefordert hatte, sich mit Stärke und Mut zu waffnen, teilte er ihm mit, was er von seinem Freunde, dem Gefreiten, in Erfahrung gebracht hatte.

Einige Monate nach der Abreise Nicolas' hatte Jean Larcher einen Gesellen namens Chavance in seine Werkstatt aufgenommen. Dieser Mensch war damals sechsundzwanzig Jahre alt und verstand unter einer frommen, bescheidenen Außenseite sehr geschickt die verderbtesten Gefühle zu verbergen.

Die freiwillige Verbannung ihres Sohnes hatte Frau Larcher in eine Art von Verzweiflung versetzt. Chavance hatte geschickt daraus Vorteil gezogen, um sich in ihre Gunst einzuschmeicheln. Nach und nach hatte er dieser Frau ein Gefühl einzuflößen gewusst, das an Stelle der mütterlichen Zärtlichkeit ganz von einem Herzen Besitz ergriff, das zu warm und leidenschaftlich war, um je leer bleiben zu können. Sie wusste es dahin zu bringen, dass auch ihr Gatte diese Freundschaft für Chavance teilte, und obwohl der letztere gerade kein geschickter Arbeiter war, so hatte Jean Larcher doch seinen Lohn erhöht und ihn als Tischgenossen in seine Wohnung aufgenommen.

Diese Güte war mit dem schwärzesten Undank belohnt worden; ebenso habgierig wie verstellungsfähig begehrte Chavance nicht allein die Frau seines Meisters, sondern auch dessen bescheidenes Vermögen, und verräterisch hatte er den bösen Handel angesponnen, welcher der Ruin und das Unglück des armen Buchbinders werden sollte. Sehr wahrscheinlich hatte er, nachdem er den Ballen mit den Pamphlets heimlich in das Haus gebracht, an den Polizeileutnant den Brief geschrieben, in dem er ihm genau den Ort anzeigte, wo die Flugschriften sich finden müssten. Wenn man aber auch nur Vermutungen darüber hegen konnte, von wem die Denunziation ausgegangen sei, so war es mit dem Diebstahl der fünftausendzweihundert Livres doch etwas anderes: ganz sicher war Chavance der Dieb!

Die Frau zur Witwe zu machen, genügte ihm nicht, er wollte sich auch noch des Vermögens bemächtigen. Wenn Jean Larcher vor seinem Tode seine Gläubiger hätte bezahlen können, so würde der Sohn seinen Anteil an der Erbschaft gefordert haben. Um dem zuvorzukommen, musste ein Bankerott nach dem Tode herbeigeführt und dazu die fünftausendzweihundert Livres, die Tags darauf in andere Hände übergehen sollten, geraubt werden.

Dieser Raub befreite Chavance von Nicolas Larcher und erlaubte ihm außerdem, das Haus seines Meisters für sich selbst zurückzukaufen.

Während mein Ahne ihm diesen abscheulichen Handel auseinandersetzte, zitterte Nicolas Larcher wie ein Mensch, den heftige Fieberanfälle schütteln, und man hörte seine Zähne aufeinanderschlagen. Er war bleich, als ob er sterben solle, und mit rauer, röchelnder Stimme wiederholte er:

»Meine Mutter! Meine Mutter!«

Als er bemerkte, dass Charles Sanson schwieg, fragte er ihn mit einer Lebhaftigkeit, die beinahe Heftigkeit genannt werden konnte, ob er glaube, dass seine Mutter von dem Verbrechen Chavances Kenntnis gehabt habe.

Mein Ahne senkte die Augen zu Boden und antwortete nicht; da schlug Nicolas Larcher die Hände über seinem Kopf zusammen, und als sie plaudernd der hölzernen Brücke gegenüber angekommen waren, die aus der Stadt nach der Insel Saint-Louis führt und über welche man nach dem Quartier Saint-Paul kommen kann, wollte er diese Richtung einschlagen, aber mein Ahne, der alle seine Bewegungen überwachte, hielt ihn an und beschwor ihn, sich nicht seinem gewissen Verderben auszusetzen, indem er sich ein zweites Mal bei dem Manne seiner Mutter sehen ließe.

Charles Sanson hatte seinem jungen Freunde noch gesagt, dass der Gefreite der Ansicht gewesen sei, diese Sache nicht vor Gericht zu ziehen. Als mein Ahne davon gesprochen, hatte er kopfschüttelnd geantwortet, Chavance sei ein Verwandter des Paters La Chaise, des Beichtvaters des Königs. Er war zu derselben Zeit wie Rambault und Jean Larcher durch das Pamphlet kompromittiert gewesen, und nur die hohe Protektion des Jesuiten hatte ihn vor den übelsten Folgen bewahrt. Während die Witwe Cailloué, Buchdruckereibesitzerin zu Rouen, in der Bastille starb, die Witwe Charmot und ihr Sohn an der Tür ihres Hauses in der Rue de la Vieille-Boucherie in den Bann getan worden, entging Chavance allein der Strafe durch eine Aufschubsorder, die merkwürdigerweise auf dem Grèveplatze eintraf, als der Galgen schon aufgerichtet war und der Karren eben anlangte. Es musste sich also wohl eine sehr mächtige Hand dazwischen gelegt haben, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es daher unnütz und für einen Proskribierten obenein sicherlich ein unkluger Schritt, mit dem Schützling des allmächtigen Beichtvaters sich in offenen Kampf einzulassen. Der Sohn des Opfers konnte nur am besten tun, es der Vorsehung zu überlassen, den Schuldigen zu strafen.

Charles Sanson erwartete, Nicolas Larcher werde sich gegen den Gedanken empören, dass die Menschen ein so großes Verbrechen unbestraft lassen könnten; aber dies geschah nicht. Der Jüngling schien alle Kraft und allen Willen verloren zu haben; er war so vollständig in Nachdenken versunken, dass er mehrere Male gegen die ihm Begegnenden stieß. Der Scharfrichter ergriff seinen Arm, und er ließ sich mit der Folgsamkeit eines Kindes nach seiner Wohnung zurückführen.

Mein Ahne seinerseits hatte wohl die Eindrücke der menschlichen Seele auf die Gesichtszüge zu beobachten gelernt; diese sonderbare Ruhe erschreckte ihn, er sah darin das Anzeichen irgendeines furchtbaren Entschlusses; er trug daher Sorge dafür, dass sein Gast in das Zimmer, das er bewohnte, eingeschlossen wurde.

 

Als er sich aber am andern Morgen zu dem jungen Menschen begab, fand er ihn nicht mehr. Das Fenster stand offen, und die Bettücher, an denen sich Nicolas Larcher auf die Straße hinabgelassen hatte, schaukelten noch hin und her.

Ein Unglück ahnend, eilte Charles Sanson nach seinem Zimmer zurück, um sich vollständig anzukleiden, als einer der Knechte, von einer Besorgung zurückkehrend, ihn benachrichtigte, dass während der Nacht eines jener Verbrechen verübt worden sei, die ein ganzes Volk in Bestürzung zu setzen vermögen: ein Sohn hatte seine Mutter und seinen Stiefvater ermordet.

Mein Ahne erriet sogleich, wer der Schuldige und wer die Opfer seien; er lief so schnell, als sein Alter es ihm erlaubte, nach der Rue Lions-Saint-Paul.

Aus einem Auflaufe, den er vor dem Hause des Buchbinders sah, erriet er sogleich, dass er sich nicht getäuscht habe. Mit vieler Mühe brach er sich durch die Menge Bahn und erkannte, sowie er das Erdgeschoss betrat, Nicolas Larcher, der, von Gefreiten und Soldaten der Polizeiwache umgeben, auf einer Bank saß. Der junge Mann erkannte seinen Wirt trotz der Menge, die ihn umgab; er machte eine Bewegung, als wolle er auf ihn zugehen, aber er war so schwer gefesselt, dass er nur mit Mühe aufrechtstehen konnte und sogleich wieder auf seinen Sitz zurückfiel.

Als ihm nun Charles Sanson sein Verbrechen vorhielt, schlug er die Augen zum Himmel auf und rief:

»Der dort oben thront, hat es so gewollt, er hat meinen Arm geführt. Und auch ich werde, wenn ich vor seinen Richterstuhl trete, es mit Glauben und Vertrauen tun!«

Er gestand sein Verbrechen, aber ohne irgend Reue oder Gewissensbisse kundzugeben; er weigerte sich, die Umstände, die es begleitet hatten, zu erzählen, und als man ihn nach den Gründen fragte, die ihn zu dieser schrecklichen Tat getrieben hatten, antwortete er, der Herr habe ihm dieses Opfer befohlen, wie ehemals dem Jephtha, seine Tochter zu opfern.

Man führte ihn darauf nach dem Châtelet; einige Tage später erhielt mein Ahne von dem Kriminalleutnant die Erlaubnis, ihn zu besuchen.

Es gelang ihm, den Unglücklichen zu beruhigen, und nun erzählte ihm Nicolas Larcher, ohne eine Frage abzuwarten, dass er, sobald er erfahren, so große Schuldige sollten straflos bleiben, seine Seele zu Gott erhoben und ihn gefragt hätte, ob er ihn nicht strafen werde; da habe er eine innere Stimme gehört, die ihm zugerufen: »Töte sie!« und nachher hätte er nur noch an die Mittel gedacht, das Urteil der göttlichen Gerechtigkeit zur Ausführung zu bringen.

Bei dem Abendessen hatte er sich ein Messer mit spitzer Klinge ausgesucht und unter seinen Kleidern verborgen. Als er um neun Uhr abends sich auf sein Zimmer begeben, hatte er gebetet und gefühlt, dass seine Seele sich, je mehr er bete, desto mehr in ihrem Entschlusse bestärke. Darauf hatte er das Haus, in dem er Gastfreundschaft gefunden, verlassen und war in vollem Laufe bis an die Rue Lions gelangt.

Da es warmes Wetter war und das Fenster offenstand, konnte er in die Werkstatt gelangen, ohne von dem Buchbinder bemerkt zu werden. Aber der letztere hörte doch die Diele unter dem Tritte des Mörders knarren; er drehte sich um und fragte, wer da sei; doch plötzlich von instinktmäßigem Schrecken ergriffen, war er nach der Tür geeilt und hatte um Hilfe gerufen.

Aber Nicolas hatte ihn mit einem Sprunge erreicht, ehe er noch auf den Gang gelangt war, und obgleich er nur klein und schwach, Chavance dagegen groß und kräftig war, hatte er ihn beim ersten Anfalle zu Boden geworfen. Erst als er das blitzende Messer über seinem Haupte erblickte, erkannte der Buchbinder seinen Gegner. Er begriff wohl, dass er verloren sei, denn er gab es auf, um Hilfe zu rufen, er flehte nur noch mit erstickter Stimme das Mitleid des Sohnes seines alten Meisters an, und um ihn eher zur Gnade zu bestimmen, scheute er sich nicht, das ganze Verbrechen auf seine Mitschuldige zu wälzen, indem er schwur, dass sie allein und nicht er schuldig sei. Diese Anklagen verdoppelten aber nur die Rachewut, die Nicolas verzehrte; er stieß auf Chavance mit solcher Heftigkeit zu, dass er sich selbst an der Hand verwundete und dass jener nicht mehr atmete, als er noch immer auf ihn losstach.

Dann hatte er ein paar Augenblicke gelauscht. Nichts rührte sich im Hause.

Er dachte daran, zu entfliehen; aber dieselbe Stimme, die ihm am Morgen zugerufen hatte: »Töte!« hatte ihn verhärtet und fragte ihn jetzt, ob der feste Schlummer, der die Sinne der schuldigen Gattin umfing, ihm nicht beweise, dass Gott mit ihm sei. Er war nun die Treppe hinaufgestiegen.

Er glaubte die Dunkelheit sich mit Gespenstern beleben zu sehen, die ihn aufzuhalten suchten, aber ein anderes Phantom, in ein Leichentuch gehüllt, das ihm das Gesicht bedeckte, löste sich aus der Finsternis los und ging, ihm Bahn brechend, vor ihm her.

So kam er an die Tür der Kammer seiner Mutter, und ehe er noch die Hand auf die Klinke gelegt, öffnete sich diese Tür geräuschlos von selbst. Er tat einige Schritte in die Kammer hinein; die Schläferin war nicht erwacht, aber Nicolas hörte deutlich ihre Atemzüge, und es schien ihm, als sei jeder derselben eine Bitte.

Das Messer war seinen zitternden Händen entfallen und rollte auf die Dielen, er selbst fiel zu Füßen des Bettes auf die Knie und fühlte sich so schwach, dass er nicht zu denken vermochte.

Da näherte sich ihm das Gespenst, das ihn hergeführt hatte, und, das Leichentuch aufhebend, zeigte es ihm ein schreckliches Gesicht mit herausgetretenen Augen, blauen Lippen und lang heraushängender Zunge.

In dieser schrecklichen Vision erkannte er seinen Vater.

Der Gehängte hob den Dolch auf und gab ihn in die Hand des Sohnes. Er zeigte ihm die bläulichen Spuren, die der Strick auf seinem Halse zurückgelassen hatte, er streckte dann die Hand gegen das Bett aus und wiederholte mit rauher, aber so mächtiger Stimme – wie der Jüngling erzählte –, dass man sie im Zölestinerkloster gehört haben müsse, dreimal:

»Töte! töte! töte!«

Nicolas hatte die Hand erhoben und ließ sie auf gut Glück niederfallen.

Ein Angstschrei ertönte, Frau Chavance murmelte einen Namen, der weder der eines ihrer Kinder noch der ihres zweiten Gatten war, und alles wurde wieder still.

Nicolas Larcher erzählte nicht, was mein Ahne von denen, welche ihn arretierten, erfahren hatte: dass man nämlich bei Tage, nachdem man den leblosen Körper Chavances in der Werkstatt gefunden, in das Zimmer seiner Frau gedrungen war und daselbst den Mörder betend und weinend vor dem zweiten Leichnam fand, so verzweifelnd und schmerzlich erregt wie der beste Sohn, dem der Himmel die, welche ihm das Leben gegeben, genommen hat.

Als er sein Geständnis beendet hatte, fragte er Charles Sanson mit einer gewissen Angst, ob er noch glaube, dass Gottes Hand nicht in dem Geschehenen gewirkt habe. Der alte Scharfrichter hatte begriffen, dass Kummer, Elend und besonders religiöse Exaltation die Vernunft des armen Nicolas erschüttert hatten und dass, als er sein Verbrechen verübte, er nur der Erregung nachgegeben hatte, die man Illuminismus nennt. Er wollte ihm nicht einen Glauben rauben, der seine letzten Augenblicke weniger bitter machen konnte.

Wie dem auch sei, die Justiz der damaligen Zeit kannte bei weitem nicht die gesetzmäßige Rücksicht der heutigen; selbst wenn es bewiesen worden wäre, dass Nicolas Larcher nur einer Verstandesverwirrung unterlegen sei, so würde er sein doppeltes Verbrechen doch auf dem Rade haben büßen müssen. Aber ein hitziges Fieber ersparte ihm diesen schrecklichen Tod; zwei Tage nach dem Besuche meines Ahnen wurde er krank und starb in einem wütenden Delirium, ehe man noch die Anweisung erhalten konnte, ihn aus seinem Kerker im Châtelet auf das Blutgerüst zu schleppen.

Eine Intrige unter der Regentschaft
Die Marquise von Parabere
Dubois, Law, der Regent.

Der Sohn Sanson von Longvals, der sich Charles, wie sein Vater, nannte, nahm von dem Amte offiziell Besitz, nachdem er es fünf Jahre nur verwaltet hatte.

Der Patentbrief, der ihn mit dem Amte bekleidete, ist vom 8. September 1703.

Charles Sanson hatte den sanften, melancholischen Charakter Marguerite Jouannes, seiner Mutter. Er war mehr zärtlich als leidenschaftlich und sollte nur einmal lieben, aber diese Liebe sollte bis zu seinem Tode dauern.

Er heiratete am 30. April 1707 Martha Dubut, die Schwester seiner Stiefmutter, für die er lange schon eine geheime Neigung gehabt hatte. –

Am Abend des 23. März 1720 ging Charles Sanson allein zwischen den Gesträuchen seines Gartens spazieren, als ein Diener ihn benachrichtigte, dass eine Dame ihn dringend zu sprechen verlange. Von einem solchen Besuche zu dieser Stunde überrascht, befahl er, die Dame in den Empfangssalon zu führen, und beeilte sich, selbst dahin zu gelangen.

Als der Diener sich anschickte, Kerzen anzuzünden, denn es begann schon zu dunkeln, wandte sich die Dame, die ihr Gesicht mit einem langen Schleier bedeckt hatte, an Charles Sanson und redete ihn mit bewegter Stimme an: »Ich bitte sehr, mein Herr, wenn es Ihnen gleichgültig ist, so lassen Sie nicht Licht anzünden; ich habe Ihnen nur wenige Worte zu sagen, und meine Augen sind so schwach, dass der Lichtschein mir Schmerzen verursacht.«

Mein Ahne begriff, dass sie die Dunkelheit nur wünsche, um ihre Gesichtszüge besser verbergen zu können, und sowohl aus Diskretion als aus Höflichkeit gab er dem Diener ein Zeichen, sich zurückzuziehen.

»Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte mein Ahne. »Dieses arme Haus empfängt selten so hohen Besuch wie den Ihrigen, aber man kennt und übt darin alle Rücksichten, die man einem solchen schuldet. Ich werde ehrfurchtsvoll warten, bis Sie imstande sind, mir den Grund zu nennen, der Sie hierher führt, denn ich begreife wohl, dass es ein sehr peinlicher und schmerzlicher sein muss.«

Bei diesen Worten brach die Unbekannte in Tränen aus.

»O ja!« rief sie endlich, »sehr peinlich, schmerzvoll und herzzerreißend! Glauben Sie wohl, dass ich keine Gnade für ihn habe erhalten können? – ein Kind von zweiundzwanzig Jahren, aber sie haben ihm Verderben geschworen! Sie wollen ihn Ihnen überliefern. Ihnen – Ihnen!«

Und sie warf einen flammenden Blick auf meinen Ahnen.

»Hören Sie,« rief sie wieder, »ich werde toll darüber! Ich bin soeben aus diesem verwünschten Palais Royal entwichen, aus dieser Höhle der Begierde und Ausschweifung, weil mir die Wut zum Herzen stieg. Sie erregen alle drei meinen Abscheu: dieser jämmerliche Knecht von Abbé, dieser große Tropf von Schotte und dieser zynische Prinz, die sich einbilden, ihre falsche Münze dadurch, dass sie dieselbe in das Blut dieses unglücklichen Kindes tauchen, vergolden zu können! Es sind Feiglinge!«

Charles Sanson, der befürchtete, dass diese Erregung zu weit gehen könne, und übrigens begierig war, zu hören, was er bereits ahnte, fragte schüchtern:

»Erlauben Sie mir, Madame, Ihnen bemerklich zu machen, dass ich noch gar nicht weiß, um was es sich handelt, und dass ich die Personen nicht kenne, von denen Sie sprechen.«

»Was, du kennst sie nicht? Nun, bei Gott! es ist Dubois, Law, und es ist der hohe Herr Regent! Du wirst sie wohl schon kennen, denn es sind die Spitzbuben, mein Junge, die dir Beschäftigung geben werden, wenn man sie ihren Weg gehen lässt.«

Überrascht und beinahe beleidigt von dieser plötzlichen Vertraulichkeit erwiderte mein Ahne kalt:

»Ich bin nur ein armer Beamter des Königs und seiner Parlamentsjustiz; mein Amt ist nicht allein bescheiden, sondern es ist auch von Vorurteilsvollen verachtet; ich versuche deshalb auch nicht, unter den Menschen zu leben, und kümmere mich nicht um die Handlungen der Großen.«

Die Unbekannte schien nicht darauf zu hören.

»Ja, wie ich dir eben sagte, habe ich sie vergeblich angefleht, sie haben nicht auf mich hören wollen. Der Abbé machte ein andächtiges und heuchlerisches Gesicht, der Schotte fasste sich an das Kinn; sie sprachen zu mir von Staatsgründen, Finanzen und Bankerott – und er, Philipp, ich glaube gar, er hat einen Augenblick gelacht. O Gott, verdamm' mich! ich werde mich an allen dreien rächen, aber an ihm am letzten. Hüte dich, Law! Hüte dich, Dubois! Und nachher haben wir beide miteinander zu tun, Philipp!«

Als sie die letzten Worte aussprach, erhob sie sich und begann heftig im Saale umherzugehen. Mantel und Schleier waren gefallen.

 

»Du siehst,« sagte sie zu meinem ganz erstaunten Ahnen, »dass ich mich geputzt habe, um ihm zu gefallen, um noch einigen Einfluss auf diesen Prinzen auszuüben, den Leichtfertigkeit und Ausschweifung verweichlicht haben. Es hat nichts geholfen; er hat ebenso wenig Sinne als Herz. Als ich ihnen von diesem unglücklichen Kinde sprach, von seiner hohen Geburt, seiner erhabenen Verwandtschaft, seiner Unschuld, denn nicht er hat diesen elenden Juden getötet, da antworteten sie mir nur mit ihrem Papiergelde, mit ihrem System und dem öffentlichen Kredit. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich bin entflohen und direkt hierher gekommen, denn ich habe nur noch Hoffnung zu dir. Nur du allein kannst ihn retten, und du wirst ihn retten – nicht wahr?«

»Madame,« erwiderte Charles Sanson traurig, »ich bin ebenso wenig imstande zu retten als zu verderben. Ich bin nur ein Arm, ein Schwert, das ein anderer Wille als der meinige in Bewegung setzt. Wenn man mir sagt: »Töte!« so muss ich töten; sagt man mir: »Schlage zu!« so muss ich zuschlagen. Ich bin gerade der Gegensatz des Herrn Regenten, von dem Sie soeben zu mir gesprochen haben; er hat das Recht der Gnade im Namen des Königs, ich habe jedoch nur das des Todes.«

»Aber du kannst ihn entschlüpfen lassen. Höre mich an: es werden Maßregeln für seine Entweichung während des Transports von der Conciergerie nach dem Grèveplatze getroffen sein. Widersetze dich seiner Flucht nicht, und du wirst königlich belohnt werden.«

Mein Ahne machte eine Bewegung.

»Du weißt vielleicht nicht einmal, von wem ich sprechen will. Es ist der Graf Anton von Horn, ein armer Jüngling von kaum zweiundzwanzig Jahren. Man sagt, er habe einen Juden in der Straße Quincampoir getötet, um ihm seine Brieftasche abzunehmen. Das ist aber nicht wahr; ein Piemontese hat es getan.«

»Madame,« unterbrach sie Charles Sanson, »seit einer Weile habe ich nicht mehr gezweifelt, dass Sie mir die Ehre angetan haben, des Herrn Grafen von Horn wegen hierher zu kommen. Aber ich wiederhole Ihnen: ich kann nichts, durchaus nichts mehr für Herrn von Horn als für den niedrigsten Verbrecher tun, den mir die Justiz des Parlaments überliefert. Meine Pflicht besteht darin, den Urteilsspruch des Parlaments zu vollziehen. Ich werde nichts darüber und nichts darunter tun. Wenn die Verwandten oder Freunde des Herrn Grafen von Horn ein Komplott gemacht haben, um ihn während des Transportes oder an dem Orte der Strafvollziehung zu befreien, so werden sie bei mir weder Beistand noch Widerstand finden. Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu sagen, dass ich unempfindlich bin, und wer ›unempfindlich‹ sagt, der sagt auch ›unbeweglich‹. Ich werde erst dann die Hand an diesen unglücklichen Jüngling legen, wenn alle menschliche Hilfe verloren ist.«

»O Dank!« rief die arme Unbekannte, die durch diese Worte beruhigter schien. »Ich wusste wohl, dass du nicht ebenso unmenschlich wie jene sein würdest. Du bist der Scharfrichter, nicht wahr? Gut, jene sind: der Regent von Frankreich, ein Minister, der Generalkontrolleur der Finanzen! Sie sind die größten Personen im Staat, aber sie haben keine Seele, und zu dir muss ich kommen, um Mitleid für das Opfer ihrer Grausamkeit, ihrer Leidenschaften und Berechnungen zu erflehen! Hier, nimm diese Rolle, sie enthält hundert Louisdor, und am Tage nach der Rettung des Grafen komme zu mir und fordere, was du willst; ich gebe dir das Wort einer Königin, dass du zufriedengestellt werden sollst.«

Mein Ahne machte eine zurückweisende Gebärde.

»Behalten Sie dieses Geld, Madame,« beeilte er sich zu sagen. »Selbst wenn ich Ihre Hoffnungen teilen und auf eine unerwartete Hilfe, die den Herrn Grafen von Horn von dem ihm erwartenden schrecklichen Lose befreien sollte, rechnen könnte, so würde ich es mir zur Pflicht machen, jede Belohnung für meine Neutralität unter solchen Umständen zurückzuweisen. Es ist Sache der Polizeigefreiten und Stadtwache, über die Person des Verurteilten zu wachen; wenn sie ihn entfliehen lassen, so mag Gott gepriesen sein, denn er erspart uns beiden einen großen Schmerz, Ihnen den, ihn sterben zu sehen, und mir, den tödlichen Streich auf ihn zu führen, übrigens«, setzte er in barschem Tone hinzu, »werde ich durch den König bezahlt, um mein Amt zu erfüllen, und ich wiederhole, dass ich nichts mehr tun kann.«

»Vorwärts!« rief die Dame, wieder ihre erste wilde und verzweifelte Energie annehmend, »spiele nicht den Heuchler und Süßling. Ich weiß, wo ich bin. Nun, willst du auch meinen Namen wissen? – Gleichviel, ich bin die Marquise von Parabere, und man nennt mich die Mätresse des Regenten. Ich will nicht, dass dieser junge Mann sterbe! – Hörst du wohl?«

Charles Sanson verneigte sich.

»Frau Marquise, die Tage des Herrn Grafen von Horn gehören leider nicht Ihrem untertänigsten Diener. Wenn ich das von der Vorsehung erwählte unwürdige Instrument bin, um eine Laufbahn, die so glänzend begann, so schrecklich zu endigen, so werde ich ewig schmerzlich bedauern, dass ich Ihnen wider Willen eine so grausame Betrübnis bereitet habe. Aber hören Sie auf – ich bitte Sie darum – mir von Belohnung zu sprechen. Weder mein Stand noch mein Charakter erlauben mir, eine solche anzunehmen, und so etwas kann nie auf meine Handlungsweise einwirken.«

Die Marquise betrachtete ihn ganz erstaunt.

»Wie kann man doch von euch sagen, dass ihr Blutmenschen seid und dass nur Gewinnsucht euren Arm bewaffne und euch treibe, euresgleichen abzuschlachten? – Adieu, Meister; ich halte mich an Ihr Versprechen: wenn Herrn von Horn im letzten Augenblick Hilfe kommen sollte, so werden Sie Gott die Gerechtigkeit überlassen – sie ist wohl mehr wert als die des Königs oder vielmehr des Regenten.«

Die Marquise wollte gehen; plötzlich aber blieb sie, wie von einer schmerzlichen Ahnung bewegt, stehen und sagte zu Charles Sanson mit unbeschreiblichem Schauder:

»Wenn meine Hoffnungen dennoch getäuscht werden sollten, wenn unter allen den Edlen, die sich für dieses Kind von ihrem Blut interessieren, keiner geschickt genug sein sollte, seine Kerkermeister durch Gold zu bestechen, oder so tapfer, es mit den Waffen in der Hand zu befreien, wenn die schändliche Polizei Dubois' alle zu seiner Rettung genommenen Maßregeln vereiteln sollte, wenn es nötig würde, dass das Blut unschuldigen Opfers Ihr Schwert rötete – oh, dann versprechen Sie mir, dass Sie ihm meinen Namen in das Ohr flüstern wollen, ehe er vor Gott erscheint. Sagen Sie ihm, dass ich gekommen sei, dass ich bis zum letzten Augenblick für ihn gebeten, dass ich alles zu seiner Rettung getan hätte und dass ich, wenn er stirbt, mich nie trösten würde.«

Die Marquise brach in Schluchzen aus.

»Madame,« erwiderte mein Ahne, »Ihre Wünsche sollen treu erfüllt werden, und wenn es Gott gefallen sollte, dass der Herr Graf von Horn durch diese Hand umkäme, so würde letztere sich bemühen, ihm die Angst der letzten Augenblicke abzukürzen, und Ihnen auch ein Andenken von ihm zustellen.«

»O Dank! Dank!« rief Madame Parabere und eilte, ganz außer sich, davon.

Einen Augenblick später hörte man das Rollen ihrer Kutsche in der Rue d'Enfer, und Charles Sanson setzte seinen so traurig unterbrochenen Spaziergang unter den großen Bäumen des Gartens fort.