Tagebücher der Henker von Paris

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Ein Pamphlet unter Ludwig XIV.
Jean Larcher
Zerrüttung in Frankreich; die Maintenon; die Prinzessin von der Pfalz; Herr de la Reynie; das Skapulier.

Ich will jetzt eine traurige Geschichte erzählen; da aber die Ereignisse, aus denen sie ihren Ursprung nahm, schon älter sind, so muss ich einige Jahre, bis in die zweite Hälfte der Regierung Ludwigs XIV. zurückgehen, ungefähr in die Zeit, als die Sonne, die der große König zu seinem Sinnbilde gemacht hatte, zu erbleichen anfing.

Das Augsburger Bündnis hatte den schon durch dreißig Kriegsjahre oder arge Verschwendung erschöpften Finanzen den letzten Stoß versetzt. Frankreich hatte zu Fleurus gesiegt, zu Neerwinden, zu Marseille; aber so viel Ruhm hatte es nicht zu blenden vermocht, und es berechnete sich mit Ängstlichkeit, wieviel Gold und Silber es dafür bezahlen müsse. Um dieselbe Zeit verrieten der Verlust der Seeschlacht bei Hogue und der schlechte Erfolg der Campagne von 1693, die Ludwig XIV. in Person leitete, sowohl Fremden als seinen eigenen Untertanen die zerbrechlichen Grundlagen, auf denen der Koloss ruhte.

Das Werk der französischen Einheit, das er aus den Händen Richelieus empfangen und so ruhmreich beendet hatte, war nicht ohne Klippen. Ludwig XIV. wusste nicht eher haltzumachen, als bis er zur Übertreibung des Prinzips, dem er seine Größe verdankte, gelangt war. Nachdem er die Einheit in diese Regierung gebracht hatte, wollte er sie auch in den Gemütern seiner Untertanen herstellen. Am 17. Oktober 1685 hatte er das Edikt von Nantes widerrufen und Frankreich mit jenen seltsamen Aposteln bedeckt, die Louvois seine »gestiefelten Missionäre«5 nannte. Im Januar 1686 raubte ein anderes Edikt den Protestanten das Recht, ihre Kinder zu behalten.

Die Gläubigen wanderten nun in Masse aus und bereicherten das Ausland mit unserer Industrie. Diejenigen, welche Alter, Schwäche oder Kleinmütigkeit zu einem lügnerischen Abschwören ihres Glaubens zwangen, taten dies nur, indem sie der Macht, welche sie unterdrückte, heimlich fluchten.

Nun erwachte der aufrührerische Geist der Nation, der bis dahin mehr durch Ehrfurcht als durch Despotismus niedergehalten worden war, wieder, ein heimlicher Widerstand gab sich in vereinzelten Protestationen kund, man verlangte sein Recht und vertrat es durch den Krieg der Flugschriften; die Insekten griffen den Thron an, sie unterhöhlten ihn mit der Mine und Sappe soweit, dass der mächtige Hauch der Revolution ihn stürzen musste.

Diese Flugschriften wurden um so gefährlicher, als bei Ludwig XIV. die Größe des Monarchen nicht die menschliche Schwäche ausgeschlossen hatte; die doppelten Strahlen des Heiligenscheins verschwanden schnell; der Held der Turniere, der ritterliche Geliebte der Lavallière, Montespan und Fontanges heiratete im Jahre 1684 die fünfzigjährige Witwe des lahmen Scarron! Diese bürgerliche Herabsetzung des Halbgottes lieh seinen Feinden eine schreckliche Waffe, die der Lächerlichkeit; sie ist tödlich bei einem Volke, das nie der Versuchung widerstehen kann, auf Kosten derer, die es liebt, zu lachen, wieviel weniger auf Kosten des Herrn, den es verabscheut!

Im Jahre 1689 machte ein Pamphlet unter dem Titel: »Die Seufzer des geknechteten Frankreich, das der Freiheit entgegenseufzt«, ungemeines Aufsehen. Die liberalen Stoßseufzer, die es enthielt, waren eine solche Neuigkeit, dass ungeachtet ihrer dogmatischen Form selbst die oberflächlichsten Geister daran Geschmack fanden, und einige Monate lang gab es wahrhaften Wettstreit zwischen Publikum und Polizei, Exemplare zu erhaschen, bei ersterem, um sie zu lesen, bei der zweiten, sie zu zerstören. Diese Sache führte natürlich eine Menge von Leuten in die Bastille und einige sogar zur peinlichen Frage.

Wenn die Regierung Ludwigs XIV. streng gegen diese Attentate auf die Majestät des Thrones, gegen diese Protestationen wider seine Allmacht gewesen war, so wurde sie unerbittlich gegen alle diejenigen, welche die Gefährtin, die sich der Monarch gegeben hatte, angriffen. Als kluger Mann hatte der letztere vielleicht begriffen, dass er, selbst in politischer Beziehung, einen Fehler gemacht habe, aber er war durch die Schmeichelei bereits so verdorben, dass es in seinen Augen als das größte Verbrechen gelten musste, ihn daran zu erinnern.

Im Jahre 1694 begannen einige Exemplare einer Flugschrift unter dem Titel: »Der Schatten des Herrn Scarron« in Paris und Versailles zu zirkulieren.

Auf der Broschüre gab es eine Abbildung, die das von Lafeuillade auf dem Viktorienplatze zu Ehren seines Herrschers errichtete Monument parodierte. Anstatt dass der König vier gefesselte Statuen zu seinen Füßen hatte, war er selbst durch vier Frauen gefesselt dargestellt: die Lavallière, Fontanges, Montespan und Maintenon.

Gerade unter den Prinzen von Geblüt und am Hofe hatte die »Alte«, wie sie die Prinzessin von der Pfalz nennt, ihre erbittertsten Feinde. Ihr Hass war umsichtiger als die Wachsamkeit der Polizei; bevor noch Herr de la Reynie Kenntnis von der Schrift hatte, fand schon der König ein Exemplar unter seiner Serviette, und Madame von Maintenon erhielt ein anderes zu derselben Stunde und in derselben Weise.

Dieser ihm mitten in seinem Schlosse zugefügte Schimpf erregte den ohnehin schon ärgerlichen Ludwig XIV. nur noch mehr. Herr de la Reynie wurde sofort nach Versailles befohlen, der König warf ihm bitter vor, was er für schuldvolle Nachlässigkeit hielt, und befahl ihm, aufmerksam nach den Verfassern der Flugschrift zu suchen und mitleidlos mit ihnen zu verfahren.

Mochten nun die Leute, welche den königlichen Zorn entzündet hatten, sehr mächtig oder sehr geschickt sein, oder waren die Mittel eines Polizeileutnants jener Zeit unzureichend – genug, die feinsten Spürhunde des Herrn de la Reynie verloren umsonst Zeit und Mühe. Man warf wohl einige Individuen, die man im Besitze der beleidigenden Flugschrift fand, in die Bastille, aber man konnte weder den Verfasser noch den Drucker ermitteln.

Diese Angelegenheit gewann großen Wert in den Augen eines Königs, der damals immer noch der Lenker der Geschicke Europas war. Er schien ebenso empfindlich über die schlechten Erfolge, welche seine Agenten erlangten, als er es über den Schimpf selbst gewesen war. Sobald er nur den Polizeileutnant erblickte, rief er ihn, befragte ihn mit Ungeduld über das Resultat seiner Nachforschungen und sparte ihm keine Vorwürfe, sobald er erfuhr, dass bisher alle diese Nachforschungen erfolglos gewesen seien.

Endlich hatte Gott oder vielmehr der Teufel Mitleid mit diesem armen Herrn de la Reynie, der sich das Übel, das ein Minister mehr als den Tod fürchtet, eine Ungnade, sehr nahegerückt sah.

Eines Tages hörte er mit sehr zerstreuter Miene die Klage eines Handwerkers an, dem man in der vergangenen Nacht fünftausendzweihundert Livres gestohlen hatte, als plötzlich der Sekretär des Polizeileutnants schnell eintrat, letzterem einen Brief überreichte und ihn bat, denselben sofort zu lesen.

Kaum hatte der Polizeileutnant die Augen auf das Papier geworfen, so sprang er auf seinem Lehnstuhle in die Höhe. Auf ein Zeichen ging der Sekretär wieder hinaus, um einen Gefreiten zu rufen, während Herr de la Reynie in augenscheinlicher Erregung auf einem Pergamentblatte kritzelte, das bereits mit dem Staatssiegel versehen war.


Seine Bewegung war so groß, dass er den Mann mit den fünftausendzweihundert Livres vollständig vergessen hatte und nicht bemerkte, wie dieser, der nur zwei Schritte von seinem Bureau stand, alles, was er schrieb, lesen konnte, und dass er nicht einmal daran dachte, den grünen Vorhang, wie er es gewöhnlich tat, wenn er Besuch hatte, über seine Papiere herabzulassen.

Der Handwerker sah mit dem naiven Vertrauen eines Menschen, der von der Wichtigkeit seiner eigenen Angelegenheit so überzeugt ist, dass er nicht daran zweifelt, nur diese könne die Obrigkeit beschäftigen, zu, wie der Polizeileutnant schrieb; aber der Sekretär, der, von dem Gefreiten gefolgt, wieder eintrat, zog ihn schnell zurück.

Bei dem dadurch verursachten Geräusche hob Herr de la Reynie den Kopf und schien höchst unangenehm dadurch überrascht, dass er den unwichtigen Menschen noch neben sich sah. »Schreiben Sie Namen und Vornamen auf,« sagte er unwirsch zu ihm, »man wird sich mit Ihrer Angelegenheit beschäftigen.«

Ein tiefes Erstaunen malte sich auf dem Gesichte des Mannes mit den fünftausendzweihundert Livres; er zögerte noch einige Augenblicke, näherte sich dann dem Bureau, nahm ein Stück Papier und eine Feder, sagte aber, sich plötzlich besinnend:

»Erlauben Sie mir, mein Herr, Ihnen zu bemerken, dass ich schon die Ehre gehabt habe, Ihnen meinen Namen und sonstige Eigenschaften anzugeben, und dass Sie dieselben so gut behalten haben, dass ich mich über die Sicherheit Ihres Gedächtnisses wundern musste, denn soeben sah ich, ohne unbescheiden sein zu wollen, wie Sie es ebenso genau, als ich es nur hätte tun können, niederschrieben.«

Herr de la Reynie biss sich auf die Lippen, und mit einem unbeschreiblichen Augenwinke gab er dem Sekretär ein Zeichen, sich dem Handwerker zu nähern.

»Sie heißen Jean Larcher?« fragte er den letzteren.

»Ja, mein Herr.«

»Sie sind Buchbinder, Straße Lions-Saint-Paul, gegenüber dem Hotel de Fieuber, mit dem Zeichen zum goldenen Buche?«

»Der Herr haben nichts vergessen«, sagte der arme Jean Larcher lächelnd, während er das Stück Papier, das er zu beschreiben angefangen hatte, in den Händen herumdrehte.

Auch Herr de la Reynie lächelte, aber nicht auf dieselbe Weise; er zog den Gefreiten in eine Fensternische, sagte ihm einige Worte ins Ohr und meinte dann, ihn dem Buchbinder vorstellend:

 

»Dieser Herr wird Sie nach Ihrer Wohnung begleiten; er wird die notwendigen Nachforschungen anstellen, um zur Entdeckung des Diebstahls zu gelangen, dessen Opfer Sie geworden sind, und wir werden nichts außer acht lassen, damit Ihnen Gerechtigkeit werde.«

Unterwegs plauderte der Gefreite mit dem Buchbinder, der nacheinander alle die Details wiederholte, die er bereits dem Polizeileutnant gegeben hatte, ohne dabei die Beschreibung aller der Örtlichkeiten zu vergessen, die sein Begleiter kennenzulernen ganz besonders neugierig zu sein schien.

Soldaten der Scharwache und Gefreite umgaben das Haus des Buchbinders.

Der letztere zeigte sich mehr erfreut als überrascht von den militärischen Vorbereitungen, mit denen man ihn beehrte; er bemerkte seinem Begleiter, dass, wenn seine Wohnung in der vergangenen Nacht ebenso gut bewacht gewesen wäre, sich soviel brave Leute nicht heute zu bemühen gebraucht hätten.

Der Buchbinder hatte seinen Begleiter so gut unterrichtet, dass der letztere, welcher vorausging, sich nicht in der Tür täuschte; er öffnete die der Niederlage, in welcher der Diebstahl begangen worden war, und ging gerade auf einen großen Schrank von Nussbaumholz zu, in dem Meister Larcher seinen Schatz verwahrt gehalten hatte.

Während aber der Handwerker die Stöße von Stoffen umwühlte, die seinen Schatz so schlecht verborgen hatten, und sich Mühe gab, die Aufmerksamkeit des Gefreiten auf seinen Versteckwinkel zu ziehen, der leider jetzt verwitwet war, machte sich der Mann des Herrn de la Reynie einen Fußtritt aus den unteren Brettern, erhob sich bis zu dem Gesimse des Schrankes, streckte den Arm aus und warf einen kleinen Ballen Broschüren auf die Erde, auf den sich ein Kommissar, der plötzlich wie durch Zauber da war, mit der Begierde eines Geiers stürzte, der die Beute in seinen Klauen fühlt.

Meister Larcher, erstaunt, dass man dem, was ihm in gar keiner Beziehung zu der Angelegenheit zu stehen schien, welche die Justiz in sein Haus führte, soviel Aufmerksamkeit schenkte, bemühte sich, den Gefreiten am Ärmel seines Rockes zu ziehen, um ihm einige Spuren gewaltsamen Einbruches, die an der Tür des Schrankes zurückgeblieben waren, zu zeigen.

Das Benehmen des Gefreiten war aber ganz verändert; er schien den nicht mehr hören zu wollen, den er ein paar Augenblicke zuvor noch wie einen intimen Freund behandelt hatte.

Inzwischen fing der Kommissar an, den Buchbinder zu verhören. Er zeigte auf die Broschüren und fragte, ob er sie als sein Eigentum anerkenne.

In seiner Ungeduld antwortete Meister Larcher etwas unbedachtsamerweise, es könne wohl keinem Zweifel unterliegen, dass alles, was sich in seinem Hause befände, sein Eigentum oder das seiner Kunden sei, die es ihm anvertraut hätten.

Der Kommissar nahm nun, nachdem er den Ballen geöffnet hatte, ein Exemplar der Broschüre, hielt es Meister Larcher unter die Augen und forderte ihn auf, zu erklären, von wem er die bei ihm gefundene strafbare Schrift habe.

Als der Meister auf der ersten Seite den Titel des Pamphlets: »Der Schatten Herrn Scarrons« las, von dem er, wie sein Handwerk es mit sich brachte, hatte sprechen hören, wurde er bleich, seine Knie wankten, und er fasste sich an die in Schweiß gebadete Stirn; eine Weile blieb er stumm, niedergeschmettert durch die Erwägung der ihm drohenden Gefahr.

Er ergriff das Wort nur wieder, um sich auf seine Unschuld zu berufen, bei allem, was auf der Erde heilig ist, zu versichern, dass er durchaus keine Kenntnis von der Anwesenheit dieser fatalen Broschüren in seinem Magazin gehabt habe und dass er sie zum ersten Mal sähe. Die Gefreiten antworteten ihm, er möge das alles nur seinen Richtern sagen, und schickten sich an, ihn mit sich zu nehmen.

Die Frau Jean Larchers saß in einem Winkel des Zimmers, hatte ihr Gesicht mit der Schürze verhüllt und schien, nach ihrem Schluchzen zu urteilen, in der größten Betrübnis.

Als Jean Larcher über die Schwelle schreiten wollte, bat er den Gefreiten, mit dem er sich in so freundschaftliche Beziehungen gesetzt hatte, ihm zu erlauben, dass er der, welche er nicht mehr wiederzusehen fürchtete, Lebewohl sagen dürfe.

So hart auch sonst das Herz dieses Mannes, so gewöhnt er an solche Szenen war, hatte ihn die Verzweiflung doch gerührt; er machte seinen Gefährten ein Zeichen, anzuhalten, und der unglückliche Ehemann rief dreimal:

»Marianne! Marianne! Marianne!«

Aber seit einer Weile war das Schluchzen der Frau Larcher nur noch heftiger geworden, und sie schien die Stimme ihres Mannes gar nicht mehr zu hören.

Die, welche ihn umgaben, führten sie zu ihm; sie zögerte noch einen Augenblick, dann warf sie sich plötzlich an seine Brust und umarmte ihn mit allerlei Ausbrüchen des Schmerzes und der Zärtlichkeit.

Dieses Zögern war dem Gefreiten nicht entgangen, der überdies noch bemerkt hatte, dass Frau Larcher nach Weise der Kinder weinte, das heißt, dass ihre Augen trocken waren und ihre Wangen keine Spur von Tränen zeigten.

Dies kam ihm so sonderbar vor, dass er, obgleich gegen solche Unschuldsbeteuerungen sehr gleichgültig, zu argwöhnen begann, die Worte Jean Larchers könnten wohl wahrhafter sein als die mancher Schuldigen, wie er sie sonst gewöhnlich zu arretieren hatte.

Als sein Gefangener in das Châtelet aufgenommen worden war, teilte er Herrn de la Reynie seine Vermutungen mit. Er erinnerte ihn daran, dass es eine anonyme Denunziation sei, die genau den Ort bezeichnet hatte, wo Jean Larcher die Pamphlets verborgen halten sollte; er erzählte ihm, wovon er Zeuge gewesen, und machte ihm alles klar, was vermuten ließ, der unglückliche Buchbinder sei unter solchen Umständen das Opfer einer abscheulichen Intrige.

Aber der Polizeileutnant hatte diese Verhaftung schon dem Könige angezeigt, und der König hatte ihm zu seinem Erfolge gratuliert; er hielt den Schuldigen fest und war keineswegs der Mann, seine Beute für einen Schatten loszugeben, das heißt für die ungewissen Chancen einer Untersuchung.

Wenn auch einige Vermutungen zugunsten des Angeklagten sprachen, so lagen doch schwere Bedenken gegen ihn vor. Bevor Herrn de la Reynies Polizei die Flugschrift in seinem Besitze gefunden, hatte Jean Larcher sich schon große Blößen gegeben. Er war bekehrter Protestant, hatte geduldet, dass sein Sohn dem Glauben seiner Väter treu bleibe und nach England gehe, um sich dort ein Asyl gegen alle Verfolgungen zu suchen. Zu diesem Verbrechen kam noch ein anderes: dass er nämlich mit diesem Sohne in steter Verbindung geblieben war, wie eine Anzahl in seiner Behausung gefundener Briefe bewies.

Der Prozess wurde gegen Jean Larcher allein geführt.

Man brachte ihn dreimal auf die Folter, und er hielt sie mit einer Festigkeit aus, die man einem schon so bejahrten armen Bürger nicht zugetraut hatte. Er weigerte sich beständig, seine Mitschuldigen zu nennen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen erwiderte er, es sei an dem Tode eines Unschuldigen genug für das Gewissen der Richter, er wolle nicht, dass durch seine Schuld die Seelen der letzteren auch noch für anderes vergossenes Blut verantwortlich werden sollten.

Zum Tode durch den Strick verurteilt, wurde er Freitag, den 19. November 1694, um sechs Uhr abends zur Hinrichtung geführt.

Er saß auf dem Karren neben einem gewissen Rambault aus Lyon, Buchdruckereigehilfe bei der Witwe Charmot in der Rue Vieille-Boucherie, der wegen derselben Angelegenheit dieses schrecklichen Pamphlets arretiert und verurteilt worden war. Larcher bewegte sich viel auf seinem Platze, er war zerstreut und schien von einem für den entsetzlichen Moment, der so bald kommen sollte, seltsamen Gedanken gepeinigt; er hörte nicht einmal auf die Ermahnungen seines Beichtvaters.

Als der Karren am Fuße des Galgens anhielt, stieg Rambault zuerst aus, und während sich die Henkersknechte seiner bemächtigten, trat Charles Sanson de Longval auf Larcher zu, der, von seinen Fesseln beschwert, nur mit Anstrengung absteigen konnte.

Er wandte sich darauf mit Lebhaftigkeit an meinen Ahnen und sagte zu ihm:

»Es ist ein Unschuldiger, den Sie vom Leben zum Tode bringen werden; wollen Sie, dass er Ihnen den Anteil verzeihe, den Sie an dieser Ungerechtigkeit haben werden?«

»Sprechen Sie, mein Herr.«

»Mein Leichnam und die Hinterlassenschaft, die ich bei mir trage, werden sogleich in Ihren Händen sein; vielleicht wird die Frau, die meinen Namen trägt, sich verpflichtet glauben, meinen Körper zu reklamieren, um ihn begraben zu lassen. Schwören Sie mir, ihn ihr nicht auszuliefern, bevor Sie das Skapulier, das Sie auf meiner Brust finden, abgenommen haben; schwören Sie mir, dieses Skapulier aufzubewahren und meinem Sohne zu übergeben, wenn er zu Ihnen kommt, um von den letzten Augenblicken seines Vaters etwas zu erfahren.«

Mein Ahne versprach dem armen Jean Larcher, was er so inbrünstig erbat.

Er legte der Ausführung dieses letzten Willens unstreitig eine große Wichtigkeit bei, denn kaum war er von dieser Sorge befreit, so nahm sein Gesicht eine ruhige Heiterkeit an, und ohne aufzuhören, seine Unschuld zu beteuern, beschäftigte er sich nur noch mit dem Heile seiner Seele.

Einige Minuten später schwebte sein Körper mit dem seines Gefährten am Galgen. Jean Larcher und Rambault hatten aufgehört zu leben.

Aber seine Vermutungen erfüllten sich nicht. Die Frau Larcher tat keinen Schritt, um die Erlaubnis zu erlangen, ihrem Mann ein passendes Begräbnis zuteil werden lassen zu dürfen. Umsonst ließ mein Ahne drei Tage lang den Leichnam des Hingerichteten in dem unteren Saale des Schandhauses, nachdem er, dem Willen des Verstorbenen gemäß, das kostbare Skapulier in Sicherheit gebracht hatte.

Nicolas Larcher
Chavance.

Sechs Jahre lang bewahrte mein Ahne die ihm anvertraute Hinterlassenschaft Jean Larchers.


Im Jahre 1699 war er vierundsechzig Jahre alt, dieser Greis, der bis dahin sein Unglück mit männlicher und ernster Resignation ertragen hatte, aber um diese Zeit schien er der Last zu unterliegen.

Am Dreikönigstage des Jahres 1709 war eine zahlreiche Gesellschaft bei Charles Sanson versammelt.

Das alte Andenken dieses religiösen Festtages ist nur selten von meiner Familie nicht gefeiert worden. Wir legten einen sehr hohen Wert auf die stillen Freuden des häuslichen Herdes, die, so kurz auch die Einbildung sein mochte, einem der Unserigen den Königstitel gaben.

An der Tafel meines Ahnen befanden sich zehn Gäste, und Charles Sanson hatte soeben den Kuchen in elf Teile geschnitten, einen für die Armen reservierend, als es an die Tür klopfte.

Der erste Gedanke aller war, dass Gott den Armen, den man erwartete, schicke, und mein Ahne, ebenso wie die andern überzeugt, dass es so sein müsse, füllte einen großen Becher voll Wein und befahl einem seiner Knechte, den Fremden einzuführen.

Einige Augenblicke später trat ein junger Mann von vier- bis fünfundzwanzig Jahren, von bescheidener, aber anständiger Haltung, der ein kleines Paket unter dem Arme trug, in den Saal.

Er schien bestürzt, daselbst eine so zahlreiche Gesellschaft zu finden, und fragte Charles Sanson, der am Ende der Tafel saß, ob er hier wohl richtig bei dem Scharfrichter sei.

Mein Ahne antwortete bejahend, und der Fremde bat, ihm einige Worte sagen zu dürfen.

Charles Sanson versicherte, dass er sofort zu seinen Diensten stehe, aber er hoffe, jener werde sich vorher in Erwägung der Feierlichkeit, die Könige und Hirten zur gemeinschaftlichen Andacht vereinige, eine Weile an die Tafel dessen setzen, den er zu suchen gekommen sei.

Der Fremde dankte mit bewegter Stimme; er nahm einen Stuhl und setzte sich in die Ecke am Kamin, wo der Knecht ihm den Becher und das Stück Kuchen präsentierte.

Er nahm beides, und während er aß und trank, sah mein Ahne große Tränen über seine Wangen rollen.

Die sanfte und traurige Miene des Unbekannten hatte schnell das Mitgefühl Charles Sansons hervorgerufen; er war bereits entschlossen, ihm zu helfen, da er voraussetzte, diese Tränen seien eine Folge großer Armut. Er glaubte daher nicht indiskret zu sein, als er ihn fragte, weshalb er weine.

Der junge Mann erwiderte, wenn er Tränen vergieße, so sei dies weder weil er Hunger noch weil er Durst habe; er weine bei dem Gedanken, dass er jetzt mitten unter den Seinigen sitzen sollte, im Hause seines Vaters, dass sich aber die Tür dieses Hauses eben vorher vor ihm verschlossen, dass die, denen er durch die Bande des Blutes angehöre, ihm den Anteil an den Freuden der Familie, den ihm ein Fremder so großmütig angeboten, verweigert hätten.

 

Die Gäste schwiegen und senkten den Kopf. Mein Ahne war sehr blass geworden, man sah große Schweißtropfen auf seiner Stirn perlen; er ergriff den jungen Mann bei der Hand und führte ihn in sein Schlafzimmer, das im oberen Stockwerke lag.

Dort erzählte ihm der Gast, dass er Nicolas Larcher heiße und der Sohn Jean Larchers sei, des Buchbindermeisters, der sechs Jahre zuvor als Besitzer und Verbreiter einer Schmähschrift gehangen worden sei.

Wie ich schon im vorhergehenden Kapitel erklärte, hatte der Sohn sich zur Zeit der Katastrophe, die seinen Vater betraf, in England aufgehalten.

Einige Monate vor seinem Tode hatte dieser an ihn geschrieben; sein Brief war traurig und voll schmerzlicher Stellen gewesen. Er hatte eine ansehnliche Zahlung zu leisten, und es fehlte ihm noch an einer gewissen Summe; er bat seinen Sohn, der damals eine Stelle bei einem Londoner Buchbindermeister gefunden hatte, ob er ihm nicht diese Summe verschaffen könne.

Der Sohn hatte darauf geantwortet, indem er alles, was er besaß, seinem Vater schickte; der letztere hatte ihm noch den Empfang des Geldes angekündigt, dann war Nicolas Larcher ohne alle Nachrichten geblieben.

Der Krieg und die auf den Briefwechsel der ausgewanderten Protestanten ausgeübte Überwachung erschwerten ihre Verbindung sehr, machten sie zwischen Frankreich und England sogar fast unmöglich.

Nicolas, der dies recht gut wusste, beunruhigte sich nicht allzu sehr. Als das Schweigen der Seinigen aber immer länger dauerte, begriff er endlich, dass ein großes Unglück seine Familie betroffen haben müsse; dennoch erfuhr er erst nach dem Frieden von Ryswik von einem Franzosen das elende Ende seines Vaters.

Er konnte nicht glauben, dass eine Mutter, die bis zum Tage seiner Abreise in das fremde Land nicht aufgehört hatte, ihm Beweise der größten Zärtlichkeit zu geben, ihr Kind vergessen haben sollte; er vermutete daher, dass auch sie tot sei, und von Angst verzehrt hatte er den Entschluss gefasst, alles zu leiden und allem zu trotzen, um sich Gewissheit zu verschaffen.

Sobald er nur imstande gewesen, den Weg zu machen, war er abgereist, nachdem er die Überfahrt durch das Mitleid eines Schiffskapitäns frei erhalten hatte; er erbettelte sein Brot und verbarg sich unter einem falschen Namen, denn wenn er erkannt worden wäre, so hätten ihn die Edikte zu den Galeeren des Königs verurteilt.

Nach mancherlei Abenteuern war er in Paris angekommen und war auf der Stelle nach der Rue Lions gegangen, nicht weil er dort seine Mutter wiederzufinden gedachte, sondern weil er den Ort wiedersehen wollte, wo sie gelebt hatte, weil er hoffte, hier am ehesten etwas über ihr Geschick zu erfahren.

Als sein Auge, nachdem er am Zölestinerkloster vorüber und längs der Mauern des Hotels Fieuber gegangen war, in die Straße Lions blicken konnte, sah er zu seiner großen Überraschung das Wahrzeichen des »goldenen Buches«, wie es sich an seiner Eisenstange wiegte und noch viel glänzender, als es je gewesen, aussah.

Er beschleunigte seine Schritte, aber bald hielt er kurz an, als ob seine Beine ihm den Weg versagt hätten: er hatte nämlich auf der Schwelle der Ladentür eine Frau erscheinen sehen, in der er seine Mutter erkannte.

Er hatte rufen wollen, aber die Stimme ließ ihn im Stiche wie vorher schon die Beine; er hatte nur einen Namen stottern und seine Arme gegen sie gewaltsam ausstrecken können.

Die Witwe Jean Larchers hatte auch ihn erblickt; ihr Gesicht war ebenso bleich geworden wie ihr Brustschleier, aber sie konnte ihr Kind doch wohl nicht erkannt haben, denn sie war schnell wieder in das Haus zurückgetreten.

Nicolas wankte wie ein Berauschter, und das Glück, diejenige, welche er tot geglaubt hatte, lebend wiedergefunden zu haben, beherrschte alle übrigen Gefühle, die sein Herz zusammenpressten.

Er näherte sich dem Hause; als er die Hand an den Klopfer der Tür legte, öffnete sich diese, und er sah sich einem Manne gegenüber, der ihm ganz unbekannt war, ihn aber zu seinem großen Staunen beim Namen nannte und einlud, näherzutreten.

Dieser Mann ließ ihn in die obere Etage hinaufsteigen, führte ihn in das Magazin, das unsere Leser schon kennen, und dort fragte er ihn mit einer Verlegenheit, die sich nur unvollkommen verbergen ließ, welche Veranlassung ihn nach Paris führe, wo die geringste Gefahr, die er liefe, das Gefängnis sei. Hierauf erklärte er ihm ohne Einleitung oder ohne ihm die Zeit zu einer Einwendung zu lassen, dass er selbst sich Chavance nenne und die Witwe Jean Larchers geheiratet habe.

Nicolas hörte ihn mit Staunen an und wusste nicht, ob er wache oder träume.

Chavance sagte ferner, dadurch, dass die Mutter seine Briefe nicht beantwortet, habe sie ihm zu verstehen geben wollen, dass er seinerseits suchen möge, sich durch Heirat eine neue Familie zu schaffen.

Und als Nicolas nun erwiderte, dass nichts in der Welt eine Mutter ersetzen könne, rief er mit einer gewissen Heftigkeit, die Religion habe Frau Chavance von allen Verpflichtungen gegen einen Sohn befreit, der in seiner Ketzerei so hartnäckig sei, auch habe sie andere Kinder aus ihrer zweiten Ehe und also auch andere Pflichten.

Dann sagte er noch mit einem zweideutigen Lächeln, er fürchte, dass die kindliche Liebe nicht der einzige Grund seiner Reise sei; zweifellos hätte er, als er den Tod seines Vaters vernommen, daran gedacht, einen Erbschaftsanteil heben zu können, aber er müsse ihm auf der Stelle sagen, dass eine solche Erbschaft gar nicht existiere. Jean Larcher sei zahlungsunfähig gestorben, die Gläubiger hätten das Haus verkaufen lassen und er, Chavance, habe es zurückgekauft; die Witwe sei in die größte Armut geraten, die Liebe und Ergebenheit des alten Gesellen hätten sie aus dem Elende gerettet.

Als Chavance diese Erzählung beendet hatte, nahm er mit sonderbarer Eile einige Papiere aus einer Schachtel, gab sie Nicolas in die Hand und forderte ihn auf, sich von der Wahrheit dieser Versicherungen zu überzeugen.

Nicolas stieß diese Papiere zurück und bat ihn inständigst, er möge ihm wenigstens erlauben, seine Mutter zu umarmen. Aber durch die Sanftmut und Geduld des jungen Mannes ermutigt, war die Sprache Chavances befehlshaberischer geworden. Er erwiderte, dass das, was jener wünsche, unmöglich sei, dass seine Anwesenheit in diesem Hause allein schon große Gefahr für die habe, die es bewohnten, dass es ihm gar nicht einfalle, so enden zu wollen, wie Jean Larcher geendet habe, dass er ihn also auffordere, Paris zu verlassen und so schnell als möglich nach England zurückzukehren, und dass, wenn er dies nicht tue, er, der vor allem besorgt sei, immer Gott und dem Könige zu gehorchen, selbst gehen werde, die Anwesenheit eines Calvinisten in seiner Wohnung anzuzeigen.

Zitternd vor Bewegung fiel Nicolas, ungeachtet der tiefen Abneigung, die er gegen den fühlte, welcher den Platz seines Vaters eingenommen hatte, vor ihm auf die Knie nieder und beschwor ihn, er möge ihn nicht in das Exil zurückkehren lassen, ohne den Trost einer letzten Liebkosung von der, die ihm das Leben gegeben, mitnehmen zu dürfen.

Aber sein Stiefvater stieß ihn roh zurück und erneuerte seine Drohungen. Da öffnete sich die Tür, und Frau Chavance, die wahrscheinlich in der Nebenstube alles gehört hatte, was zwischen ihrem zweiten Manne und ihrem Sohne vorgegangen war, stürzte höchst aufgeregt in das Magazin und warf sich an die Brust des armen Nicolas.

Chavance geriet in einen Anfall wilder Wut, als er sah, dass die mütterliche Zärtlichkeit stärker als seine Einflüsterung sei. Es fehlte wenig daran, dass er seine Frau malträtierte, aber besiegt von ihren Tränen und Bitten, gab er ihr zehn Minuten Zeit, um ihrem Kinde Lebewohl zu sagen, und ging dann aus dem Magazin, mit aller Art von Flüchen schwörend, dass, wenn diese zehn Minuten verflossen und Nicolas noch im Hause sei, er selbst zum Polizeileutnant gehen werde.