Tagebücher der Henker von Paris

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Der Henker von Paris
Ankunft in Paris

Zu Ende des Jahres 1685 verließ mein Ahne Charles Sanson von Longval die Normandie, wo er die Asche dieser Margarita Jouanne zurückließ, die er mit einer so traurigen Mitgift geheiratet hatte.

Er nahm den Vorschlag, der ihm gemacht wurde, an, nach Paris zu kommen und seine provinzielle Jurisdiktion mit der der Hauptstadt des Königreichs zu vertauschen.

Die lange Reihe der plötzlichen Todesfälle, die auf den Stufen des Thrones die königliche Familie dezimiert hatten, die geheimnisvollen Prozeduren der Chambre ardente, dieses Gerichtshofes, der bei Gelegenheit der Wiederanwendung des durchdringenden Giftes der Borgia, das man das Sukzessionspulver genannt hatte, errichtet worden war, das alles hatte aufgehört, und nichts würde die ruhige Klarheit des Horizontes getrübt haben, wenn eine der unpolitischsten Handlungen unserem Vaterlande, das unglücklicherweise nur zu sehr an die religiösen Streitigkeiten gewöhnt war, nicht eine neue Ära von Widerwärtigkeiten bereitet hätte. Ich meine die Widerrufung des Edikts von Nantes.

Auch andere Umstände verdüsterten die erste Zeit des Aufenthaltes Sansons von Longval zu Paris. Bei seiner Ankunft hatte er in dem Hause des Schandpfahles bei den Hallen wohnen müssen, das von dem Volke mit dem Namen »das Hotel des Henkers« belegt worden war. Nichts als eine solche Wohnung war weniger geeignet, die Melancholie, die an ihm nagte, zu zerstreuen. Dieses Haus war ein düsterer achteckiger Bau, auf dem sich eine durchbrochene Haube von Holz befand, die sich auf einem Pivot drehte und in einen spitzen Glockenturm auslief. Die Verbrecher, die zur Strafe des Schandpfahles verurteilt waren, wurden in dieser Laterne befestigt, in der man ihnen der Reihe nach das Gesicht nach den vier Himmelsgegenden drehte. Man wird sich erinnern, dass diese Art von Ausstellung gewöhnlich an den Markttagen stattfand, damit ihr eine desto größere Volksmenge beiwohne und durch ihre Spöttereien und Verhöhnung noch mehr zur Demütigung beitragen könne.

Die Nebengebäude bestanden aus einem Pferdestall und einem Anhange in Form eines Schuppens, wo man die Nacht über die Körper der Hingerichteten aufbewahrte, ehe sie begraben wurden.

In diesem sonderbaren Schuppen lernte das Haupt meiner Familie einen eigentümlichen Ehrgeiz kennen, als er diese Opfer seines grausamen Berufes, diese bleichen Körper betrachtete, denen er eine letzte und traurige Gastfreundschaft gewährte. Wenn er dadurch, dass er den Tod gab, die Geheimnisse des Lebens finden könnte! Wenn er, ehe er diesen menschlichen Körper auf den Schindanger warf, wie ihm befohlen worden, ihn untersuchte, statt zu dem tötenden Schwerte zu dem Messer greifend, das mit Fleiß durchwühlt, die Mysterien des Organismus sondierte, um daraus nützliche Erfahrungen zur Erleichterung der menschlichen Leiden und zu dem großen Kampfe des Lebens gegen den Tod, der das unwiderstehliche Gesetz der Natur ist, zu ziehen!

Dieser Gedanke bemächtigte sich ganz und gar seines Geistes, und gewiss war er in der Nacht, als er ihn zum ersten Male zur Ausführung brachte, nicht weniger erregt als André Bésale, der sich über die religiösen Skrupel seiner Zeit fortsetzte und zuerst die Ehrfurcht vor den Toten zu verletzen wagte, um die Fackel der Anatomie anzuzünden.

Seine Bemühungen blieben nicht unfruchtbar; wir haben von ihm interessante Beobachtungen über das Spiel der Muskeln und der Gelenke sowie mehrere Rezepte gegen die Affektionen dieses Teiles des Organismus aufbewahrt gefunden.

Das Studium der Anatomie und die Bereitung gewisser Hilfsmittel haben sich übrigens in meiner Familie erhalten. Keiner von uns hat sich davon zurückgezogen, und wir hatten unter anderem einen Balsam, dessen Wirksamkeit gegen die eingewurzeltsten Schmerzen anerkannt war.

Wir verkauften diese Mittel sehr teuer, ich gebe es zu, aber nur der Aristokratie und reichen Leuten, den Armen gaben wir sie umsonst; das glich sich wieder aus.

Ich kehre jetzt wieder zu Sanson de Longval zurück. Die Wohnung in dem Hause des Schandpfahls, das mitten auf einem lärmenden und bevölkerten Markte lag, umgeben von Buden, die dazu gehörten, schien ihm weder heimlich genug für seine Arbeiten, noch paßte sie für seine Gemütsstimmung.

Diese Erwägungen bestimmten Sanson von Longval, sein Haus des Schandpfahls zu verlassen, weil sein Amt ihn nicht nötigte, daselbst zu wohnen. Es gab damals in Paris ein fast wüstes Stadtviertel, das man Neu-Frankreich nannte; es ist die Stelle, die heute ein Teil des Faubourg Poissonnière einnimmt.

Nach Neu-Frankreich, neben der Sankt-Annenkirche, verlegte Charles Sanson seine Wohnung, nachdem er das Haus des Schandpfahles für sechshundert Livres, für damalige Zeit eine bedeutende Summe, vermietet hatte. Wir werden später sehen, dass meine Familie sich in diesem Viertel fest einrichtete und es nicht mehr verließ. Nur ich habe es aufgegeben, als ich nach meiner Verzichtleistung mit allen Erinnerungen an die Vergangenheit brechen wollte.

Die ersten Jahre nach der Ankunft Charles Sansons von Longval in Paris bieten nichts Bemerkenswertes.

Fast alle Todesurteile wurden durch eine Kammer des Parlaments erlassen, die sich die Kriminalkammer nannte. Die gerichtlichen Formen waren kurz und summarisch.

Wenn ein Angeklagter darauf bestand, das Verbrechen, das man ihm zur Last legte, zu leugnen, befahl der Hof meistens die vorbereitende Frage, und man suchte ihm durch schreckliche Qualen das Geständnis zu entreißen, das er verweigerte. Wenn in anderen Fällen die Schuld durch hinreichende Beweise festgestellt schien, so fügte die Kriminalkammer, indem sie das Todesurteil erließ, hinzu, dass der Verurteilte, ehe er zur Hinrichtung geführt würde, der gewöhnlichen und außergewöhnlichen Frage unterworfen werden solle, um seine Mitschuldigen, wenn er solche hätte, anzugeben.

Dieses Geschäft des Torturmeisters gehörte glücklicherweise nicht zu den Amtspflichten des Scharfrichters, es wurde von Beamten, die besonders angestellt waren, verwaltet. Einer meiner Großonkel war mit diesem Amte bekleidet, denn es scheint, dass man in meiner Familie gezwungen war, alle diese Scheußlichkeiten miteinander zu vereinigen. Er hat darüber Berichte hinterlassen, bei denen einem die Haare zu Berge stehen. Ich will ein für allemal dieses Verfahren angeben.

An dem Tage, an dem das Urteil vollzogen werden sollte, begab sich der erste Kommis der Kriminalkanzlei, von einem Huissier des Châteletplatzes begleitet, in die Torturkammer. Dies war ein großer düsterer Saal, damit man nicht deutlich die Gesichtszüge sehe, und hermetisch verschlossen, um zu verhindern, dass das Schmerzgeschrei nach außen dringe. Der Verurteilte wurde darauf eingeführt, man ließ ihn niederknien und las ihm laut das Urteil vor. Dann wurde er ergriffen, gebunden und von dem Torturmeister auf der Folterbank ausgestreckt. In diesem Augenblicke traten zwei Parlamentsräte ein, abgeordnete Kommissarien, um ihn zu befragen.

Das Verhör begann sogleich. Zwischen jeder Frage wurde eine neue Tortur bei dem Delinquenten angewandt; man presste ihm die Glieder in einem Schraubstock, man zerriss ihm das Fleisch und zerbrach ihm die Knochen. Warum sollte man auch noch diesen Körper schonen, der am Abend ein Leichnam sein würde?

Auf wiederholte Aufforderungen, die man an ihn richtete, dass er seine Mitschuldigen nennen solle, antwortete der Unglückliche meistens nur durch Schmerzgeschrei und Seufzer. Mehrere kamen bei diesen schrecklichen Qualen um; man berechnete, was ihnen noch an Kräften bleibe, um zu leiden, und manchmal täuschte man sich in dieser hässlichen Rechnung.

Die Stärksten konnten nicht dieser barbarischen Probe über eine gewisse Grenze hinaus widerstehen. Wenn blutiger Schaum auf ihre Lippen trat und der Schweiß des Todeskampfes sich auf den bleichen Schläfen zeigte, beeilte man sich, sie loszubinden und auf einer Matratze auszustrecken. Das kam fast immer beim achten spanischen Stiefel vor.

Wenn unter die Protokolle über die peinliche Frage, die wir noch haben, die schwache Hand des Gequälten nur noch unleserliche Züge setzen kann, die ebenso viel Blutflecke zu sein scheinen, so sind die Unterschriften der Richter und des Kanzleischreibers nicht von sichererer Hand. Man sieht, wie plötzlich eine Art von Fieber sich aller handelnden Personen bei dieser schrecklichen Szene bemächtigt hat, wie der, der die Fragen stellt, nicht mehr hört, der, welcher schreibt, die Feder konvulsivisch über das Papier laufen lässt, ohne Buchstaben zeichnen zu können. Die Erregung bringt bei ihnen dieselbe Wirkung hervor wie das Leiden bei dem Schlachtopfer.

So war noch zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts der letzte Tag eines Verurteilten. Abends überlieferte man dem Scharfrichter, was noch von diesem menschlichen Wesen übrig geblieben war. Der Kanzleischreiber und der Huissier begleiteten diese Trümmer bis zu dem Orte der Hinrichtung, ermahnten ihn ein letztes Mal, seine Mitschuldigen zu nennen, und zogen sich dann zurück, nachdem sie ihn feierlich gegrüßt hatten. Ich finde, dass in diesem Gruße etwas sehr Düsteres lag, noch viel schrecklicher als das »Ave, Caesar, morituri te salutant« der Märtyrer.

Nun kam die Reihe an den Scharfrichter. Er musste ein so gut begonnenes Werk der Zerstörung vollenden: mit einer Eisenbarre die Gelenkverbindungen dieser verstümmelten Glieder zerbrechen und diesen noch nicht toten Leichnam mit gegen den Himmel gerichtetem Gesichte auf ein Rad befestigen, bis er ausgeatmet hatte. Warum wurde das Gesicht gen Himmel gewandt? Geschah es, damit der Unglückliche bis dahin einen Schrei der Rache für die menschliche Grausamkeit emporsenden könne?

Ich will erst später auf die Prozesse unter Ludwig XIV. zurückgreifen und jetzt Geschehnisse erzählen, die erst kurz vor meines Ahnen Tode spielen, aber in gewissem Sinne die Fortsetzung der Geschichte des Henkers bilden.

 

Der Bettler

Sanson von Longval war immer fromm gewesen, aber in den letzten Jahren seines Lebens erfüllte er die religiösen Pflichten mit noch größerem Eifer.

Es war damals Brauch, dass etwa zwanzig Bettler beiderlei Geschlechts sowohl an der Kirchhofstür als unter der Halle des Gebäudes Platz nahmen.

Mein Ahne ging selten an diesen Bettlern vorüber, ohne ihnen ein Almosen zu reichen.

Er hatte unter denen, welchen er auf diese Weise zu Hilfe kam, einen Greis bemerkt, der ihm seinerseits, sobald er vorüberging, stets mit auffälliger Aufmerksamkeit nachblickte.

Dieser Mann konnte etwa sechzig Jahre alt sein; weder Alter noch Elend hatten die Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge angegriffen. Mit seiner hohen und kahlen, vielfach gefurchten Stirn und dem langen grauen Barte, der ihm bis auf die Brust hinabhing, konnte man ihn leicht für das Bild eines der Christenapostel halten, der aus einer der gotischen Nischen der Kirchenhalle herabgestiegen sei.

Aber mit dem Kopfe hörte auch diese Ähnlichkeit auf, und die Menschlichkeit zeigte sich von da ab in ihrem ganzen Schrecken.

Das Oberteil der Beinkleider dieses Bettlers war auf dem Schenkel zerrissen und zeigte dem öffentlichen Mitleid ein schreckliches Geschwür auf dem Beine.

Leider schien nur dieses Geschwür, das man für hundertfach tödlich halten musste, von ganz besonderer Art zu sein, denn es veränderte sich niemals, weder zum Guten noch zum Schlechten.

Während fünf Jahren, in denen Sanson von Longval den Bettler an der Tür der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle sah, fand er jedes Mal dasselbe Leiden unverändert, dasselbe bläuliche wilde Fleisch, und man hätte dabei an ein Wunder glauben können, wäre es nicht natürlicher gewesen, zu vermuten, es sei nur eine Täuschung, die der Mann mit der Unverschämtheit oder Naivität der damaligen Bettler sich täglich unverändert zu erneuern erlaubte.

Diese Überzeugung, welche den Armen in die Kategorie jener Freibeuter versetzte, die das öffentliche Mitleid durch Simulierung von Krankheiten in Anspruch nehmen, würde meinen Ahnen bestimmt haben, ihm kein Almosen mehr zu geben, wenn der Bettler nicht ein Kind bei sich gehabt hätte, dessen Fürbitte der alte Scharfrichter nichts abschlagen konnte.

Als Charles Sanson dieses Kind zum ersten Male sah, war es ungefähr zehn Jahre alt, und er war betroffen über die Schönheit und Originalität seines Gesichts.

Das Mädchen schien den orientalischen Rassen anzugehören, von denen die Zigeuner in Frankreich noch zahlreich genug waren, um den Typus zu bewahren. Sie hatte große Augen von schwarzer Samtfarbe, purpurne Lippen, reiches, leicht gelocktes Haar, die bewunderungswürdigen Zähne der Böhminnen und den äußerst lebendigen Blick, welcher diese charakterisiert. Aber ihr Teint war noch tiefdunkler, als es gewöhnlich der der Frauen von dieser Kaste ist.

Sie nannte den Bettler ihren Vater, dieser sie seine Tochter und bezeigte ihr eine große Zärtlichkeit. Sein empfindungsloses Gesicht belebte sich, wenn er den Spielen des Kindes zwischen den Gräbern des Kirchhofes mit dem Blick folgte; das Lächeln dieses Kindes rief auch ein solches auf seine Lippen, die sonst gegen jeden anderen Ausdruck als der jämmerlichen Psalmenweise, welche sie murmelten, unempfindlich zu sein schienen. In der Vorsicht, die er anwandte, das Kind zu schützen oder ihm einige Augenblicke der Ruhe an seiner Seite, den Kopf gegen seinen Schemel gestützt, zu verschaffen, mischten sich Gefühle, wie man sie nur im Herzen einer Mutter erwarten konnte.

Wenn indessen die Wunde des Bettlers den Vorzug hatte, sich in den Jahren nicht zu verändern, so hatte sein Kind doch nicht dasselbe Privilegium. Es wurde größer, und je größer, von desto auffälligerer Schönheit, die selbst unter den Lumpen, die die Jungfrau trug, hervortrat. Jedes Mal, wenn Sanson ihr begegnete, dachte er betrübt an das hässliche Los, das dem schönen Wesen bald zuteil werden musste, und er fragte sich, ob die größte Mildtätigkeit, die er für sie üben könne, nicht der Versuch sein würde, sie dem ihr vorbehaltenen elenden Schicksal zu entreißen.

Als er eines Morgens aus der Messe kam, nahm Sanson von Longval den Moment wahr, wo sich das junge Mädchen entfernt hatte, näherte sich dem Bettler, setzte ihm seine Gefühle über jenen Punkt auseinander und schlug ihm vor, ihn an einige mitleidige Personen zu weisen, die dadurch, dass sie seine Tochter in einem Erziehungshause unterbrächten, dem armen Kinde eine ehrenwerte Existenz sichern könnten.

Eine lebhafte Bewegung hatte sich in dem Gesichte des Bettlers gemalt, als mein Ahne zu ihm getreten war, aber kaum hatte dieser seinen Vorschlag auseinandergesetzt, als sich bei ihm eine lebhafte Ungeduld zu erkennen gab. Er unterbrach ihn dadurch, dass er sein Anerbieten mit großem Zorne zurückwies, und als Sanson von Longval zu sprechen fortfuhr, sagte er in einem Tone, der bewies, wie groß seine väterliche Zärtlichkeit sei:

»Wer würde mich denn noch lieben, wenn sie nicht mehr da sein würde?«

Von diesem Tage an kam das junge Mädchen nicht nur nicht an meinen Ahnen heran, um ihn um eine Gabe zu bitten, sondern, wenn er vorüberging, sah er sie auch mit spöttischem Ausdruck lächeln, und der alte Bettler drehte absichtlich den Kopf von ihm ab.

So verflossen einige Monate.

Als Sanson von Longval sich wie immer eines Morgens nach der Kirche begab, fand er den Armen und seine Gefährtin nicht mehr auf ihrem gewöhnlichen Posten, und auch die nächsten Tags bemerkte er sie nicht. Darüber erstaunt, befragte er ihre Genossen, aber diese konnten ihm keine Auskunft geben.

Einige Tage später gab der Schandpfahl der Hallen der Stadt ein Schauspiel, das großes Aufsehen machte.

Jean Bourret, der Prokurator des Königs, François le Tourneur, der Assessor, und Pierre de Manoury, der Prevot, die der Untreue in dem Prozesse eines Edelmannes namens Charles de Gonbert des Ferrières überführt worden, den sie, um sich seiner Güter zu bemächtigen, an den Galgen gebracht hatten, waren zur Landesverweisung und Ausstellung am Schandpfahle verurteilt worden.

Der Zusammenlauf des Volkes war vor den Pfeilern der Hallen unermesslich, und obgleich es gerade ein Markttag war, waren es gegen die sonstige Gewohnheit nicht gerade Landleute, die sich da in Masse eingefunden hatten. Sanson von Longval, der seinen Sohn begleitet hatte, unterschied in der Menge manche ihm bekannte Gesichter, die bewiesen, dass die »Böhmische Armee« sehr neugierig war, zu sehen, was für Figuren die, welche die Gewohnheit gehabt, andere in die fatale Laterne zu schicken, jetzt selbst darin machten.

Als Sanson sich abends zurückgezogen hatte und gerade in die Rue de Puits-d'Amour eintrat, hörte er lautes Lachen und wandte den Kopf danach um. Die Lacherin war ein schönes Mädchen, das soeben am Arme eines Taugenichtses aus einem Wirtshause kam und in dem er, obgleich es mit fast prächtiger Eleganz gekleidet war, sofort die Tochter des Bettlers von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle wiedererkannte.

Diese hatte ihrerseits auch gleich den Greis wiedererkannt, der so viele Geldstücke in ihre kleine Hand gelegt. Wie durch Zauber hörte ihre Heiterkeit auf, sie zog ihren Begleiter am Arm und verschwand mit ihm in der Finsternis der Straße Mondétour.

Eine Verbrecherhöhle im 17. Jahrhundert

Seit seiner zweiten Verheiratung verließ Charles Sanson selten nach Sonnenuntergang seine Wohnung. Sein schreckliches Amt zog ihm soviel Feindschaft unter den Übeltätern, mit denen Paris damals überschwemmt war, zu, und das Viertel, in dem er wohnte, war so öde, dass eine solche Vorsicht nur sehr vernünftig gewesen wäre, hätte er nicht noch in dem Reize, den er bei der jungen Frau fand, die sich der Tröstung seines Alters widmete, einen anderen Grund zur Häuslichkeit gehabt.

Eines Abends indessen, bald nach der Ausstellung des Prokurators und seiner Kollegen, hatte er sich in der Gasse Saint-Claude hinter den Schlachtbänken verspätet; er musste mitten in der Nacht in seine Wohnung zurückkehren und war nur von einem einzigen Knechte begleitet, der ihm mit einer Laterne voranging.

Ohne Hindernis hatten sie die Straße Saint-Eustache, die Rue Poissonnière und was man damals die Rue Sainte-Anne nannte, die nur eine Verlängerung der Rue Poissonnière war, überschritten, als bei ihrer Ankunft bei der hölzernen Brücke, die damals dazu diente, den sich durch die Felder schlängelnden Kanal zu überschreiten, da wo sich heute die Gebäude des Konservatoriums erheben, fünf oder sechs Männer aus einem Baumgarten, der den Weg begrenzte, auf sie losstürzten und sie angreifen zu wollen schienen.

Der Knecht zog sich auf seinen Herrn zurück, aber er hatte noch nicht zehn Schritte auf diesen zu getan, als ihn ein Pistolenschuss – das Pistol fing damals an, die Lieblingswaffe der Banditen zu werden – tot auf den Weg niederstreckte.

Mein Ahne hatte schon das breite kurze Schwert, das den Degen an seiner Seite ersetzt hatte, gezogen, und da er so entschlossen wie kräftig war, warf er sich den Anstürmenden entgegen, als einer von diesen, der sich hinter ihn geschlichen hatte, ihn mitten um den Körper fasste und ihn dadurch hinderte, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.

Einen Augenblick später war Sanson von Longval an den Boden geworfen, geknebelt und gebunden mit einer Geschicklichkeit, die wohl anzeigte, dass die, mit denen er zu tun hatte, auf die eine oder die andere Weise einige Erfahrung darin erlangt hatten.

Ein Mann von riesenhafter Figur, der eine Art von Pilgerkutte trug, lud ihn auf seine Schultern, und die ganze Bande setzte sich mitten durch die Felder und Baumanlagen so in Marsch, dass einige vorausgingen und die anderen den Gefangenen umgaben.

Als sie auf der Höhe der Grange-Batelière waren, deren Licht mein Ahne durch die Bäume erblickte, hielten sie mitten auf einem Felde an.

Der, welcher Sanson von Longval trug und den seine Kameraden den Coquillard4 nannten, machte jetzt einen Sack los, den er wie ein Bandelier über der Schulter getragen hatte; er zog ihn dem Gefangenen über den Kopf und befestigte ihn gut um seinen Hals, so dass er nun auch nichts mehr sehen konnte, nachdem er schon stumm gemacht worden war.

Die Banditen hatten nur eine Sorge: ihren Gefangenen irrezuführen.

Mochte dem Coquillard die Last auf seinen Schultern zu schwer werden oder man einen Weg bei bewohnten Häusern zurückzulegen haben, er löste den Strick, der die Beine Sanson von Longvals zusammengehalten hatte, nahm den einen Arm des alten Scharfrichters, einer seiner Gefährten bemächtigte sich des anderen, und so zwangen sie ihn, zwischen ihnen zu gehen.

Die Unterhaltung seiner Führer hörte plötzlich auf, und sie bemühten sich, das Geräusch ihrer Schritte zu unterdrücken; Sanson von Longval begriff, dass sie sich an einem bewohnten Orte befinden müssten. So gingen sie etwa hundert Schritte fort, dann hielten sie an, und mein Ahne spürte durch die schlechte Leinwand, die ihm als Maske diente, den scharfen und üblen Geruch von heißem Fett, der den Pariser Kneipen eigen ist.

Man flüsterte um ihn, er hörte das dumpfe Knarren einer Falltür und fast zugleich einen tumultuarischen Lärm von Gesang, Geschrei und Lachen, der aus der Erde heraufzudringen schien.

Seine Führer ließen ihn eine Leiter hinabsteigen. Die Worte derer, denen er sich näherte, wurden immer bestimmter; das Geschrei: »Der Henker! Der Henker!« und ironische Beifallsrufe vereinigten sich zu einem höllischen Konzert, aber in dem Augenblick, wo der Fuß des Scharfrichters die letzte Leiterstufe verließ, befahl eine Stimme Schweigen, und der Lärm hörte sofort auf. Dieselbe Stimme wies darauf diejenigen, welche »den Herrn Beamten des Königs« führten, an, die Fesseln und den Knebel abzunehmen, was auch sogleich geschah.

Aus der großen Vorsicht, die man bei ihm gebrauchte, hatte Sanson von Longval geschlossen, dass man ihm nicht an das Leben wolle; dennoch erkannte er, als er die Augen frei hatte, dass er sich mitten in einer Gesellschaft der furchtbarsten Banditen der Stadt befinde.

Als der Lärm, den die Gegenwart des Henkers hervorbrachte, aufgehört hatte, nahmen alle diese Personen ihre unterbrochenen Beschäftigungen wieder auf. Die einen spielten, andere tranken, einige, die mit leiser Stimme zueinander sprachen, schienen irgendwelche Unternehmungen zu verabreden. Die Ältesten und Jüngsten beschäftigten sich mit den Mädchen, großen und starken Frauenzimmern mit blitzenden Augen und kühnen Gebärden, von deren Gesichtern man bloß das Profil zu sehen brauchte, um ihnen den Platz, der ihnen in der Gesellschaft zukam, anweisen zu können.

 

Sanson von Longval wusste, wie nützlich es ihm sein würde, nicht eingeschüchtert zu erscheinen; er war entschlossen, zuerst das Wort zu ergreifen und die Leute zu fragen, was sie von ihm wollten, als ein Greis, den er noch nicht bemerkt hatte und der ganz in eine Partie, die er mit einem seiner Gefährten spielte, vertieft war, die Absicht des Gefangenen zu erraten schien und ihm durch einen Wink mit der Hand Schweigen und Geduld gebot.

Sanson von Longval glaubte seine Zeit nicht besser anwenden zu können, als sich diesen Greis zu betrachten, der, nach der Achtung zu urteilen, die ihm alle Anwesenden bezeugten, die erste Rolle an diesem Orte spielte.

Es war eine sonderbare, fast fantastische Figur.

Er schien bereits die letzte Grenze des Menschenalters erreicht zu haben; seine Haut war fahl, verschrumpft und mit Runzeln bedeckt, die keinen anderen Zweck zu haben schienen, als einen unbeschreiblichen Eindruck zu machen.

Das Spiel hatte ihn so erhitzt, dass er, unbesorgt darüber, seinen kahlen Schädel zu entblößen, seine Perücke abgenommen hatte, die nun ein großes rothaariges Mädchen, das neben ihm saß, nicht ohne eine gewisse Ehrerbietigkeit wie einen Falken auf ihrer Hand trug. Er war mit einem dunkelgelben Wamse und ebensolchen Hosen bekleidet und trug hohe Stiefel von Büffelleder mit silbernen Sporen. Der Schnitt seiner Kleider war ein wenig altmodisch, ihre Stickerei glanzlos und schadhaft, aber er trug sie mit einem Stolze, der mit der geborgten Eleganz seiner Genossen in großem Widerspruche stand, und in der Art und Weise, wie er den langen Degen mit eisernem Korbe, der am Bandeliere hing, zwischen seinen Beinen hielt, lag eine Leichtigkeit, die mehr an den Edelmann als an den Banditen erinnerte.

Das Glück war ihm nicht günstig; er verlor und warf die Karten mit einem gaskognischen Fluche, bei dem mein Ahne erzitterte, weit von sich.

Das Gesicht des Greises hatte keine Erinnerung in ihm erweckt, aber diesen Fluch glaubte er schon oftmals von einer Stimme gehört zu haben, die sonderbarerweise derjenigen ähnelte, die ihn soeben ausgestoßen hatte.

Indessen war der alte Spieler auf die Tonne gestiegen, die ihm soeben noch als Tisch gedient hatte; durch eine Handbewegung rief er alle Anwesenden um sich zusammen, und dann wandte er sich an Sanson von Longval mit affektierter Höflichkeit, und indem er es vermied, sich des Diebsidioms, in dem sich seine Genossen ausdrückten, zu bedienen, fragte er ihn, ob er wirklich der Scharfrichter der Stadt Paris sei.

»Ja,« erwiderte mein Ahne in rauem Tone. »Was wollen Sie von mir? Ihresgleichen vermeidet mich gewöhnlich eher, als es mich sucht.«

Bei dieser Antwort verzog sich der Mund des Greises zu einer Grimasse, die zweifellos ein Lächeln vorstellen sollte, und er erwiderte mit liebenswürdiger Miene:

»Cap de Dions! Ich schwöre Ihnen, mein lieber Herr, dass Sie sich in uns täuschen.«

»Nun kurz, was wünschen Sie? Warum haben Sie mich zum Gefangenen gemacht und hierher geführt? Warum haben Sie meinen Knecht ermordet?«

»Das sind Kleinigkeiten von geringer Wichtigkeit; man macht keine Omelette, ohne Eier zu zerschlagen. Kommen wir direkt zu dem, mein lieber Herr, was uns beschäftigen soll. Wir bedurften Ihrer Dienste, wir hätten sie wahrscheinlich vergebens erbeten und haben es daher so eingerichtet, dass wir sie fordern können; haben wir das nicht gut gemacht?«

Sanson von Longval machte nur eine Gebärde der Nichtachtung.

»Es gibt hier einen Menschen, der zum Tode verurteilt ist,« fuhr der Greis mit seiner ironischen Kaltblütigkeit fort, »und wir wollen nicht in Ihre Rechte und Privilegien eingreifen. Man wird Ihnen diesen Mann überliefern, und wir hoffen, dass Sie uns nicht die Ehre verweigern werden, Zeugen Ihrer Geschicklichkeit sein zu dürfen.«

»Ein Verurteilter?« rief Sanson von Longval, seinerseits in Lachen ausbrechend; »ein Verurteilter? Durch wen ist er verurteilt? Durch das Châtelet, die Kriminalkammer oder den Herrn Polizeileutnant? Sie, der Sie zu mir sprechen, sind wahrscheinlich der Schreiber des Gerichtshofes, und ohne Zweifel werden Sie mir auch die Sentenz in aller Form vorlegen können! Wo ist die Prozedur, wo der Befehl zur Hinrichtung, damit ich sogleich meine Leute beauftragen kann, die Stricke zu schmieren oder das Schwert zu schleifen?«

»Mein Herr, Sie sollten überzeugt sein, dass jeder Widerstand unnütz ist. Diese Herren haben beschlossen, sich das Vergnügen einer Hinrichtung nach allen Regeln zu machen, bei der es an nichts fehlen soll, selbst nicht an Ihnen, und wenn Sie wüssten, bis wie weit dieselben ihren Eigensinn zu treiben pflegen, so würden Sie uns mit Ihren überflüssigen Protestationen verschonen. Übrigens, um Ihr Gewissen ganz vorwurfsfrei zu lassen, können sowohl ich wie meine Kameraden Ihnen versichern, dass der Mann, an dem Sie Ihre Talente ausüben sollen, ebenso schuldig ist, als jemals einer am Ende des hübschen Strickes gehangen hat, von dem Sie eben zu uns sprachen.«

»Eine schöne Kaution, die Sie mir da stellen!« sagte Sanson von Longval barsch. »Mein Schwert ist, wie Sie wissen müssen, das Schwert des Gesetzes. Ich kann es gegen Sie ziehen, aber nie wird es für Sie seine Scheide verlassen. Wenn Sie Morde zu vollziehen haben, so nehmen Sie Ihre Dolche zu Hilfe; diese werden keine Veranlassung haben, sich zu weigern.«

Ein Gemurmel des Zornes durchlief die Versammlung; der Greis machte eine Bewegung, und alles schwieg wieder still.

Sanson von Longval begann sich über die Langmut zu wundern, mit welcher der Greis seine Beleidigungen ertrug, und die Vermutung stieg in ihm auf, dass jene einen geheimnisvollen Zweck verdecke.

Zwei der Leute, über die er zu gebieten schien, traten aus der Gruppe auf eine enorme Tonne zu, die auf einem Untersatze lag; sie stießen gegen den Boden, der sich nun wie eine Tür drehte. Mein Ahne vernahm ein Stöhnen, das anzeigte, dieser Käfig neuerer Art sei bewohnt, und wirklich zogen die Banditen einen gefesselten Mann heraus und schleppten ihn an den Füßen vor diesen eigentümlichen Gerichtshof.

Mein Ahne hatte Mühe, die Gesichtszüge des Gefangenen zu unterscheiden.

Der Greis stieg nun von seinem Sitze nieder, nahm eine der Lampen samt der Kette, mit der sie befestigt war, und indem er dieselbe dem Unglücklichen vor das Gesicht hielt, sagte er zu dem Scharfrichter:

»Kennen Sie ihn?«

Als Sanson von Longval ihm antwortete, dass er diesen armen Menschen schon seit mehreren Jahren unter der Halle von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle gesehen habe, verzog ein seltsames Lächeln die Lippen des Banditenchefs.

In der Tat war es der Bettler, dessen Tochter mein Ahne wenige Tage zuvor begegnet war. Aber er war sehr verändert: seine Augen waren von Tränen rot, und diese Tränen mussten so reichlich geflossen sein, dass sie über seine Wangen Furchen gezogen zu haben schienen. Seine Haltung war gebeugt, und von Zeit zu Zeit zitterten alle seine Glieder unter einem konvulsivischen Schauder, dagegen war das Geschwür auf seinem Beine vollständig verschwunden, und man bemerkte an der Stelle, wo es sich so lange gezeigt hatte, auch nicht eine Spur davon.

Seine rollenden Augen richteten sich mit sichtlicher Angst auf die Gesellschaft und versuchten das Gedränge derer, die ihn im Kreise umgaben, zu durchdringen. Als er die Gestalt, die er zu suchen schien, nicht erblickte, ließ er seinen Kopf auf die Brust niederfallen.