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Der Bahnwärter

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»Ob ich verurtheilt werde oder nicht,« rief er aus, »Gott möge Sie segnen; ja ja, gnädiger Herr, suchen Sie einem Elenden diese unschätzbare Wohlthat zu erweisen! Ich will niederknien und beten und den Himmel bestürmen, damit er ihren edelmüthigen Worten eine unwiderstehliche Kraft verleihe! Dank, tausendmal Dank für ihre Güte!«

Und wirklich kniete er auf den Boden nieder und erhob die gefalteten Hände zum Himmel.

An der Thür der Zelle blieb der Herr noch einmal stehn:

»Ich dachte erst am Nachmittag nach Bolderhout zu fahren,« sagte er. »Um aber ihren Schmerz soviel als möglich zu verkürzen, will ich schon diesen Morgen hinreisen gleich nach meinem Besuch beim Richter. Seien Sie deßhalb getrost, Sie werden jedenfalls noch heute von ihrer Familie hören.«

Mit diesen Werten verließ er die Zelle, die der Gefangenenwärter gleich hinter ihm verschloß.

IV

An demselben Vormittag verließ eine unglückliche Familie das Dorf Bolderhout.

Marianne, die muthige Frau des Bahnwärters, ging voraus in dem Feldweg, das kleine Bärbchen auf dem Arm; der kleine Heinrich lief an ihrer Seite, und dann folgte die blinde Großmutter, von ihrem Enkel und Freunde Alexander geführt. Alle waren mit Paketen beladen, als ob sie eine weite Reise vor sich sähen.

Sie hatten wohl während sieben langer Tage so viel gejammert, und geweint, daß der Quell der Thränen versiegt war, denn, obwohl gebeugt durch den Schmerz, blieben doch ihre Augen trocken und in trübem Schweigen, zogen sie langsam weiter.

Marianne allein wandte sich noch zuweilen um nach dem Dorfe in dessen Richtung ihr unstäter Blick einen geliebten Ort zu suchen schien . . . Dort, an der Bahn, stand der Waggon, die Wiege ihres Bärbchen! . . . Das Paradies, in dem sie die schönsten Jahre ihres Lebens in Seelenfrieden und unsäglichem Glück zugebracht! Verloren war es für sie, verloren für immer!

Die Direction der Eisenbahn hatte wirklich schon einen neuen Bahnwärter angestellt. Obgleich dieser gleichfalls verheirathet war, hatte er der Frau seines Vorgängers aus Mitleiden angeboten, mit ihren Kindern und der Blinden in dem Waggon wohnen zu bleiben, bis sie etwas Bestimmtes über das Schicksal ihres Mannes vernehmen würde. Anfangs hatte sie seinen edelmüthigen Vorschlag dankbar angenommen, bald aber wurde es ihr klar, daß sie nicht länger in Bolderhout bleiben konnten. Durste sie sich doch nirgendwo sehen lassen, ohne durch die Dorfbewohner gekränkt zu werden. Ihr guter Alexander mußte anhören, wie seine ehemaligen Schulkameraden ihm das Scheltworte »Mörder!« nachriefen, und der arme Junge hatte seit drei Tagen den Wagen nicht mehr zu verlassen gewagt. Sein Lehrer allein war gut und freundlich gegen ihn geblieben; um sich bei ihm einigen Trost und Rath zu holen, mußte Alexander die Dunkelheit abwarten und auf abgelegenen Wegen zu ihm schleichen.

In dem Gedanken, daß der Notar sterben würde und daß Johann Verhelft durch Pflichtversäumniß seinen Tod verschuldet habe, fanden die Leute einen scheinbar gerechtfertigten Grund seine Frau und Kinder zu, hassen, doch würden sie dieselben nicht so mitleidlos verfolgt haben, wenn nicht der älteste Sohn des Notars durch seine unaufhörlichen Anschuldigungen selbst die Besten gegen sie eingenommen und erhitzt hätte.

Marianne beschloß deßhalb Bolderhout zu verlassen und mit den Ihrigen nach der Stadt überzusiedeln. Was sie da thun wollte, wußte sie noch nicht. Vielleicht trieb ein unbestimmtes und unwiderstehliches Sehnen, näher bei ihrem Mann zu sein, sie zu diesem wichtigen Entschluß. Sie dachte ein kleines Häuschen oder ein paar Stuben in der Vorstadt zu miethen, ihre geringen Werthsachen und einigen Hausrath zu verkaufen und, wenn es sein müßte, als Tagelöhnerin sich zu verdingen, damit sie durch arbeiten und sparen ihrer alten Schwiegermutter und ihren Kindern das tägliche Brod erwerbe bis zu besseren Zeiten.

Denn daß ihr Mann bald in Freiheit gesetzt werden würde, glaubte sie nicht mehr. Ihre vergeblichen Versuche, ihn besuchen zu dürfen, oder Etwas von ihm zu hören, seine sofortige Absetzung als Bahnwärter, der Haß und die unaufhörlichen Verfolgungen der Leute von Bolderhout, das Alles hatte ihr die Ueberzeugung eingeprägt, daß ihr armer Mann, trotz seiner Unschuld, zu einer langwierigen Haft verurtheilt werden sollte.

So schritt sie schweigend den schlüpfrigen Feldweg dahin.

Die Großmutter und die Kinder, welche ihre hoffnungslose Ueberzeugung nicht theilten, sprachen hie und da einen tröstlichen Gedanken aus, Marianne antwortete nur selten und auch dann nur in kurzen Worten darauf, aus Furcht sie von Neuem zu betrüben.

Nachdem sie eine gute Strecke so weiter gegangen, sagte Alexander mit gedämpfter Stimme zu der Blinden.

»Liebes Großmütterchen, Du lachst ja so freundlich; woran denkst Du denn?«

Die alte Frau verzögerte ihren-Schritt und antwortete:

»Laßt uns zusammen etwas zurück bleiben, Alexander, deine Mutter sieht Alles schwarz. Sie glaubt mir nicht, und doch bin ich ganz sicher, daß mein schöner Traum heute Nacht von Gott gesandt war.«

»Ach, Großmutter, denk doch so Etwas nicht, das kann ja nicht sein.«

»Wie, das kann nicht sein? Noch so jung und schon so ungläubig? Die Welt ist verdorben, sie wird nicht lange mehr fortbestehn, Kind! Sieh, ich will es Dir nur noch einmal erzählen; ich lag zu Bette in unserm Waggon, während des Betens, die Hände gefalten, war ich eingeschlafen. Da träumte mir, ich säße in einer großen Kirche; ich hörte Musik, die Orgel wurde gespielt und man sang so schön, daß mir das Herz schlug vor Freude. Was dann noch weiter um mich vorging, weiß ich: nicht genau, nur daß ich niederkniete auf der Erde und mit Thränen in den Augen und zum Himmel erhabenen Händen ausrief:

»O Gott, liebreicher Jesus, durch dein bitt’res Leiden und dein heiliges Blut, erhöre das Gebet einer armen blinden Mutter! Erbarme dich ihres unschuldigen Sohnes! Erlöse ihn aus dem Gefängnisse, damit deine Gerechtigkeit offenbar werde! Gepriesen sei dein Name in Ewigkeit!« —

Da sah ich plötzlich in den Weihrauchwolken am Altar – ja Alexander, wenn ich träume, sehe ich mit so klaren Augen wie ins meiner Jugend – ich sah einen strahlenden Glanz und mitten darin einen Engel mit goldenen Flügeln; mit einem himmlischen Lächeln trat er auf mich zu, da ich bebte vor Staunen und Hoffnung. Der schöne Engel faßte meine Hand und sagte: Steh auf, und sei getrost; Gott hat dein Gebet erhört, in drei Tagen wirst du deinen freigesprochenen Sohn in die Arme schließen.« Ich stieß einen Freudenschrei aus und erwachte . . . Nun, Alexander, glaubst Du noch immer mit Deiner Mutter, daß dieses nächtliche Gesicht nichts war als eine eitle Täuschung meiner erregten Sinne? Glaubst Du nicht, daß es sich bewahrheiten, daß es in Erfüllung gehn werde?«

»Ach, liebe Großmutter, ich möchte es zu gern glauben,denn es ist ja wunderschön, rief der Knabe traurig, »aber was der Schullehrer mir gesagt hat, läßt mich anders darüber denken.«

»Was hat er Dir denn gesagt?«

»Nach seiner Ansicht kann der Vater nicht frei kommen, bevor der Gerichtshof versammelt gewesen und ein Urtheil gesprochen hat, und darüber können noch Wochen, ja Monate vergehen und mein armer Vater muß so lange im Gefängniß bleiben. Ach, daß wir doch endlich Nachricht von ihm hätten! Wer weiß, ob er nicht gar krank vor Kummer ist!«

»Fängst du schon wieder zu weinen an, Alexander?«

»Ich weine nicht; Großmutter, aber es ist doch zu schrecklich.«

»Ja, Kind, es ist schrecklich und unmenschlich; man muß Deinen Vater für einen schlimmen Verbrecher halten, da man uns so unerbittlich hindert, ihn zu besuchen und zu trösten, ja da wir nicht einmal erfahren können, ob er gesund oder krank ist. Ach Kind, ich fange auch zuweilen zu denken an, daß er am Ende doch ungerecht verurtheilt werden wird . . . Du weinst wieder, Alexander? Dann sage ich nichts mehr!«

Marianne, welche ihre Schritte verzögert hatte, sagte jetzt halb verweisend zu der Blinden:

»Mutter, Mutter, weßhalb läßt Du unsern Alexander nicht in Ruhe? Hat das Kind nicht genug an seinem eignen Kammer? Kommt beide frisch voran, und schweigt lieber still, wir wissen ja doch nicht viel Tröstliches zu erzählen.«

»Nun, nun, ich will etwas rascher gehen,« sagte die alte Frau; »aber so stumm kann ich mein bitteres Weh nicht ertragen. Sprechen erleichtert das Herz.«

»Weine nicht mehr, lieber Junge,« sagte Marianne; »sobald wir in der Stadt ein Haus gefunden haben, wo wir schlafen können, will ich mich auf den Lauf machen, der Meistergesell der Schmiedewerkstatt, der immer ein Freund Deines Vaters war, soll mir helfen. Wir werden nicht ruhn noch rasten, bis man mir erlaubt, Deinen Vater zu besuchen. Wenn ich ihn gesund finde und ihm Trost bringen kann, so ist das ein großes Glück in unserm Leid. Dann kenne ich noch einen Herrn, der gegenwärtig war, als Dein Vater aus Selbstaufopferung seine linke Hand verlor; der hat ihn damals sehr gelobt und ihm, vorkommenden Falls, seinen besonderen Schutz versprochen. Zu ihm und zu noch einigen Andern will ich gehen, will Himmel und Erde in Bewegung setzen, um zu Deinem Vater zu gelangen. Tröste Dich mit der Hoffnung, daß es gelingen wird und komm jetzt nur flink weiter, ohne viel zu sprechen. Und Du Mutter, halte Dich auch etwas ruhig, es hilft ja doch zu nichts wenn Du die Kinder weinen machst. Gott ist der Herr, und wenn das Kreuz, welches er uns auf die Schultern legt, auch noch so schwer und schmerzlich ist, wir müssen es mit Ergebung tragen. Das Klagen ändert nichts an unserm traurigen Schicksal. Alles hängt von seinem heiligen Willen ab. Schweigen und in der Stille beten, das ist das beste, was wir thun können.«

Von jetzt an wurde nur wenig mehr gesprochen, sie gingen so eilig weiter, als der unsichere Schritt der Blinden es gestattete.

Als sie die Landstraße erreichten und an einem großen Gehöfte vorüber kamen, sagte Marianne:

 

»Hier wollen wir einkehren, um etwas Milch für Bärbchen zu bekommen; die Kinder werden da ein Wenig ausruhen können.«

Schüchtern traten sie Alle in den Hof und trugen der Pächterin ihr Anliegen vor.

Durch den Anblick der Kinder und der blinden Frau zum Mitleiden bewegt, ließ diese sie in’s Hans treten, gab ihnen Stühle zum Ausruhen und brachte mit freundlichen Worten eine Kanne warme Milch.

Jetzt aber trat der Pächter in’s Haus und betrachtete die arme Familie mit strengen, mißtranischen Blicken.

»Seid Ihr nicht die Frau des Bahnwärters Johann Verhelft?« fragte er.

»Ja, so ist es,« antwortete Marianne mit einem Seufzer.

»So, so, Ihr seid also die Frau des pflichtvergessenen Beamten, der den Notarius von Bolderhout und seinen Kutscher auf dem Gewissen hat?« brummte er mit einer Gebärde des Abscheus. »Ihr und Eure Kinder thun mir leid, Ihr könnt nicht davor, aber Euer Mann wird hoffentlich gestraft werden, wie er es verdient. Man ist ja heutigen Tags mit all’ den Bahnen seines Lebens nicht sicher, wenn die Leute nicht aufpassen wollen, ganze Züge mit hunderten von Reisenden gehn auf diese Weise zu Grunde. Und schließlich kommt es doch auf Eins hinaus, ob man aus Pflichtversäumniß die Menschen mordet, oder absichtlich . . . Meine Worte betrüben Euch, Frau, das begreife ich wohl, aber es lag mir auf dem Herzen und mußte heraus! Lebt wohl, eßt und trinkt, aber bleibt nicht länger in meinem Hause als nöthig.«

Unter dem Brummen dieser letzten Wort trat er in Eben Hof zurück und verschwand im Stall.«

Sein scharfer Tadel und die entmuthigende Prophezeihung hatten der Großmutter und den Kindern Thränen in die Augen gebracht; Marianne allein verbarg ihre Scham. Obgleich die Pächterin sie zu trösten und beruhigen suchte, stand sie auf und sagte:

»Wir danken herzlich für Eure Güte . . . Kommt Kinder, wir wollen unsern Kreuzweg nur weiter fortsetzen. Weint nicht und laßt den Muth nicht sinken; sind auch die Menschen hart und ungerecht gegen Euren armen Vater, Gott im Himmel weiß doch, daß er unschuldig ist.«

Obwohl sie Muth und Stärke gezeigt, mußte ihr Herz doch von Weh zerrissen sein, denn sobald sie wieder auf der Landstraße waren, trocknete sie mehr als einmal die Augen, und das krampfhafte Zucken ihrer Züge bezeugte genugsam den innern Kampf.

Wenige Minuten später sah sie in der Ferne einen offenen Wagen herankommen, auf den sie mit besonderer Aufmerksamkeit die Augen richtete. Warum? Das wußte sie selbst nicht, doch schien ihr mehr und mehr, daß sie den darin sitzenden Herrn schon früher gesehn haben müsse.

Als der Wagen bis auf wenig Schritte sich genähert hatte, hielt er plötzlich an, der Herr sprang heraus und kam auf sie zu. Er schien noch jung zu sein, und auf seinem wohlwollenden Gesichte glänzte ein Lächeln freudiger Ueberraschung.

»Sie sind doch die Bahnwärterfrau aus Bolderhout?« fragte er.

»Jawohl, gnädiger Herr, Ihnen zu dienen,« war die Antwort.

»Kommen Sie jetzt vom Dorfe?«

»Wir haben es diesen Morgen verlassen.«

»Wissen Sie, wie es dem Notarius geht?«

»Schlecht, Herr, sehr schlecht. Seit dem Unglücksfall ist er noch immer ohne Besinnung und Sprache. Gestern Abend schien er etwas zu Verstand zu kommen und die Aerzte glaubten wohl deßhalb, daß es zu Ende ginge, denn er wurde sogleich mit den h. Sterbesakramenten versehen.«

»Dieser traurige Todesfall ist wirklich zu beklagen.«

»Ach, leider nur zu sehr!«

»Für Ihren Mann vor Allen. Wenn der Notar genesen wäre, dann hätte er Aufklärung geben können, wie der Wagen auf die Bahn gerathen, und vielleicht wäre seine Unschuld dadurch an den Tag gekommen.«

»Und jetzt? wird jetzt mein armer Sohn verurtheilt werden?« rief die blinde Großmutter.

»Das weiß ich nicht; die Sache macht so großes Aufsehen, daß der königliche Staatsanwalt sie selbst übernommen hat. Ich bin sein Stellvertreter, Sie kennen mich wohl noch; ich habe an dem Unglückstage versucht, Sie und die Kinder zu trösten.«

»Ja gewiß, gnädiger Herr, Gott wolle es Ihnen vergelten. Ach, Sie sind ja auch vom Gericht, gibt es denn keine Möglichkeit, zu meinem armen Mann zu gelangen? Um Gotteswillen, haben Sie Erbarmen mit uns!«

»Eben fahre ich nach Bolderhout, und wollte Ihnen dort sagen, daß Sie Ihren Mann im Gefängnisse besuchen dürfen.«

Ungläubig blickte Marianne zu ihm auf.

»Ihn besuchen dürfen? in seinem Gefängnisse?« flüsterte sie, »ach ich habe den Herrn wohl nicht richtig verstanden!«

»Gewiß, gewiß, gehn Sie nur hin, Sie werden sofort zugelassen werden; ich habe mit dem Direktor des Gefangenenhauses selbst gesprochen, der Portier hat Befehl, Sie ohne weiteres einzulassen und anzumelden.

Marianne preßte unter lauten Freuderufen die Kinder an ihr Herz und jubelte wie außer sich über das unerwartete Glück, das der Himmel in seiner Barmherzigkeit ihr zugesandt. Sie sollten also den Vater sehn, ihn umarmen, ihn küssen und durch ihre Liebeserweise ihm Trost und Stärke bringen.

Den Staatsanwaltsvertreter überschüttete sie mit Dank, sie nannte ihn ihren Wohlthäter, Retter, Engel, und fragte endlich, wann sie denn zum Gefängniß gehn dürften.

»Noch heute, sogleich wenn Sie wollen,« erwiderte er.

»Ach Gott gebe daß ich ihn gesund finde!«

»Er ist gesund und wohl.«

»Haben Sie ihn denn gesehn, gnädiger Herr!«

»Jawohl, noch diesen Morgen.«

»Mutter! Kinder, der Herr hat den Vater gesehn, er ist gesund und wir dürfen zu ihm! O welch’ gute Nachrichten! welches Glück, welches Glück!l«

Der Herr hatte inzwischen seine Brieftasche hervorgeholt und schrieb darin mit Bleistift einige Worte, reichte der dankerfüllten Frau dann ein Kärtchen und sagte:

»Wissen Sie, wo das Gefangenenhaus ist?«

»O ja, ich bin in der Stadt geboren und habe lange dort gelebt.«

»Gut denn, Sie schellen nur an der Pforte und zeigen dieses Kärtchen dem Mann, der öffnen wird; der ruft dann sofort einen anderen Wärter, welcher Sie in die Zelle Ihres Mannes führt. Seien Sie nun guten Muthes und hoffen, daß wenn er unschuldig ist, wie ich geneigt bin zu glauben, er auch vom Gericht wird freigesprochen werden.«

Daraus winkte er seinen Wagen heran und stieg ein. Während viele dankbare und freudige Gesichter ihm nachsahen und er die armen Leute noch einmal grüßte, rief er seinem Kutscher zu:

»Treib die Pferde an, nach Bolderhout mit aller Eile! Ich fahre zuerst zum Schlosse der Frau von Hövell!«

Lange saß er in tiefes Nachdenken versunken; es ging ihm durch den Kopf, wie das Gericht um den Schuldigen zu strafen, hin und wieder in der Lage sei, auch den Unschuldigen leiden zu lassen. Immer mehr gewann der Gedanke Raum, daß Johann Verhelft die Wahrheit gesagt und die Barrieren wirklich geschlossen habe . . . aber wer konnte es beweisen? Keine anderen Zeugen hätte es in der ganzen Welt gegeben als die beiden Verunglückten, und von diesen war ja der Kutscher gleich aus der Stelle todt geblieben, während, nach dem letzten Bericht zu schließen, der Notar gegenwärtig wohl auch schon verschieden sein mochte. Bei dieser trübseligen Sachlage könnte es allerdings geschehen, daß der arme Bahnwärter, schuldig oder unschuldig, durch das Gericht verurtheilt würde.

Der Gedanke quälte ihn; er wußte selbst nicht wie es kam, daß er solches Interesse für den Bahnwärter empfand, doch hatte dessen ganzes Wesen ihn gleich für sich eingenommen, und dazu gesellte sich dann das Mitleiden mit den armen Kindern, der blinden Großmutter, der verhältnißmäßig so gefaßten Frau.

Eben kam, bei der Biegung des Weges, ein Einspänner herangefahren, grüßend neigte der Staatsanwaltsvertreter sich gegen den Herrn, der darin saß; beide Fahrzeuge blieben stehn.

Guten Tag, Herr Bürgermeister? Wohin soll die Reise, und vor Allem, wie geht es dem Notar? Lebt er noch?

»Nun gewiß, er lebt und ist viel besser seit diesen Morgen.«

»Besser?«

»Ja viel besser.«

»Ist denn die Besinnung zurückgekehrt?«

»Das scheint wohl, denn er hat etwas gesprochen und eine Frau und Kinder erkannt.«

»Gott sei Dank, da werden wir ja auch erfahren, wie damals das Unglück geschehen ist; hat man ihn deßwegen schon befragt, Herr Bürgermeister?«

»Das weiß ich Ihnen nicht zu sagen.«

»Nun, ich werde es bald erfahren! Glückliche Reise Herr Bürgermeister!«

Und beide Wagen setzten sich wieder in Bewegung.

»Direkt zum Hause des Herrn Vereichen,« rief der Staatsanwaltsgehilfe seinem Kutscher zu.

Eine halbe Stunde später stieg er aus vor dem hübschen Hause des Notars und fragte den Diener, der ihm die Thür öffnete, ob er den Herrn Friedrich für einen Augenblick sprechen könne.

Der Diener, welcher ihn als Freund des Hauses kannte, führte ihn ohne weitere Umstände in den Garten und sagte:

»Dort hinten, unter der Traueresche, müssen Sie den jungen Herrn finden, wenigstens sind es noch nicht fünf Minuten, daß er dort auf der Bank saß.

Und wirklich sah er, nachdem er das Ende des lang sich hinschlängelnden Weges erreicht hatte, den ältesten Sohn des Notars in der Laube sitzen, unter den herabhängenden Zweigen einer Esche.

Der junge Mann schien in tiefe Gedanken versunken, sobald aber das Geräusch der Fußtritte ihm die Annäherung eines Menschen verrieth, sprang er auf und reichte seinem Gaste freundlich die Hand indem er ausrief:

»Guten Tag, Herr Masmans, heute gibt es gute Nachrichten!«

»Also bin ich recht berichtet? es geht besser mit Ihrem Vater?«

»Viel besser, Gott sei Dank! er wird genesen, sagt der Doctor. Kommen Sie, Herr Masmans, setzen Sie sich zu mir in die Laube, wir können dann behaglich sprechen, mein Vater schläft augenblicklich.«

Nachdem er Platz genommen, fragte der Staatsanwaltsgehilfe:

»Man hat mir erzählt, daß gestern Abend eiligst der Priester zu Ihrem Vater gerufen ist, das scheint also nicht wahr zu sein?«

»Doch, es verhält sich so. Seit dem schrecklichen Unglück hatte mein Vater bewegungslos dagelegen; die Aerzte glaubten, daß das Gehirn verletzt sei und er sanft entschlummern würde, ohne aus seiner tiefen Ohnmacht zu erwachen. Gestern aber schien er mit einem Mal zu sich zu kommen. Erblickte umher, sah uns verwirrt an, wie Jemand, dem die Besinnung wiederkehrt. Der Arzt sprach von einer äußersten Krisis und ließ sogleich den Geistlichen rufen: Wir verließen das Zimmer und durften erst längere Zeit nachher wieder dem Krankenbette nahen. Mein Vater lag jetzt mit weitgeöffneten Augen da und obwohl sein Blick noch wirr und unstät war, so leuchtete von Zeit zu Zeit doch etwas darin wie ein Funken Verstand. Endlich begann er auch, undeutliche Worte zu murmeln, es schien mir sogar einmal, daß er meinen Namen stammle. Der Arzt hatte uns aber verboten zu sprechen oder überhaupt nur das geringste Geräusch zu machen. Es war leicht zu bemerken, daß der Kranke noch immer sehr schwer im Kopf und sehr schläfrig war. Um Mitternacht fiel er denn auch in einen tiefen Schlaf, welcher jetzt noch andauert. Der Arzt hat lange an seinem Bette gewacht und uns dann voller Freude die Versicherung gegeben, daß dieses seit dem Unglücksfall der erste natürliche Schlaf meines Vaters sei. Er behauptet ferner, daß der Kranke beim Erwachten viel klareren Geistes sein, und uns Alle ohne Zweifel erkennen werde.«

»Ihr Vater hat also noch nicht deutlich gesprochen,« sagte der junge Beamte gedankenvoll, »und Sie haben noch keine Frage an ihn richten können?«

»Was soll ich ihn fragen? Sie betonen das so eigentümlich!«

»Jawohl, Friedrich, denn es hängt viel davon ab, was er antworten wird; ist er doch der einzige Zeuge des Eisenbahnunglücks, er allein kann erklären, wie es sich zugetragen hat.«

»Aber das ist ja klar wie der Tag!« rief der junge Mann, »der Bahnwärter hat einfach versäumt, die Barrieren zu schließen.«

»Das ist nicht sicher.«

»Wie so, nicht sicher?«

»Bedenken Sie doch, Friedrich, daß hier Ehre und Freiheit eines armen Familienvaters auf dem Spiele stehen; in solchen Fällen sollte man nicht urtheilen, ohne ganz bestimmte Beweise in Händen zu haben.«

Diese Bemerkung schien den Jüngling zu verstimmen und ihn ärgerlich zu machen; verwundert rief er aus:

»Sie vertheidigen noch den strafwürdigen Menschen, dessen Nachlässigkeit unserm Kutscher das Leben kostete, der meinen Vater an den Rand des Grabes gebracht hat und ihn seit acht Tagen wie einen Martyrer darniederliegen machte?«

»Ich vertheidige ihn keineswegs, aber ich bin nicht überzeugt von seiner Schuld?«

»Wenn er die Barrieren schloß, wie es sich gehörte, wie hätte dann das Unglück geschehen können?«

»Und wenn nun Jemand sie wieder geöffnet hätte?«

»Das ist nicht möglich, Herr Masmans. Der Bahnwärter ist verpflichtet, wenige Minuten vor der Durchfahrt des Zuges die Wege abzusperren. Es war an dem Abend entsetzliches Wetter, Blitz, Donner, Hagel und Sturm, als sollte die Welt vergehen, alle Leute hielten sich ängstlich in ihren Wohnungen. Wem konnte es da einfallen, zum Zeitvertreib dem Sturm zu trotzen, und die Barrieren zu öffnen? Verhelft hatte keinen einzigen Feind; vor dem Unglück war er von allen Leuten weit und breit geachtet und gern gesehn. Nein, nein, er ist schuldig, das ist keine Frage. Wegen des schrecklichen Wetters ist er ruhig in seinem Waggon sitzen geblieben und hat durch seine Nachlässigkeit meinen Vater und den Kutscher verunglücken lassen.«

 

»Wir wollen hoffen, Friedrich, daß Ihr Vater baldigst genesen wird; er allein kann über das Schicksal des armen Bahnwärters entscheiden.«

»Aber was soll denn mein Vater in aller Welt zu sagen wissen, als daß die Barrieren offen waren? Sonst würde ja doch unser Kutscher den Wagen nicht auf die Bahn gebracht haben. Ich bin fest überzeugt, daß die Richter den fahrlässigen Menschen verurtheilen werden.«

»Möglich ist es, doch bei dem Mangel an Zeugen bleibt es immer zweifelhaft.

»Nun da hörte denn doch Alles auf, wenn man solch’ fluchwürdige Pflichtverletzung unbestraft ließe! Um aber sicher zu sein, daß der Fall nach Gebühr behandelt wird, will ich einen berühmten Advokaten annehmen, der mir Recht schafft gegen den Mann, der unserm ganzen Hause solches Unheil zugefügt!«

»Das würde ich an Ihrer Stelle gewiß nicht thun, Friedrich,« sagte der Staatsanwaltsgehilfe, traurig den Kopf schüttelnd. »Wenn das Gericht den Bahnwärter freispricht, geschieht es, weil seine Schuld nicht hinreichend bewiesen werden kann. Erschreckt Sie denn nicht der Gedanke, eines Unschuldigen Verurtheilung herbeigeführt zu haben?«

»Ich bin aber fest überzeugt, daß er nicht unschuldig ist!«

»Sie sollten doch Mitleiden haben mit seiner blinden Mutter und den armen Kinderchen! Ach, wenn Sie, wie ich, die unglücklichen Leute gesehen hätten, hoffnungslos, weinend, klagend . . . «

»Ich habe sie gesehen, Herr Masmans; heimlich habe ich mir die Thränen aus den Augen getrocknet, Thränen des Mitleidens mit dem Loos der unglücklichen Familie, besonders des ältesten Knaben Alexander, den wir alle lieb hatten, da er ein gutes, verständiges Kind ist. Aber ich hade das Mitleiden in meinem Herzen erstickt, und mir selbst Gewalt angethan, um den Bahnwärter zu hassen. Bleibt mir nicht eine unerbittliche Pflicht zu erfüllen gegen meinen Vater, gegen unsern todten Kutscher, gegen die ganze menschliche Gesellschaft? Soll man solche mörderische Pflichtvergessenheit ungestraft lassen und so dazu beitragen, daß die Unglücksfälle auf den Eisenbahnen immer zahlreicher werden?«