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Der Bahnwärter

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Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Verlassen Sie sich in der Beziehung nur auf mich,« sagte da der wohlwollende Beamte. »Ihr Schicksal flöst mir Mitleiden ein, ich werde sogleich zu ihnen gehn und ihnen auseinandersetzen, daß sie nicht verzagen dürfen, daß sie vielmehr Grund haben an einen glücklichen Ausgang dieser traurigen Angelegenheit zu hoffen. Unterwerfen Sie sich jetzt ohne Widerspruch, ich gehe augenblicklich zu ihrer Familie.«

Und er verließ wirklich das Wärterhäuschen.

Johann Verhelft erklärte sich bereit zu gehorchen, bat aber mit Thränen in den Augen, daß man ihm die Schande spare, ihn wie einen verächtlichen Dieb zu binden.

Der Protokollführer las ihm dann seine Aussagen vor und er unterzeichnete ohne Zögern.

Darauf sagte der Richter:

»Gensdarme, ihr seid für den Gefangenen verantwortlich; thut eure Pflicht und fährt ihn nach der Stadt.

Zwischen den beiden Gensdarmen verließ Johann Verhelft sein Wärterhäuschen. Noch einen Blick warf er zu dem Waggon hinüber, sah aber Keinen von denen, die ihm so am Herzen lagen. Wahrscheinlich hatte der edelmüthige Herr sie entfernt, um ihnen das entsetzliche Schauspiel von dem Unglück und der Schande des Vaters zu sparen.

An der Barriere standen 4 – 500 Menschen, denen man ausnahmsweise erlaubt hatte, die Bahn zu betreten.

Als der unglückliche Gefangene diese tausend neugieriegen Augen auf sich geheftet sah, fühlte er einen eiskalten Strom durch seine Adern dringen und ließ mit einem halberstickten Angstschrei das Haupt auf die Brust sinken. Einer seiner Führer mußte ihn am- Arm nehmen, um seinen wankenden Schritt zu unterstützen.

Als die dichtgeschlossene Menge, durch den Feldwächter zurückgetrieben, sich öffnete, um den traurigen Zug durchzulassen, klangen dem armen Verhelft viel schreckliche und bis aufs Blut peinigende Worte in die Ohren. Nun die Gensdarmen ihn wie einen Verbrecher abführten, mußten die Richter ihn schuldig gefunden haben. Es hatte also, durch Versäumniß seiner Pflicht, zwei Menschen das Leben gekostet. Der Notar, der wohlthätige, allgemein geliebte, Mann, lag am Sterben. Hatte nicht der Bahnwärter ihn umgebracht? Kein Wunder also, daß in den Herzen fast aller Zuschauer ein Gefühl des Widerwillens und Hasses gegen ihn erglühte.

Auf seinem ganzen Weg durch das Dorf wurde der vor Kurzem noch so geachtete und gern gesehene Bahnwärter durch die Vollsmenge beleidigt und verwünscht; durchs das Lärmen und verworrene Geschreis drangen immer wieder die Wörter: »Schelm, Lump, Mörder« an sein Ohr, ja er sah, wie einige Koth von der Straße aufhoben, um ihn damit zu werfen, wenn der Feldwächter, mit dem gezogenen Säbel drohend, sie nicht daran gehindert hätte.

Die Schande, die Marter, währte bis zum andern Ende des Dorfes; hier hielt der Feldwächter mit einigen gutwilligen Leuten die er zu Hilfe gerufen, die Straße abgesperrt und so konnte der Gefangene mit seiner Begleitung den Weg fortsetzen, ohne von der kreischenden und lärmenden Menge länger belästigt zu werden.

Die Gensdarmen schlugen jetzt einen Seitenpfad ein, um den Weg zur Stadt abzukürzen,– und forderten ihren Gefangenen auf, seinen Schritt noch zu beschleunigen, um so viel wie möglich der Verfolgung der Dorfbewohner zu entgehn.

Der Bahnwärter gehorchte, ohne etwas zu erwiedern. Sein Herz war gebrochen, vor seinen Lippen schwebte der bittere Gallenbecher der Schande, den er in so kurzer Zeit fast bis auf den Boden geleert. Entsetzlicher Gedanke! Er hatte sein Leben gewagt um einen Menschen zu retten, und die Menschen haßten und verfluchten ihn jetzt! Man wollte ihn mit Schmutz bewerfen und ihn steinigen wie einen tollen Hund.

Während er so, schmerzlich in sich hineinsinnend, voranschritt, traf ein undeutliches Geräusch sein Ohr. Er erblaßte, stieß einen dumpfen Schrei aus, und blieb stehn, ohne zu wagen, sich umzusehn.

»Nun, was gibt’s, Kamerad,« fragten seine Wächter verwundert, »das sind die Leute aus dem Dorf, die immer noch aus der Ferne uns nachschreien. Voran, voran, sonst holen sie uns wieder ein!

»Ja voran, eiligst voran!« seufzte der arme Bahnwärter. »O Gott, meine unglücklichen Kinder!«

Er beschleunigte wirklich seine Schritte, wohl in der Hoffnung, dadurch einer neuen Prüfung zu entrinnen. Seine Frau und die Kinder hatten ihn nicht durch die Gensdarmen fortführen sehen; sollte dieses schreckliche Schauspiel ihnen jetzt vorbehalten sein? mußte er selbst auch dieses Leid noch tragen?

Aber wie hastig er auch weiter eilte, die Klagen und das Wehgeschrei wurden immer deutlicher und bald klang das Wort: »Vater, Vater!« von flehenden Kinderstimmen gerufen, deutlich in seine Ohren.

Seine unglückliche Familie näherte sich mehr und mehr; sollte er die geliebten und liebenden Wesen im Taumel der Verzweiflung folgen lassen bis in die Stadt, zur Thür des Gefängnisses?

Er wandte den Kopf zurück; da sah er in der Ferne die blinde Großmutter, von seiner Frau und dem braven Alexander unterstützt, heranlaufen. Marianne trug Bärbchen aus dem Arm und der kleine Heinrich sprang neben her; Alle streckten flehend die Hände nach ihm aus.

Was er auf der Erde liebte und betrauerte, sein Blut, sein Glück, sein Hoffen war dort vereinigt.

»Ach laßt uns um Gottes willen einen Augenblick stehn bleiben,« bat Johann Verhelft seine Begleiter. »Da ist meine unglückliche Familie, meine Mutter, meine Frau, meine Kinder! Sie werden mitlaufen bis in die Stadt wenn ich sie nicht zurücksende!

»Ja, aber wir wissen nicht.« brummte einer der Gensdarmen »ob . . . «

»Nur ein paar Minuten,« flehte Johann, »um Gottes Barmherzigkeit willen! Nur ein letztes Lebewohl! Ich will sie beruhigen und ihnen begreiflich machen, daß sie nach Hans gehen müssen.«

»Nun denn, in Gottes Namen, aber macht geschwind!«

Gleich darauf hingen die Frauen und Kinder an seinem Halse und schlossen ihn so heftig in die Arme und hielten ihn so fest umschlungen, als ob sie ihn nimmer lassen könnten. —

Nachdem der erste Schmerz sich ausgeruht, suchte der arme Gefangene sie mit erkünstelter Fassung zu überreden, daß sie keine Veranlassung hätten, so übermäßig erschreckt und betrübt zu sein, da mau ihn nur zur Stadt führe, um dort noch einmal seine Erklärungen zu Protokoll zu nehmen. Vielleicht würde er einige Tage dort bleiben müssen, der Richter aber inzwischen die Untersuchung eifrigst fortsetzen. Wenn dann, wie nicht zu bezweifeln, seine Unschuld zu Tage träte, würde er, von allem Verdacht befreit, in Ehren zu ihnen heimkehren, deßhalb möchten sie nun zu Hause gehn und geduldig seine Rückkunft erwarten. Ihre Liebe könnten sie ihm allein dadurch beweisen, daß sie den lieben Gott unaufhörlich um die baldige Offenlegung seiner Unschuld anflehten. So wolle er denn Jedem von Ihnen noch einen Kuß zum Abschied geben, und dann möchten sie eilends zurückkehren.

Alle schienen durch seine Worte einigermaßen beruhigt und versprachen seinem Rath nachzukommen. Als er aber die alte Frau an sein Herz drückte und mit tiefbewegter Stimme sagte: »Lebe wohl, liebe Mutter,« da sank die arme Blinde ohnmächtig zur Erde.

Dann begann das Weinen und Flehen von Neuem; vor Allen war die Noth und Angst der Kinder so groß, daß selbst einer der Gensdarmen sich Thränen der Rührung aus den Augen wischte.

Johann Verhelft war neben seiner Mutter an der Erde niedergekniet, er hob ihren Kopf in seinen Schooß und besprengte Stirn und Schläfen mit Wasser aus der Feldflasche der Gensdarmen.

Sobald die Ohnmächtige wieder zu sich gekommen, wurde dem Gefangenen angekündigt, daß er nun augenblicklich seinen Weg zur Stadt fortsetzen müsse; seine Führer hätten sich ihm wohlwollend gezeigt, er solle nun beweisen, daß er ihre Güte nicht zu mißbrauchen beabsichtige.

So beeilte er sich denn, seine Kinder noch einmal zu umarmen, und sagte dann seiner Frau noch einige ernste Worte ins Ohr, die ihre Wirkung nicht verfehlten, denn sie antwortete entschlossen:

»Leb wohl, Jan, und geh getrost, wir folgen dir nicht mehr. Ich will über die Kinder wachen, sie trösten und beten lassen, bis du wiederkommst. Sei guthen Muthes, Gott ist gerecht und wird uns nicht verlassen.«

»Ja Muth, Muth, Marianne,« murmelte der Bahnwärter mit halb erstickter Stimme, während er seinen Platz zwischen den beiden Gensdarmen wieder einnahm und ohne umzusehn seinen Weg fortsetzte, bis seine Angehörigen ihn gänzlich aus den Augen verloren.

Dann aber brach seine erkünstelte Stärke zusammen; ein Thränenstrom drang aus seinen Augen, er weinte und schluchzte wie ein Kind, bis sein Herz von dem Uebermaß des Schmerzes einigermaßen entlastet war und er zwar tieftrauernd doch ergeben, auf die Fragen und Bemerkungen seiner Begleiter antworten konnte.

Glaubten die beiden Gensdarmen an seine Unschuld oder theilten sie den allgemeinen Verdacht? Aus ihren Bemerkungen ließ sich das nicht abnehmen. Wahrscheinlich waren sie selbst zweifelhaft über diesen Punkt und wollten nach keiner Seite ein Urtheil fällen.

Der Aeltere von ihnen sagte jetzt zu dem Gefangenen:

»Eine fahrlässige Tödtung? ein Mord aus Unvorsichtigkeit? Das ist doch eine schlimme Geschichte; wäre ich an Eurer Stelle, Kamerad, ich würde Alles gestehn und kein Hehl daraus machen, wie die Sache sich zugetragen.«

»Aber ich habe ja Alles gestanden,« erwiederte Johann Verhelft. »Soll ich denn gegen mich selbst lügen?«

»Das müßt ihr selbst am besten wissen, es ist eure Sache, aber denkt nur darüber nach, denn ich habe euch seinen guten Rath geben wollen, und ihr habt sichere Aussicht auf eine mildere Strafe, wenn Ihr ein offenes Geständniß abgelegt.«

»Gewiß,« bestätigte der andere Gensdarm, »mir sind gerade zwei Fälle erinnerlich, die das klar beweisen. Ich habe früher in einer Gemeinde von Westflandern gestanden, da wurde denn auch eines Tages eine Frau durch den Zug überfahren, weil der Weg über die Bahn nicht versperrt gewesen war. Der Wärter leugnete seine Schuld und bekam zwei Jahre Gefängniß.

 

Später wurde ich in die Gegend von Löwen versetzt, da geschah beinah dasselbe Unglück; es blieben drei Menschen todt. Der dortige Bahnwärter bekannte mit Thränen der Reue, daß er Versäumt hatte, die Barrieren rechtzeitig zu schließen, und siehe da, obwohl diese Sache an und für sich viel ärger war als die andere, nahm man wegen seines offnen Geständnisses und tiefen Bedauerns mildernde Umstände an und er bekam nur drei Monate.«

»Aus den beiden kleinen Geschichten könnt ihr Euren Vortheil ziehen,« bemerkte wieder der ältere Gensdarm. »Nicht wahr, Kamerad, ihr erinnert Euch nicht deutlich, wie es sich an dem stürmischen Abend mit eurem Schließen verhalten?«

»Ganz deutlich; ich bin so fest davon überzeugt wie von meinem eignen Leben auf Erden,« rief der Gefangene, durch den Zweifel seiner Führer aufs neue gefoltert.

Da aus ihm nichts herauszubekommen war, als die einfache stets wiederholte Bestätigung seiner Unschuld, hörte das Gespräch bald auf und Johann versank wieder in düsteres Schweigen; näherten sie sich doch auch immer mehr der Stadt, eben gingen sie an den ersten Gärten und Häusern vorüber.

Ach, in der Stadt war Johann Verhelft geboren, hier hatte er als Kind gespielt als Mann gelebt und gearbeitet bis zu seinem dreißigsten Jahr! Viele kannten ihn dort, er hatte zahlreiche Freunde; nun sollten sie ihre zwischen zwei Gensdarmen durch die Straßen führen sehn, ohne zu wissen, welchen Verbrechens er angeklagt war. Man würde ihn vielleicht für einen auf frischer That ertappten Spitzbuben halten, er, Johann Verhelft, sollte nun durch seine Geburtsstadt geführt werden durch Gensdarmen, wie ein Dieb, wie ein Räuber oder Mörder.

Er beugte das Haupt und schloß die Augen, sobald sie die belebten Straßen der Vorstadt erreichten, als ob er so der Schande auszuweichen glaubte; zuweilen aber mußte er doch aufblicken, um nicht zu straucheln.

Etwas leichter wurde ihm ums Herz, wohl sahen die Leute ihm nach und die Straßenjungen liefen hinter ihm her, doch hatte er in diesem Stadtheil niemals gewohnt und kein bekanntes Gesicht begegnete ihm hier.

Sein Weg führte jetzt über den Bahnhof, wo er vormals in edler Selbstaufopferung seine Hand verloren. Er wandte den wirren Blick der großen Werkstatt zu, die innerhalb des Bahnhofes stand. Dort hatte er zehn lange Jahre hindurch gearbeitet und seinen Schweiß vergossen am Schmiedeamboß. Wer es ihm damals gesagt hätte, als er, pfeifend und singend zwischen den sprühenden Funken stand, daß er einst hier vorübergehn würde, sterbend vor Scham, zwischen zwei Gensdarmen!

Während diese bitt’re Erwägung ihm von neuem die Thränen in die Augen trieb, begann plötzlich die Mittagsglocke zu läuten und unmittelbar darauf strömten mindestens hundert Arbeiter aus dem Bahnhof.

Zitternd hemmte Johann Verhelft seinen Schritt. Die meisten dieser Arbeiter kannten ihn, viele waren ihm alte Freunde. Großer Gott, mußte er denn den Becher der Schande bis auf den lehren Tropfen leeren?

Die Gensdarmen ergriffen ihn an den-Armen und zogen ihn fort, da schloß er fest die Augen und strauchelte schwankend zwischen den Arbeitern durch.

Von allen Seiten hörte er seinen Namen nennen, Ausrufe der Verwunderung drangen ihm ins Ohr.

»Das ist Jan Verhelft!« tief man. Was der nur verbrochen hat? Gestohlen? Das ist unmöglich! doch wer weiß? . . . Vielleicht hat er eine Schlägerei gehabt und Jemanden mit dem Messer gestochen? Aber er war doch der gutmüthigste Mensch von der Welt! . . . Vielleicht ein unvorsichtiger Schlag? Das kann ja Jedem passieren. Armer Jan Verhelft, armer Jan!«

So tönte es hinter ihm her, die nächsten Straßen entlang, er hörte wie seine früheren Freunde sein Schicksal beklagten und an seine Schuld nicht glauben konnten, wie aber die meisten Leute ihn für einen Dieb, einen Mörder hielten.

Scham und Noth raubten ihm beinah das Bewußsein und erst als der älteste der Gensdarmen zu ihm sagte: »Wir sind an Ort und Stelle, Kamerad,« öffnete er die Augen, sah mit einer fieberhaften Freude die dunklen Gefängnißmauern an und rief:

»Gott sei Dankt endlich bin ich erlöst von dieser entsetzlichen Folterqual!«

Wenige Augenblicke darauf knirschten die rostigen Angeln der Gefängnißthür hinter seinem Rücken und er sank weinend auf die hölzerne Bank.

Er war allein, allein mit seiner Schande und Verzweiflung.

III

Seit sieben Tagen schon saß der Bahnwärter in der engen Zelle des Gefängnisses eingeschlossen. Er wußte nichts von dem Schicksal seiner Frau und Kinder, nichts von dem Zustande des verwundeten Notars.

Einmal hatte man ihn in dem geschlossenen Gefäugnißwagen zum Criminalgericht gebracht, und er war dort in dem Zimmer des Untersuchungsrichters während mehr als einer Stunde befragt und bedroht worden, in einer so strengen und für ihn quälenden Weise, daß der arme Mann mit der festen Ueberzeugung in seine Zeile zurückgekehrt war, trotz seiner Unschuld, verurtheilt zu werden.

In dem Glauben, daß der Bahnwärter des angeklagten Vergebens schuldig sei und ihn nur durch eine erdichtete Erzählung hinzuhalten suche, hatte der Richter befohlen, ihn strenge abgesondert einzuschließen. In Folge dessen wurde aller Verkehr nach Außen ihm untersagt und Niemand konnte ihm Nachricht bringen. Während der vergangenen sechs Tage hatte er im Gefängniß kein lebendes Wesen gesehn als den Schließer, einen ungesprächigen, düstern Menschen, welcher, wie ein Gespenst ohne Gefühl und Sprache, schweigend ging wie er gekommen war, wenn er ihm das Essen gebracht oder sonst nach ihm gesehn hatte.

Am gestrigen Tage war dann der Geistliche der Gefangenenanstalt erschienen, um ihm geistlichen Trost zu bringen, aber auch von dem hatte er nichts erfahren können.

Wer vermöchte die Leiden, die Seelenqualen des unschuldigen Johann Verhelft zu beschreiben, der in der strengsten Abgeschiedenheit wie in einem engen Grabe eingeschlossen saß, während seine Freiheit, seine Ehre, vielleicht das Leben der ihm Theuersten auf Erden bedroht war! Kein Mittel der Vertheidigung, keine Stimme ihn zu trösten, kein Freundesherz, um seine Klagen mitleidend aufzunehmen! Was ist aus seiner Frau, aus seinen Kindern geworden. Hat man sie aus ihrer niedrigen Wohnung vertrieben. Ist seine blinde Mutter krank? . . . oder todt?

Sein Gehirn ist durch langes schweigendes Nachdenken wie verwirrt, er sieht Alles schwarz und schrecklich, seine Träume sind zu einer fortgesetzten Qual geworden. Einmal sieht er seine weinende Familie in dem Waggon um das Sterbebett seiner alten Mutter knieen, oder er hört die Verzweiflungsrufe seiner guten Frau und sieht auf dem stillen, bleichen Gesichtchen seines Alexander, wie tief dem verständigen Kinde die Schmach zu Herzen geht . . . Aerger noch: er ist verurtheilt zu jahrelangem Gefängniß und sieht durch die Gitterfenster der Zelle, in der er fortan leben wird, seine verlassenen Angehörigen durch die Straßen irren und die Hand ausstrecken, betteln um etwas Brod!

Durch dieses schreckliche Leiden ist der arme Mann abgemagert wie ein Fieberkranker, er, der gesunde, kräftige Schmied ist blaß und elend, seine eingefallenen Wangen und tiefgesunkenen Augen machen ihn beinah unkenntlich.

Der Morgen des siebenten Tages war seit einigen Stunden angebrochen. Johann Verhelft saß auf seiner Bank, das Gesicht in den Händen verborgen. Eine furchtbare Stille umgab ihn, man hätte glauben sollen, daß außer ihm kein lebendes Wesen in dem großen, düstern Gebäude athme.

Dennoch wußte er in der Todtenstille noch einige Geräusche zu unterscheiden, von Zeit zu Zeit sah er auf und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, aber eben so oft ließ er mit einem schmerzlichen Seufzer den Kopf wieder auf die Brust sinken. Einmal sprang er selbst auf und näherte sich mit raschen Schritten der Thür, während ein Lächeln der Sehnsucht aus seinen Lippen schwebte.

Wahrscheinlich erwartete er Jemanden Anders als seinen gewöhnlichen Wächter, denn niedergeschlagen kehrte er zu seiner Bank zurück und klagte laut:

»Vergebliche Hoffnung, er kommt nicht, Jeder haßt und verflucht mich! Er vielleicht auch! . . . Wird der Geistliche ihm meine Botschaft wohl überbracht haben? Barmherziger Gott, wie lange soll dieser quälende Zustand noch dauern? Wenn es denn dein Wille beschlossen hat, so mögen sie mich verurtheilen; ich will mich unterwerfen und geduldig leiden, aber, o Herr, hebe doch den Stein von meinem schrecklichen Grabe! Laß mich wissen, was aus meiner unglücklichen Familie geworden ist!«

Während einer halben Stunde oder länger noch, saß er dann bewegungslos, und hatte wohl schon alle Hoffnung aufgegeben, denn obschon sich bin und wieder ein fernes Geräusch vernehmen ließ, schien er gleichgültig dagegen geworden und verharrte in seinen trüben Gedanken.

Plötzlich knirschte der Schlüssel in dem Schloß seiner Zelle.

Da sprang er auf, und als er sah wer es war, der mit dem Gefangenenwärter hereintrat, stürzten Thränen freudiger Rührung ihm über die Wangen.

Dank, tausend Dank, Herr Staatsanwaltsgehilfe,« rief er schluchzend, »daß sie die Bitte eines Elenden nicht zurückgestoßen! Möge Gott ihnen diese Wohlthat vergelten!«

»Beruhigen sie sich,« sagte der eingetretene Herr, in sanftem Ton. »Sie haben mich hierher rufen lassen, vielleicht wollen sie mir in Betreff ihrer traurigen Angelegenheit etwas Besonderes mittheilen?«

»Ach, Herr,« rief der Bahnwärter mit gefalteten Händen, »kann diese schreckliche Abgeschiedenheit nicht aufgehoben werden? Wüßten sie, wie ich hier von der ganzen Welt getrennt vor Angst und Verzweiflung fast vergehe! Ich weiß noch nichts von meiner blinden Mutter, von meiner Frau, von meinen armen Kindern. Geben sie mir Nachricht von ihnen und ich will ihren Namen segnen bis zu meinem Todtenbette!«

»Augenblicklich ist es mir unmöglich, ihnen irgend Etwas von ihnen mitzutheilen,« war die Antwort; »seit dem Tage des Eisenbahunglücks habe ich nichts von ihnen vernommen. Aber seien sie getrost, heut Nachmittag muß ich in einer anderen Sache nach Bolderhout, da werde ich mich nach ihrer Familie umsehn, und diesen Abend, spätestens morgen frühe sollen sie Nachricht haben.«

»O wenn ich aussprechen könnte, wie glücklich sie mich machen!« rief der Bahnwärter. »Sie sind mir ein von Gott gesandter Engel des Trostes! Diese gänzliche Abgeschlossenheit, wenn sie über einen unschuldigen Familienvater verhängt wird, ist eine gräßliche Folter, eine Hölle, deren Schrecken nicht zu beschreiben sind. Welche unmenschliche Erfindung, die Unglücklichen also lebend zu begraben! Sie sind gut und milde, aber hat denn der Richter kein Herz?«

»Der Richter thut seine Pflicht,« war die Antwort. »Die strenge Absperrung ist oft das einzige Mittel, die Wahrheit au den Tag zu bringen und ohne dieselbe würden viele Verbrecher von der schlimmsten Sorte ungestraft durchkommen. Das Wohl der allgemeinen Gesellschaft gilt da als erstes, wenn auch oft schweres Gesetz.«

»Also glaubt der Richter mich schuldig?«

»Wahrscheinlich.«

»Und sie, Herr?« rief der Bahnwärter ängstlich.

Der Andere zuckte kaum merklich die Achseln.

»Großer Gott, sie selbst, der Gute, Edelherzige, Wohlwollende, sie zweifeln? Gibt es denn keine Gnade mehr für mich? Ich soll verurtheilt werden? Meine Familie gebeugt gehn unter der Schande und im Elend verkommen?«

»Das habe ich nicht gesagt; ich hoffe, daß das Gericht sie freisprechen wird, doch erlaube ich mir nicht in ihrer Sache ein persönliches Urtheil zu fällen, ehe ich die Untersuchungsacten aufmerksam durchlesen. Weiß doch kein Mensch zu erklären, wie das Unglück geschehn konnte. Jedem erscheint es unmöglich, daß ein Wagen bei geschlossenen Barrieren auf die Eisenbahn komme. Auch ist da ein Mann von Bolderhout welcher zeugt, die Barriere an Ihrem Wärterhause einmal offen gesehn zu haben, während der Zug vorüberfuhr . . . «

»Das ist eine Falschheit!« rief Johann Verhelft.

»Ein Anderer behauptet, daß sie mitunter dem Trunke ergeben seien.«

»Welch’ schnöde Verleumdung! Ich habe niemals mehr als ein Glas Bier an einem Tage getrunken und selbst das nur selten.«

»Ohne Zweifel ist es leeres Geschwätz und wird das Gericht nur wenig Gewicht darauf legen. Man sucht nach schweren belastenden Zeugen und es fragt sich nun, ob man deren finden wird.«

»Aber der Herr Notar? er ist immer mein Wohlthäter gewesen und wird mich nicht unschuldig verurtheien lassen,« rief der Bahnwärter aus.

»Der Notar liegt noch andauernd in Todesgefahr, wie man mir gestern Abend sagte. Ob er überhaupt schon wieder gesprochen hat, weiß ich nicht, jedenfalls muß er aber Ihre Unschuld nicht aufgedeckt haben, denn sein Sohn Friedrich dringt mehr als je zuvor auf ihre gerichtliche Verfolgung und Verurtheilung und ruft überall nach Rache gegen Sie. Darüber brauchen Sie indessen nicht zu erschrecken, meiner Ansicht nach wird das Gericht Sie freisprechen, wenn die Untersuchung keine neuen Beweise gegen Sie zu Tage bringt.«

 

Der Bahnwärter sank erschöpft und muthlos aus die Bank. »O mein Gott,« klagte er mit bitteren Thränen, »wie ist es nur möglich? Ich habe während meines ganzen Lebens mich geplagt und gearbeitet wie ein ehrlicher Handwerker, habe niemals Jemanden Etwas zu Leide gethan und nun haßt und verachtet mich Jeder, wie einen elenden Verbrecher! Die Leute aus Bolderhout haben mir geflucht und wollten mich mit Koth bewerfen, nun klagen sie mich der Trunksucht an; der Sohn des Notars der mich achtete und mir mehr als einen Beweis seines Wohlwollens gaben, fordert meine Verurtheilung! Ach sollte denn in den Herzen der anscheinend besten Menschen so viel Ungerechtigkeit und Bosheit verborgen liegen?«

»Im Gegentheil,« widerlegte ihn sein Gönner, »es ist eine Huldigung, die sie der Tugend zu bringen glauben Sie halten Sie für schuldig, bedauern das Loos des Notars, den Sie ja selbst ihren Wohlthäter nennen und sie hassen und verwünschen weniger ihre Person, als die strafwürdige Pflichtvergessenheit, durch welche Sie nach der Meinung der Leute, an dem Tode zweier Menschen die Schuld tragen. Wenn das Gericht Sie frei spricht, wird man durch verdoppelte Freundschaftsbeweise und Achtung bald vergessen zu machen suchen, daß man Sie ungerecht anklagt.«

Immer noch saß der Bahnwärter niedergeschlagen und muthlos da, während der Staatsanwaltsgehilfe ihn mitleidig ansah und dann sagte:

»Ich muß Sie jetzt verlassen; haben Sie Vertrauen und verzweifelte Sie nicht. Ich werde zum Untersuchungsrichter gehen, um von ihm die Erlaubniß zu erbitten, daß es ihrer Frau gestattet werde, Sie im Gefängnisse zu besuchen.«

Mit einem Schrei der Freude aufspringend, ergriff Johann Verhelft die Hand seines Gönners und drückte sie an seine Lippen.