Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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». those who recognize only the primacy of the community and consider individual rights either secondary and derivative or assert simply that ›there are no such rights‹ (MacIntyre 1984, p. 69), open the door to the intolerance, or worse, the tyranny found not only in totalitarian ideologies but also in absolutist theology and authoritarian political philosophies. Equally unacceptable are positions that focus exclusively on individual rights, particularly the extreme libertarian stand; few endorse policy ideas such as those that allow an individual the right to choose whether or not he or she wishes to defend his or her country (Nozick 1974). This may leave few to defend a country … The problems of the libertarian position hold for other common goals we all value, from concern for future generations to the condition of the environment (Etzioni 1991, S. 66).

In diesem Dilemma versucht Etzioni eine vermittelnde Synthese beider Positionen, ein Modell des »I & We«, das er allerdings nicht sehr weit ausarbeitet. Immerhin stellt er die entscheidende Frage nach der angemessenen Balance beider Momente und illustriert die Konsequenzen jeglicher Einseitigkeit bezeichnenderweise an unterschiedlichen Modellen der Gesellschaftssteuerung:

»Wherein lies the proper balance? While no simple guideline suggests itself, the social-historical context provides an important criterion: societies that lean heavily in one direction tend to ›correct‹ in the other. Thus, communist societies have been moving recently to enhance individual liberties. At the same time, American society, believing itself to have tilted too far toward Me-ism [hier: Kunstwort aus Me und ism, H. W.] and interest-group dominance, has been shifting toward a greater emphasis on national priorities and obligations to the community. Other such ›balancing‹ criteria remain to be evolved (Etzioni 1991, S. 67).

Immerhin hat die jüngste Geschichte dieses Argument eindrucksvoll bestätigt. Die kommunistischen Gesellschaften sind auch – und vielleicht sogar vorrangig – an ihrem Mangel an individuellen Freiheiten zerbrochen; und in den USA ist ein Präsident und eine Administration 2013 zum zweiten Mal an die Macht gekommen, die ausdrücklich die Verpflichtungen der einzelnen für die Gemeinschaft und für kollektive Güter (z. B. ein brauchbareres Gesundheitssystem und Erziehungssystem) wieder stärker betonen.

[51]Der Generaleinwand gegen diese wohldurchdachten und ernstzunehmenden Ideen zur Revision des Steuerungsmodell Demokratie ist, dass beide Autoren die Wirkung des einen Faktors unterschätzen, der wie kein zweiter die Problematik der Steuerung moderner Gesellschaften prägt: funktionale Differenzierung. Die Radikalisierung der »gesellschaftlichen Arbeitsteilung« zur funktionalen Autonomie und zur operativen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugt erst die zentrifugale Dynamik, der die westlichen Demokratien auch nicht durch den Rückgriff auf gesunden Menschenverstand und Moral entrinnen können. Im Gegenteil: Um die eigensinnigen Funktionssysteme und die sie prägenden Organisationen und Assoziationen dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren, bedarf es nicht nur einer elaborierten Verhandlungslogik und voraussetzungsvoller Fähigkeiten des kollektiven und strategischen Handelns (Elster 1987, Kap. 1.4). Darüber hinaus ist genau das nötig, was den gesunden Menschenverstand ebenso überfordert wie eine auf die eigene »community« bezogene Binnenmoral – nämlich die Fähigkeit zur Reflexion des Teils auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen.

In der politischen Praxis vor allem der west- und nordeuropäischen Demokratien entwickelte sich in den 1970er-Jahren als Reaktion auf zunehmende Probleme der Regierbarkeit eine Form der kollektiven Entscheidungsfindung und Interessenmediatisierung, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Titel Neokorporatismus Aufmerksamkeit fand. Praxis und Theorie des Neokorporatismus sind für eine Steuerungstheorie moderner Gesellschaften aufschlussreich, weil sie als Versuch verstanden werden können, in einem gesellschaftlichen Großexperiment die Grenzen des politischen bzw. parlamentarischen Demokratiemodells neu zu definieren. Im Kern ging es (und geht es nach wie vor) darum, eine Form des Demokratiemodells zu erfinden, die den Ursprung des Modells in der vom Primat der Schichtendifferenzierung geprägten liberalen, bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufhebt in einer Revision, welche die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der demokratischen Revolutionen bewahrt und zugleich den Weg für eine Berücksichtigung der Folgen funktionaler Differenzierung freigibt.

Eine besonders massive Folge ist die Multiplizierung, Pluralisierung und Dezentrierung von Machtbasen in unterschiedlichsten organisierten Sozialsystemen (Organisationen, Professionen, Assoziationen, Korporationen, Netzwerken etc.) innerhalb einer Gesellschaft. Die Politik als ihrerseits ausdifferenziertes Teilsystem mit der Funktion, für die Gesellschaft insgesamt die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kann nicht einmal mehr hoffen, diese Aufgabe ohne die Beteiligung der großen Quasi-Gruppen und ihrer korporativen Akteure[52] lösen zu können (Mayntz 1993, S. 42). Gerade in Politikfeldern, in denen sich machtvolle autonome Verbände herausgebildet haben, nämlich in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Sozial-, Wissenschafts-, Energie- oder Verkehrspolitik, kann von einer unabhängigen Entscheidungskompetenz der Politik keine Rede sein. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhausträger, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftsvereinigungen, Automobilklubs, regionale Energieverbände etc. sind Beispiele für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum engeren Bereich der Politik gehören – und ohne deren Beteiligung in den entsprechenden Politikfeldern dennoch keine nachhaltige Politik gemacht werden kann.

Idee und Praxis des Neokorporatismus kommt hier das Verdienst zu, die gesellschaftsgeschichtlich allmählich gewachsene Struktur der Interessenmediatisierung in komplexen, hochorganisierten Gesellschaften ans Tageslicht gebracht und einer demokratietheoretischen Überprüfung zugänglich gemacht zu haben (Schmitter 1983). Sie haben eine Praxis, die lange als Pluralismus, Politikberatung, »pressure-group-politics«, Verbändepolitik etc. verbrämt wurde, aus dem demokratischen Halbdunkel gezerrt und die Frage unabweisbar gemacht, ob Demokratie als Steuerungsmodell einer komplexen Organisationsgesellschaft haltbar ist oder nicht.

Wie nicht anders zu erwarten, sind die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich ausgefallen (Czada u. a. 1993; Lehmbruch 1984; Lehmbruch 1979; Nollert 1992; Willke 1983, bes. Kap. 4.2). Bei aller Heterogenität lassen sich folgende Einsichten festhalten:

1 Die Wahrscheinlichkeit gelingender Gesellschaftssteuerung durch Konzertierung der betroffenen Interessen in neokorporatistischen Verhandlungssystemen ist in Verhandlungsdemokratien höher als in Demokratien mit polarisierendem Mehrheitswahlrecht, also z. B. in der Schweiz, Deutschland, Niederlanden oder Österreich höher als in Großbritannien, Neuseeland oder Frankreich (Schmidt 1993, S. 385).

2 Die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel sind die USA und Japan. Aufgrund ihrer zersplitterten politischen Struktur sind die USA trotz eines ausgeprägten Mehrheitswahlrechts auf Verhandlungen angewiesen – aber es fehlen hochorganisierte Verbände vor allem in den wirtschafts- und sozialpolitischen Politikfeldern, welche die Notwendigkeit einer Konzertierung erzwingen könnten. Japan dagegen ist trotz eines Mehrheitswahlrechts aufgrund seiner kulturellen Tradition durchgehend auf Konzertierung ausgerichtet. Es hat denn auch in den 1970er-Jahren die deutlichsten technologie- und wirtschaftspolitischen Erfolge einer konzertierten Gesellschaftssteuerung aufweisen können.

3 Die Hauptschwierigkeit einer Stabilisierung sozietaler Verhandlungssysteme in den neokorporatistischen Ländern liegt darin, Asymmetrien in[53] den Kosten-Nutzen-Relationen der involvierten Verbände und Korporationen zu vermeiden. Einige Akteure verfügen über mehr Drohpotenzial und Vetomacht als andere, was eine angemessene (d. h. gesamtsystemisch optimale) Kompromissbildung erschwert.

4 Der massivste Druck auf entwickelte Demokratien, ihre Formen der Entscheidungsfindung, Konzertierung und Steuerung zu überdenken, kommt nicht mehr von innen, sondern von außen – von einem schärferen und folgenreicheren internationalen Wettbewerb der nationalen wissenschaftlich-technologischen, wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Steuerungsmodelle, einschließlich ihrer Infrastruktursysteme der zweiten Generation (Datensuperhighways, neue Verkehrsleitsysteme, neue Energieleitsysteme, neue Fortbildungssysteme).

5 Dieser Druck führt gegenwärtig dazu, dass die noch relativ vereinzelten neokorporatistischen Verhandlungssysteme (konzertierte Aktionen, Sozialräte, runde Tische) in ein allgemeineres Modell der Verhandlungsdemokratie überführt werden. An diesem Punkt steht in Praxis und Theorie eine Revision des Steuerungsmodells der politischen Demokratie zur Debatte, weil inzwischen die Evidenz überwältigend scheint, dass die Koordinationsleistung der repräsentativen-parlamentarischen Demokratie für die Bedarfe hochkomplexer, differenzierter Gesellschaften suboptimal geworden ist.

Ich werde auf das Problem der Verhandlungssysteme in Abschnitt 4.1 ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich das zweite große Modell der Steuerung komplexer Systeme diskutieren, das Modell der Hierarchie. Erst wenn wir die Steuerungsproblematiken beider Großmodelle, Demokratie und Hierarchie, umrissen haben, können wir daran gehen, die Idee der Verhandlungssysteme als mögliches alternatives Modell der Steuerung komplexer, funktional differenzierter Sozialsysteme eingehender zu prüfen.

 

[54][55]3 Hierarchie als Steuerungsprinzip komplexer Systeme

Selbst für eingefleischte Demokraten hört der Spaß an Demokratie an der Grenze zum »Staat« und seinen Organisationen auf. Es scheint unvorstellbar, dass Ministerien, Bürokratien, Ämter, Polizei oder Armee demokratisch organisiert sein könnten. Warum eigentlich? Was sind die Vorteile von Hierarchie als Steuerungsprinzip und wie lässt sie sich angesichts der offensichtlich »undemokratischen« Qualität des Prinzips an sich legitimieren?

Diese Fragen stellen sich nicht nur bezogen auf ganze Gesellschaften. Schon auf den ersten Blick entpuppen sich ausnahmslos alle Teilbereiche moderner Gesellschaften durchsetzt vom Steuerungsmodell der Hierarchie – und wir scheuen uns dennoch nicht, diese als demokratisch zu bezeichnen. Bei Gefängnissen und Militäreinheiten hält sich die Verwunderung noch in Grenzen. Aber warum müssen auch Krankenhäuser, Universitäten, Unternehmen, Klöster, Sportvereine, Schulen und Familien hierarchisch strukturiert sein? Was macht Hierarchie so erfolgreich, dass man sich keine Organisation ohne die Bestandteile hierarchischer Ordnung vorstellen kann? Wenn Demokratie die entscheidende Erfindung zur Befreiung des Menschen aus Abhängigkeit und Unmündigkeit ist, warum hält sich dann Hierarchie so hartnäckig?

Die Antwort findet sich mit Blick auf die Effektivität und Effizienz kooperativer Aufgabenbewältigung. Um zu zeigen, wie universell diese Antwort ist, lasse ich zunächst einen biologisch interessierten Physiker zu Wort kommen:

« Hierarchical organization is so universal in the biological world that we usually pass it off as the natural way to achieve simplicity or efficiency in a large collection of interacting elements. If asked what the fundamental reason is for hierarchical organization, I suspect most people would simply say, ›how else would you do it?‹« (Pattee 1973, S. 73, Hervorhebung H. W.).

Für den soziologischen Bereich hat nach Max Weber, der diese Antwort für bürokratische Ordnung im Allgemeinen begründet, vor allem Chester Barnard in seinem Klassiker über »The functions of the executive« (1938, bes. S. 60 f.) die Bedeutung kooperativer Effektivität und Effizienz für die Stabilisierung von Kooperation hervorgehoben. Die Behauptung lautet also: Bestimmte Arten von Aufgaben lassen sich bei bestimmten Ansprüchen an die Art der Aufgabenbewältigung am besten in der Form der Hierarchie bearbeiten. Damit sind wir bei einem wichtigen Punkt, nämlich dem Zusammenspiel[56] zweier Seiten in der Form der Aufgabe, um die es geht: Es gibt keine Aufgabe, keine Probleme im luftleeren Raum, sondern immer nur im Kontext sozialer, zeitlicher, sachlicher, operativer und kognitiver Bedingungen (ausführlich zu diesen Dimensionen Systemtheorie I, Kapitel 4). Außerdem stellen sich Aufgaben oder Probleme nicht unabhängig von Erwartungen an die Art der Problemlösung, etwa Erwartungen hinsichtlich der Wirkungen auf die beteiligten Akteure, der Zeitbedarfe, der Kosten, der Nutzen, der vorausgesetzten und der resultierenden Wissensbestände.

Jedes Problem wird also in seiner Qualität als eine Form mit zwei Seiten definiert. Auf der einen Seite nimmt es Form an durch seine Situierung in einem äußeren Kontext von Bedingungen, die das Problem im Reich der Objekte (sachlich-räumlich-zeitlicher Möglichkeiten und Restriktionen) verorten. Zum Beispiel lässt sich die Absicht, einen Menschen auf den Mond zu bringen, als Problem erst mit Rücksicht auf sachliche, räumliche und zeitliche Möglichkeiten und Restriktionen des Zusammenspiels der notwendigen Objekte definieren. Wenn die Tankfüllung der Rakete nicht ausreicht, um die Schwerkraft der Erde zu überwinden, dann wird es sich nicht umgehen lassen, das Problem umzudefinieren.

Auf der anderen Seite gewinnt ein Problem Profil am Maßstab subjektiver Erwartungen von Akteuren (Personen, Organisationen, kollektive Akteure, andere handlungsfähige Einheiten), die das Problem durch die Festlegung darüber definieren, was als Lösung akzeptabel ist und was nicht. Wenn zum Beispiel die relevanten Akteure erwarten, dass ein arbeitsfähiger Reaktortyp innerhalb der nächsten 20 Jahre serienreif sein soll, dann muss das Problem außerhalb der Option eines Fusionsreaktors bestimmt werden.

Bereits die Unterscheidung dieser beiden Seiten mit jeweils (mindestens) fünf unterschiedlichen Dimensionen ergibt einen stark differenzierten, mehrdimensionalen Kriterienraum, der bestimmten Typen oder Arten von Problemen unterschiedliche Orte zuweist. Für bestimmte Cluster von Problemen haben sich in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung entsprechende Formen oder Modelle der Problemlösung herausgebildet. Demnach ist es nur eine Fleißaufgabe, dem Steuerungsmodell Demokratie als Problemlösungsform einen bestimmten Typus von Problemen zuzuordnen und dem Steuerungsmodell Hierarchie einen kontrastierenden Typus von Problemen. Natürlich eröffnet dies auch die Möglichkeit, für weitere, empirisch vorfindliche Cluster von Problemen andere Steuerungsmodelle (Problemlösungsformen) zu entdecken oder zu erfinden.

Irritierend könnte sein, dass Steuerungstheoretiker von Hobbes und Rousseau bis zu Etzioni und Lindblom ihr Hauptinteresse auf die verschiedenen Steuerungsmodelle richten, diese Modelle penibel entwickeln, elaborieren, ihre Vorzüge und Nachteile abwägen etc., sich aber nur sehr pauschal[57] um die Typik der Probleme kümmern, die erst den Bedarf für dieses oder jenes Modell schaffen. Immerhin ist auch bei den Klassikern klar, dass sie von bestimmten Problemdefinitionen und -konstellationen ausgehen, die dann stark beeinflussen, welche Problemlösungsmodelle (Steuerungsformen) brauchbar erscheinen und welche nicht. Bei Hobbes und Rousseau lässt sich schön nachvollziehen, dass die Definition der Spezifität des Problems aus der jeweiligen Definition der Natur des Menschen folgt. Bei Etzioni und Lindblom ist es dann die Natur der Gesellschaft, welche die Leitprobleme vorgibt.

Ohne hier ins Detail gehen zu können, lohnt es doch, kurz diesen Mechanismus zu betrachten. Hobbes nutzt die ersten neun Kapitel seines »Leviathan«, um die Natur des Menschen zu erhellen. Er beschreibt den Menschen als Wesen, das nach Selbsterhaltung und Lustgewinn strebt, dessen stärkste Triebkräfte mithin die Furcht vor einem gewaltsamen Tode und das egoistische Streben nach den angenehmen Dingen des Lebens sind. Dementsprechend sucht er nach einem Steuerungsmodell für eine Gesellschaft, die diese Menschen im Zaume halten soll – und wir werden nie wissen, ob nicht umgekehrt das Steuerungsmodell des Leviathan, das er im Kopf hat, seine Ansichten über die Natur des Menschen geformt haben. Rousseau dagegen, der die Menschen für im Grunde gut und belehrbar, die besitzindividualistische Gesellschaft dagegen als deformiert und amoralisch begreift, setzt dementsprechend auf ein Steuerungsmodell, in welchem die Individuen im Rahmen demokratischer Regeln möglichst umfassend zur Geltung kommen sollen, jedenfalls solange sie sich infolge einer moralischen Erziehung als gesellschaftsfähig und als resistent gegenüber den Verführungen des Egoismus erweisen.

Im Rückblick fällt doch auf, dass sich heute ein gesellschaftliches Steuerungsmodell nicht mehr auf die »Natur« des Menschen gründen lässt. Je detaillierter die Erkenntnisse und Konstruktionen der Biologie, Soziobiologie, Psychologie oder Sozialpsychologie werden, desto klarer erscheint, dass wir nichts über die wirkliche, objektive, wahre Natur des Menschen aussagen können (Watzlawick 1985). Vielen Beobachtern erscheint es heute plausibler, bestimmte Annahmen über die »Natur« der Gesellschaft zu machen und daraus das passende Steuerungsmodell für diese Gesellschaft abzuleiten. Weder Lindblom noch Etzioni, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind ganz frei von dieser Anwandlung.

Ich habe bereits angedeutet, dass ich beide Ausgangspunkte, die »Natur« des Menschen ebenso wie die »Natur« der Gesellschaft, für ungeeignet halte, um zu einem brauchbaren Steuerungsmodell moderner Gesellschaften zu gelangen. In den Vordergrund möchte ich vielmehr die Art der Probleme stellen, die es zu lösen gilt. Die Gesellschaftsgeschichte belehrt uns, dass für einen bestimmten Typus von Problemen Demokratie ein ziemlich geeignetes[58] Modell der Problemlösung abgibt, während für einen anderen Typus Hierarchie das offenbar erfolgreichere Modell ist. Um welche Arten von Problemen handelt es sich?

Der einfachere Fall ist Hierarchie. Wie Max Weber in seinen Analysen der Bürokratie beispielhaft gezeigt hat, kommen die Stärken der Hierarchie dann zum Tragen, wenn die zu bearbeitenden Probleme die Form einfacher (binärer) logischer Konditionalsequenzen aufweisen und sich deshalb arbeitsteilig in einzelne Schritte aufteilen und in den Teillösungen auch wieder zu einer Gesamtlösung des Problems zusammensetzen lassen. Es handelt sich um kollektiv relevante, von einzelnen nicht lösbare, umfassende, aber klar geschnittene, oft komplizierte, aber »gut geordnete« Probleme, deren Lösung das geordnete, organisierte Zusammenwirken fachlich kompetenter Rollenträger erfordert. In Max Webers eigener Beschreibung:

»Mehr als die extensive und quantitative ist aber die intensive und qualitative Erweiterung und innere Entfaltung des Aufgabenkreises der Verwaltung Anlaß der Bürokratisierung. Die Richtung, in der sich diese Entwicklung vollzieht und ihr Anlaß können dabei sehr verschiedenartig sein. In dem ältesten Land bürokratischer Staatsverwaltung, Aegypten, war es die technisch-ökonomische Unvermeidlichkeit gemeinwirtschaftlicher Regulierung der Wasserverhältnisse für das ganze Land von oben her, welche den Schreiber- und Beamtenmechanismus schuf, der dann in der außerordentlichen, militärisch organisierten Bautätigkeit schon in früher Zeit seinen zweiten großen Geschäftskreis fand. Meist haben, wie schon erwähnt, in der Richtung der Bürokratisierung Bedürfnisse gewirkt, welche durch die machtpolitisch bedingte Schaffung stehender Heere und die damit verbundene Entwicklung des Finanzwesens entstanden. Im modernen Staat drängen aber nach der gleichen Richtung außerdem die durch steigende Kompliziertheit der Kultur bedingten wachsenden Ansprüche an die Verwaltung überhaupt. … Von wesentlich technischen Faktoren endlich kommen die spezifisch modernen, teils notwendigerweise, teils technisch zweckmäßigerweise, gemeinwirtschaftlich zu verwaltenden Verkehrsmittel (öffentliche Land- und Wasserwege, Eisenbahnen, Telegraphen usw.) als Schrittmacher der Bürokratisierung in Betracht« (Weber 1972, S. 560 f.)

Ein Teil dieser Probleme, etwa Steuererhebung oder die Aufstellung von Heeren, können sicherlich auch anders gelöst werden, etwa in der Form einer Pfründenverwaltung oder eines Lehenswesens. Aber Weber lässt keinen Zweifel daran, dass die Erfindung bürokratisch-hierarchischer Organisationsformen eine eminente Kulturleistung darstellt, weil sie die technisch überlegene und formal rationalste Form der Problemlösung sei:

[59]»Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Ueberlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert« (Weber 1972, S. 561f, Hervorhebungen H. W.).

Max Weber bringt also ausdrücklich die Art der Aufgaben und die Form der optimalen Steuerung in einen engen Zusammenhang. Sein Bezugspunkt für die Organisation staatlicher Aktivität und Aufgabenerledigung sind die großen Gemeinschaftsaufgaben: die Herstellung kollektiver Güter unter verhältnismäßig überschaubaren, kalkulierbaren, nur allmählich sich verändernden Umfeldbedingungen. Sein Begriff von Kompliziertheit ist geprägt vom Modell technisch komplizierter mechanischer Maschinen des 19. Jahrhunderts. Seine Idee von Rationalität ist diejenige einer hierarchischen Arbeitsteilung entlang einer logischen, abgestuften Ordnung von Zwecken und Mitteln.

Die Funktionalität von Hierarchie zur Lösung großer Gemeinschaftsaufgaben hängt demnach davon ab, ob die anstehenden Aufgaben so zerlegt (dekomponiert) werden können, dass jede Teilaufgabe entsprechend ihrer Verortung in der Struktur der Gesamtaufgabe auf einen passenden Ort in der Struktur der hierarchischen Organisation verteilt werden kann. Jedes befasste Element der Hierarchie übernimmt gemäß seiner Stellung und Spezialisierung einen Teilaspekt der Aufgabe; und schließlich werden die Teilleistungen entlang der hierarchischen Ordnung wieder zu einer Gesamtlösung zusammengeführt.

 

Voraussetzungen einer »Passung« von Aufgabenstruktur und Steuerungsstruktur sind also einerseits eine hierarchisch dekomponierbare Aufgabe und andererseits eine hierarchisch aggregierbare Zusammenführung der Teilleistungen. Diese Übereinstimmung von Aufgabenstruktur und Steuerungsstruktur zerbricht, sobald Komplexaufgaben auftreten, die weder hierarchisch dekomponierbar noch aggregierbar sind, etwa weil zwischen Teillösungen auf unterschiedlichen Ebenen laterale Beziehungen bestehen, die Querschnitts-Verknüpfungen, Ebenen-übergreifende Koordination, hierarchiefreien Diskurs, hohe Entscheidungsautonomien vor Ort etc. verlangen (ausführlich dazu unten Kapitel 3.1). Mit Phillip Herbst (1976, S. 1821; vgl.[60] auch Willke, 1983, Kap. 4.1) lässt sich dieser Zusammenhang in folgender Weise schematisch darstellen (vgl. Abbildung 3.1 und 3.2).

Vielleicht die aufschlussreichste Erörterung des evolutionären Sinns hierarchischer Ordnung findet sich bei Herbert Simon in einem Text über »Die Architektur der Komplexität« (1978). Simon nähert sich der Hierarchie

(O = Struktur der Aufgaben; X = Struktur des Steuerungsregimes)

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 3.1: Passung von Problemstruktur und Steuerungsstruktur

(O = Struktur der Aufgaben; X = Struktur des Steuerungsregimes)

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 3.2: Inkompatibilität von Problemstruktur und Steuerungsstruktur

[61]unter dem Blickwinkel einer allgemeinen Systemtheorie und entdeckt, dass hierarchische Systeme sich in Subsysteme aufteilen lassen, die wiederum ihre eigenen Subsysteme haben und so fort. Er fragt nach dem evolutionären Vorteil dieser Subsystembildung und stellt fest, dass es über Subsystembildung möglich wird, in beliebig staffelbaren Untereinheiten des Gesamtsystems stabile Teillösungen für bestimmte Probleme (z. B. Überleben, Stoffwechsel, den Bau einer Pyramide oder die Steuerverwaltung eines Landes) zu erfinden, zu konservieren und bei Bedarf zur Verfügung zu stellen, so dass nicht für jede neue Aufgabe alle Elemente der Problemlösung neu erfunden und entwickelt werden müssen.

Dieser evolutionäre »Trick« oder Kunstgriff ermöglicht biologischen und sozialen Systemen den Aufbau einer Komplexität, die ohne hierarchische Ordnung völlig undenkbar wäre (Simon verdeutlicht dies am Beispiel zweier Uhrenbauer, von denen der eine nach jeder Störung oder Unterbrechung immer neu beginnt, während der andere Teilgruppen zusammenbaut, also Teillösungen stabilisiert – und damit trotz einer bestimmten Rate von Störungen und Fehlern unvergleichlich öfters erfolgreich ist als sein unorganisierter Kollege). In den Untereinheiten einer Hierarchie lassen sich demnach stabile Konfigurationen erarbeiten und lokale Erfahrungen speichern, auch wenn noch keine Gesamtlösung erkennbar ist und niemand weiß, wie eine solche aussehen könnte. Auf der anderen Seite erlaubt diese Vorgehensweise hierarchischen Organisationen wie Unternehmen oder Ministerien, Teillösungen variabel zu verknüpfen und daraus innovative Problemlösungen zu bauen, die als Gesamtlösungen die Fähigkeiten des Systems überfordert hätten (beliebte Beispiele dafür sind das Manhattan-Projekt des Baus der erste Atombombe oder das Apollo-Projekt der Landung auf dem Mond).

Das Geheimnis hierarchischer Systeme ist nach Simon also ihre »Nahe-zu-Zerlegbarkeit« (near-decomposability) oder, moderner formuliert, ihre Modularität. Sie sind ohne den Verlust von Gesamteigenschaften nicht ganz zerlegbar – ein ganz zerlegbares System wäre eben eine bloße Aggregation von unzusammenhängenden Teilen. Sie sind aber auch nicht in einer Einszu-eins-Relation in allen Hinsichten verknüpft und in ihren Teilen voneinander abhängig – dies wäre der Fall eines voll vernetzten System, in dem kein Element sich verändern kann, ohne dass diese Veränderung sich unmittelbar auf das ganze System auswirkt. Modularität bezeichnet genau den Grenzfall, in dem die Subsysteme in bestimmten, für das System strategisch wichtigen Momenten zusammenhängen und über selektive Schnittstellen (Interfaces) miteinander kommunizieren, in vielen anderen Momenten und Hinsichten aber voneinander unabhängig sind, so dass nicht alle Ereignisse in den Subsystemen auch für das Gesamtsystem relevant sind, weil sie in der internen Operationsweise der Subsysteme abgearbeitet und durch Schwellenwerte, [62]Relevanzkriterien oder ähnliches daran gehindert werden, auf das Gesamtsystem einzuwirken.

Bereits in den 1950-Jahren hat Talcott Parsons (1960), der Max Webers Werks sehr genau kannte, Hierarchie als eine Form von Organisation verstanden, welche die Trennung von Ebenen mit dem Ziel erlaubt, Bereiche, Kompetenzen, Arbeitszusammenhänge und soziale Konstellationen gegeneinander autonom zu setzen und dennoch über klar definierte Eingriffs- und Durchgriffsmöglichkeiten eine »Konditionierung von Autonomie« zu erreichen: »Hierarchie schützt vor den unberechtigten Eingriffen anderer in die eigene Arbeit und bezeichnet exakt und präzise die wenigen Stellen, von denen Eingriffe erwartet werden müssen und denen Eingriffe zugemutet werden können« (Baecker 1994, S. 24).

Anders gesagt: Nicht alles, was in den Subsystemen passiert, ist für das Gesamtsystem bedeutsam. Um das Gesamtsystem zu verstehen, ist es deshalb nicht erforderlich, alle Einzelheiten der Operationsweise der Teile zu überblicken. Damit stehen »Unterteile, die zu verschiedenen Teilen gehören, (…) untereinander nur in kollektiven Interaktionsverhältnissen – Einzelheiten ihrer Interaktion können vernachlässigt werden« (Simon 1978, S. 112, Hervorhebung H. W.). Erst diese Besonderheit erlaubt es uns, die Interaktion komplexer Systeme als kollektive Interaktionen zu beobachten, ohne dass wir im Einzelnen die Feinheiten der internen Prozesse und Dynamiken kennen müssen:

»Darum ist die Tatsache, dass viele komplexe Systeme eine nahezu auflösbare hierarchische Struktur haben, ein wesentlicher Vereinfachungsfaktor, der uns befähigt, solche Systeme und ihre Teile zu verstehen, zu beschreiben und sogar zu sehen. Oder wir sollten diese Aussage vielleicht anders herum machen: Wenn es bedeutende Systeme in der Welt gibt, die komplex sind, ohne hierarchisch zu sein, dann können sie in erheblichem Umfang unserer Beobachtung und unserem Verständnis entschlüpfen« (Simon 1978, S. 112).

Diese Aussage von Herbert Simon beleuchtet den Kern der Problematik einer Steuerungstheorie komplexer (nicht hierarchischer) Systeme. Insbesondere der letztere Satz muss als prophetische Vision unserer heutigen Schwierigkeiten im Umgang mit heterarchischen, vernetzten, wechselwirkenden Systemen gewertet werden. Tatsächlich lässt sich mit Hilfe einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie (siehe dazu Systemtheorie II: Interventionstheorie, Kap. 2) heute besser verstehen, dass wir nicht sehen können, was wir nicht wissen. Wir können hierarchische Systeme beobachten, wenn wir brauchbare Vorstellungen davon haben, was eine Hierarchie ausmacht. Wir können aber nicht hierarchische Systeme, etwa komplexe Netzwerke, [63]chaotische Systeme, verzweigte Heterarchien, überhaupt nicht wahrnehmen, geschweige denn beschreiben und verstehen, wenn wir nicht vorgängig eine Vorstellung von der »Realität«, d. h. der Funktions- und Operationsweise dieser Systemformen entwickelt – und das meint: erfunden – haben.

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