Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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Das Problem der Steuerung, so lässt sich aus diesem Beispiel ersehen, ist die Auflösung einer paradoxen Verstrickung des zu steuernden Systems. Verstrickt ist es in irgendeine Art von Widerspruch, den es nicht auflösen kann, weil dies eine Reformulierung der Identität des Systems voraussetzen würde. Diese kann das System gerade deshalb nicht leisten, weil es sich in eine Verstrickung hineinmanövriert hat, die es selbst als Bedrohung seiner Identität sieht. Eine Auflösung lässt sich auf dem scheinbar naheliegenden Weg von externem Zwang, hierarchischer Weisung oder direkter Intervention nicht erreichen, weil all dies die defensive Strukturierung des Systems nur verstärkt: »The harder you push, the harder the system pushes back.« In diesem Bereich spielen tagtäglich unzählige Teufelskreise misslingender Steuerung zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, rivalisierenden Gruppen, Ethnien oder Gesellschaften. In unserem Beispiel lässt sich nicht nur Kreon in diese selbstverstärkende Spirale hineintreiben, sondern auch Antigone und ebenso Haimon. Das Grundmuster ist ein Machtkampf, in dem beide Seiten nur die Alternative Sieg/Niederlage sehen können (»Nullsummenspiel«).

Was dagegen erforderlich wäre, deutet Haimon an und vollendet Teiresias: die Anreicherung der Situationsdynamik mit weiteren Alternativen. Erst eine solche Re-Kontextualisierung (»reframing«) gibt dem verstrickten System die Möglichkeit, die ursprüngliche Alternative zu unterlaufen und damit den Teufelskreis zu unterbrechen. Entscheidend ist, dass das betroffene System selbst die weiterführenden Optionen für sich erfinden muss, um sie wirksam[17] in seine Operationsweise einzubauen. Bei diesem Findungsprozess kann es von außen unterstützt werden – durch Götter, Seher oder Orakelsprüche, soweit vorhanden, oder durch Berater, Mediatoren, unparteiische Dritte oder Steuerungsexperten in profaneren Settings. In einem entwickelteren und voraussetzungsreicheren Stadium kann es Systemen auch gelingen, die eigenen internen Kapazitäten für (Selbst-)Steuerung zu schaffen. Dazu müssen sie die Rolle des Beraters oder Mediators ins Innere des Systems bringen, ohne sie sogleich der Konformität der normalisierten systemischen Operationsweise zu unterwerfen. Wie schwierig und prekär solche Prozesse etwa in der politischen Realität sind, zeigen die Anstrengungen um eine Auflösung des israelisch-palästinensischen Konflikts oder des Konflikts in und um Irak oder Afghanistan. Diese Konflikte sind Musterbeispiele für eine jahrzehntelange Verstrickung in sich selbst nährende Teufelskreise von Gewalt und Gegengewalt. In beiden Fällen gibt es wohl nur Aussicht auf Lösungen, wenn sowohl externe Mediatoren Re-Kontextualisierungen erreichen, wie auch interne Revisionen der bislang leitenden Alternativen wirksam werden können.

Um mit meinem Beispiel der Antigone nicht den Eindruck zu erwecken, dass der Versuch der Steuerung normalerweise in einer Tragödie endet, möchte ich ein weiteres Beispiel skizzieren. Es ist insofern ungewöhnlich, als es in diesem Fall um eine hoch professionalisierte Organisationsform zur Vermeidung Katastrophen geht. Das Beispiel betrifft die Steuerung lose verknüpfter Teams für die Durchführung des Flugbetriebs auf einem Flugzeugträger (siehe dazu die ausführlichen Berichte von Weick/Roberts 1993 und LaPorte/Consolini 1991). Das Steuerungsproblem ist leicht zu sehen:

»… imagine that it’s a busy day, and you shrink San Francisco Airport to only one short runway and one ramp and one gate. Make planes take off and land at the same time, at half the present time interval, rock the runway from side to side, and require that everyone who leaves in the morning returns that same day. Make sure the equipment is so close to the edge of the envelope that it’s fragil. Then turn off the radar to avoid detection, impose strict controls on radios, fuel the aricraft in place with their engines running, put an enemy in the air, and scatter live bombs and rockets around. Now wet the whole thing down with sea water and oil, and man it with 20-years-olds, half of whom have never seen an airplane close-up. Oh and by the way, try not to kill anyone.« (Rochlin et al 1987, zit. bei Weick 1993, S. 357.)

Wie lässt sich ein derart katastrophenanfälliges Chaos so steuern, dass tatsächlich so gut wie keine massiven Unfälle passieren? Schon die Fragestellung selbst weicht aufschlussreich von den üblichen Annahmen der Risikoforschung und der Idee »normaler Unfälle« (Perrow 1992) ab. In der Sichtweise[18] dieser Konzeptionen erscheinen Unfälle schon bei milden Graden an Komplexität soziotechnischer Systeme als unvermeidlich, weil die Risikopotenziale (Schwachstellen, Fehlerwahrscheinlichkeiten) der Systemelemente sich zu einer unbeherrschbaren Riskiertheit des Systems insgesamt verknüpfen. Beispiele dafür sind Katastrophen und Beinahe-Katastrophen beim Betreiben von Atomenergieanlagen (Tschernobyl, Three-Mile-Island, Fukushima), Supertankern (Valdez) oder bei Raumflügen (Challenger). Demgegenüber ist es tatsächlich auffällig, dass selbst bei überlasteten Flughäfen oder bei Flugzeugträgern in simulierten Gefechtssituationen nahezu keine massiven Unfälle passieren. Warum?

Gäbe es eine plausible Antwort auf diese Frage, dann wäre man der Theorie einer Steuerung komplexer Sozialsysteme einen großen Schritt nähergekommen. Ich werde in den folgenden Kapiteln ausführlich auf diese Frage eingehen. Zuvor aber sollten wir, wie es sich für ein Einführungsbuch gehört, festeren Boden unter die Füße bekommen und uns zunächst einigen Grundlagen der Steuerungstheorie komplexer Systeme zuwenden. Was die allgemeinen Grundlagen systemtheoretischen Denkens angeht, verweise ich auf meinen Band »Systemtheorie I«, der in die Grundprobleme der Operationsweise und der Entwicklung komplexer Sozialsysteme einführt. Der Band »Systemtheorie II: Interventionstheorie« hängt bereits sehr eng mit dem Thema Steuerung zusammen. Er behandelt die jeder Steuerung vorgeschaltete grundsätzliche Frage, wie Intervention (als Basisoperation jeder Form der Beeinflussung komplexer Systeme) zu verstehen und zu praktizieren sein könnte. Mit dem vorliegenden Band schließe ich dieses Unternehmen der Einführung in Theorie und Praxis des systemischen Denkens ab. Wie schon beim Thema Intervention steht auch beim Problem der Steuerung immer auch die Frage im Hintergrund, ob und in welcher Weise die Einsichten der modernen Systemtheorie eine aufgeklärtere Praxis der Operationsweise von Sozialsystemen anregen könnten.

2 Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften[19]

Nach dem Ende des Mythos vom Sozialismus ist nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsform, sondern auch Demokratie als Operationsform moderner säkularer Gesellschaften auf sich selbst zurückgeworfen. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie als eine Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme gelten kann, welche den Anforderungen gewachsen ist, denen sich am Anfang dieses Jahrhunderts die entwickelten Gesellschaften ausgesetzt sehen.

Absichtlich verwende ich hier das Konzept der Demokratie nicht als bloßes politisches Herrschaftsprinzip, sondern verallgemeinert als Idee der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme. Damit kommt zum Vorschein, dass die Erfindung der neuzeitlichen Demokratie durch ihre Philosophen und Vordenker wie Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu, Madison und viele andere nicht allein die Frage politischer Herrschaft betraf. Sie bezog sich auch auf das umfassendere Problem der Ordnung einer Gesellschaft, die dabei war, in allen ihren Momenten – und nicht nur in der Frage ihrer Herrschaftsstruktur – das Wagnis der Moderne einzugehen.

Auf der anderen Seite erzwingt dieser Zugang zur Steuerungstheorie die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass nun, nachdem die Moderne jedenfalls in der Ersten Welt zur Entfaltung gekommen ist, Rückfragen an die Idee der Demokratie gestellt werden müssen. Inzwischen wird denkbar, dass die Ordnung hochkomplexer Gesellschaften durch Demokratie allein nicht mehr gewährleistet ist. Natürlich ist dieses Thema etwas heikel; deshalb will ich von vornherein klarstellen, dass es mir nicht um eine Demission der Demokratie geht, sondern um die Frage ihrer Revision unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit als Steuerungsmodell. In ihrem Bericht von 1991 an den Club of Rome konstatieren King und Schneider (1991, S. 69): »Die Demokratie ist kein Patentrezept. Sie bekommt nicht alles in den Griff, und sie kennt ihre eigenen Grenzen nicht.«

Bevor wir jedoch daran gehen, die Grenzen des Modells der Demokratie unter Steuerungsaspekten zu erörtern, empfiehlt es sich, die Stärken und die Steuerungskapazität von Demokratie näher zu betrachten. Unter dem bezeichnenden Titel »Die Intelligenz der Demokratie« hat Charles Lindblom (1965) ihre vehemente Verteidigung als Steuerungsprinzip vorgelegt. Zurecht betont er die Vorzüge dezentraler, verteilter Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, einer nicht hierarchischen Kontrollstruktur, eines iterativen und diskursiven Prozesses der Meinungsbildung, eines pluralistischen[20] Spiels der Kräfte ohne »von oben« vorgegebene Zielfunktion und andere Merkmale der Demokratie, die besonders deutlich im Kontrast zur Fehleranfälligkeit autoritärer Systeme hervortreten. Er bestätigt in der Sicht der Demokratietheorie, was etwa zur selben Zeit vor allem im Ansatz des »systems dynamics«, aber auch in der Kybernetik und den frühen »cognitive sciences«, in der Hierarchietheorie oder in der Organisationstheorie verhandelt wird: eine zunehmende Skepsis gegenüber der Planbarkeit und Steuerbarkeit komplexer Systeme und der Versuch, unter den Stichworten Dezentralisierung, Enthierarchisierung, Heterarchie oder polyzentrische Struktur angemessenere Vorstellungen über die Steuerung und Selbststeuerung komplexer Systeme zu entwerfen.

 

Aber die Euphorie über die Intelligenz der Demokratie hält nicht lange an. Bereits ein Dutzend Jahre später fragt Lindblom besorgt, ob die Demokratie noch eine Zukunft habe (Lindblom 1977, S. 344). In einer Studie, die interessanterweise ausdrücklich steuerungstheoretisch angelegt ist (ebd. S. 11), vergleicht er Tausch, Autorität und Überredung (exchange, authority, and persuation) als grundlegende Methoden sozialer Steuerung und Kontrolle. Aus einer wohlbegründeten Skepsis gegenüber der Steuerungsleistung des Marktes einerseits, aber auch autoritärer Regime andererseits, kommt er zu einer historisch vielleicht verständlichen, aus heutiger Sicht aber merkwürdigen Überschätzung der Steuerungsleistung von Überredung (preceptoral systems). Darauf will ich nicht näher eingehen (siehe aber Willke 1992, Kap. 2.3). Interessanterweise sieht Lindblom den zentralen Mangel von Demokratie als Steuerungsprinzip moderner Gesellschaften darin, dass es den marktförmigen Austausch- und Anpassungsprozessen des formal demokratischen Spiels nicht gelingt, das faktische Übergewicht organisierter Akteure, vor allem der großen Korporationen, zu korrigieren. Damit aber bricht die fundierende Idee demokratischer Steuerung – die Nutzung dezentraler Intelligenz für das kollektive Wohl und der Schutz der verteilten Entscheider vor der Übermacht einzelner Akteure – zusammen:

»It has been a curious feature of democratic thought that it has not faced up to the private corporation as a peculiar organization in an ostensible democracy. Enormously large, rich in resources, the big corporations, we have seen, command more resources than do most government units. They can also, over a broad range, insist that government meet their demands, even if these demands run counter to those of citizens expressed through their polyarchal controls. … And they exercise unusual veto powers. They are on all these counts disproportionately powerful, we have seen. The large private corporation fits oddly into democratic theory and vision. Indeed, it does not fit« (Lindblom 1977, S. 356).

[21]Dieser ebenso klarsichtige wie ratlose Schluss des Lindblom’schen Buches zeigt, wie grundlegend sich inzwischen die Situation verändert hat. Obwohl die großen Korporationen auch heute keinen Deut weniger die Praxis der Idee der Demokratie bedrohen, sticht doch sowohl ihre Machtfülle ins Auge wie auch ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht in anderen Hinsichten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs führt zu einem Kernproblem des gegenwärtigen Steuerungsdilemmas: Demokratische Gesellschaftssteuerung ist heute infolge der Globalisierung der großen Konzerne noch anfälliger für deren Ansprüche und Vetomachtpositionen, noch abhängiger von deren Ressourcen, Expertise und Implementierungskompetenz. Zugleich aber sind die Konzerne und Korporationen in entscheidenden Hinsichten ihrerseits abhängiger geworden von den Vorleistungen der Politik und anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitssystem, Rechtssystem und sogar Familie.

Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Hier geht es nur darum, die Komplizierung des Steuerungsproblems durch intensivere Verflechtungen, wechselseitige Abhängigkeiten und folgenreichere Verschachtelungen zwischen den Akteuren einer Gesellschaft zu bezeichnen. Entgegen Lindblom haben wir es nicht mit einem klargeschnittenen Konflikt zwischen demokratischer Legitimität und kapitalistischer Rentabilitätslogik zu tun, sondern mit der Dynamik einer Interaktion eigenlogischer Systeme, die ihre eigenen Blindheiten noch nicht sehen und sich von ihren wechselseitigen Abhängigkeiten noch unabhängig glauben.

Demokratie als politisches Steuerungsprinzip gerät in die Defensive, so eine erste nahe liegende Schlussfolgerung, sobald das politische Funktionssystem nicht mehr als klare Spitze einer hierarchischen Ordnung dieser Gesellschaft dominiert. Haben sich die anderen Funktionssysteme, vor allem Ökonomie, Finanzsystem, Wissenschaft und Massenmedien, aus dem Schatten einer übergeordneten Politik herausbewegt, und widerspricht zudem ganz grundsätzlich das Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung jeglichem Vorrang nur eines Funktionssystems, dann konkurriert politische Demokratie mit einer Vielzahl eigenlogischer und prinzipiell gleichrangiger Steuerungsformen. Die Frage ist dann, welches Steuerungsprinzip für die Gesellschaft insgesamt gelten soll.

Mit dieser Frage haben wir uns dem zentralen Paradox der Steuerung moderner Gesellschaften genähert: Als Steuerungsmodell der Gesellschaft insgesamt ist »politische« Demokratie ausgeschlossen, will man nicht gegen die Logik funktionaler Differenzierung, also gegen die Logik der Modernität selbst, einen Primat der Politik gegenüber allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erzwingen. Zugleich ist aber jede »undemokratische« Form der Gesellschaftssteuerung ausgeschlossen, will man nicht entgegen der[22] Logik der Moderne hinter die Errungenschaften der Menschenrechte und, darauf beruhend, die Errungenschaft der Nutzung individueller Varietät, Vielfalt und Interessiertheit zurückfallen. So bleibt als Entfaltung der Paradoxie wohl nur eine Revision der Idee der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell.

Diesem Vorhaben einer Revision des Modells der Gesellschaftssteuerung kommen inzwischen mehrere Denkbewegungen entgegen. Zum einen hat die Debatte über Unregierbarkeit herausgestellt, dass demokratische Politik allein nicht vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bis hin zu Steuerungskatastrophen schützt. Herkömmliche demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung ist kurzfristig orientiert und vernachlässigt systematisch mittel- und langfristige Selbstgefährdungen von Gesellschaften:

»Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation und dergleichen« (King und Schneider 1991, S. 104).

Zum anderen belegt eine inzwischen weitverzweigte Debatte um den Übergang von government zu governance, dass eine brauchbare Form politischer Steuerung gerade in undurchsichtigen und schwierigen Problemfeldern nur noch durch die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen realisierbar erscheint (Chhotray and Stoker 2010; Willke and Willke 2012).

Schon vor der Diskussion um Unregierbarkeit hat Amitai Etzioni mit seinem bahnbrechenden Buch über »Die aktive Gesellschaft« (1971) Fundamente einer Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften gelegt, die merkwürdigerweise bislang eher ignoriert als genutzt worden sind. Selbst Lindblom erwähnt diese Arbeit nicht ein einziges Mal, obwohl es ihm doch auch um die Frage grundlegender Formen sozialer Steuerung und Kontrolle geht. Der Grund dafür könnte sein, dass Etzioni ernsthaft eine Theorie der Steuerung anzielt (1971, Kap. 4), was nicht nur in einem amerikanischen Kontext gern als spekulativ abgewehrt wird. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass die empirisch orientierten Überlegungen, aus denen Lindblom die Idee präzeptoraler Steuerung entwickelt, in allen drei behandelten Fällen (China, Kuba, Jugoslawien) dramatisch von der historischen Entwicklung widerlegt worden sind. Ebenso dramatisch hat sich auf der anderen Seite Etzionis Beschreibung entwickelter sozialistischer Gesellschaften bestätigt, die er als übersteuerte (»overmanaged«) Systeme charakterisiert, die den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und Teilsysteme unempfänglich gegenüberstehen. Betrachten wir deshalb[23] die Grundzüge von Etzionis Idee der aktiven Gesellschaft etwas genauer (siehe dazu auch Willke 1992, Kap. 2.2).

Idealerweise sucht Etzionis Steuerungstheorie die Bedingungen der Möglichkeit aktiver Gestaltung sozialer Realität primär in der Form der Gesellschaft und reduziert sie nicht auf die Rolle der Politik. Dies liegt einem amerikanischen Gesellschaftstheoretiker sicherlich näher als einem europäischen. In Kontinentaleuropa durchzieht die Staatszentriertheit der Gesellschaftstheorie seit Machiavelli über Hegel bis zu Max Weber ungebrochen bis heute die Debatte. Dadurch kommt der Politik geradezu zwangsläufig eine herausgehobene Rolle in der Prägung der Form der Gesellschaft zu. Es ist in dieser Tradition sehr schwer, überhaupt wahrzunehmen, dass die Gesellschaft insgesamt inzwischen vielleicht ihre eigenen Formvorstellungen entwickelt und realisiert hat.

In der anglo-amerikanischen Tradition dagegen ist der Staat als Gegenstand gesellschaftstheoretischer Analyse nahezu verlorengegangen und muss erst mühsam wiederentdeckt werden (Evans 1985). Allerdings war die amerikanische Gesellschaftstheorie dadurch vor einer Überschätzung der Rolle der Politik bewahrt; es fiel ihr leichter, die Beiträge der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme in der Formung der Gesellschaft als ganzer wahrzunehmen. Eine beide Traditionen umschließende und aufhebende Position ist im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie naheliegend, weil einerseits die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem verstanden wird, dem das politische System als differenziertes und spezialisiertes Funktionssystem angehört; weil sie andererseits das eigentliche Steuerungsproblem in der Organisation der Relationen zwischen unverzichtbaren, machtvollen, eigensinnigen, zugleich autonomen und interdependenten Akteuren und Funktionssystemen sieht.

Etzioni stützt in seinen theoretischen Überlegungen diese aufhebende Position, indem er die Steuerungsfunktion des Staates für eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit einer aktiven Gesellschaft begreift:

»A society without a state is largely passive, and a state without a societal base is a control network with only a limited capacity for the mobilization of consensus. … The state is more a mechanism of ›downward‹ political control than a mechanism of ›upward‹ societal consensus-formation« (Etzioni 1971, S. 106 f.).

Zugleich vermittelt dieses Zitat, dass es nach Etzioni nicht genügt, wenn das politische System über eine staatliche Kontrollkapazität zur Implementation politischer Programme verfügt. In »postmodernen«, »aktiven« Gesellschaften ist ein komplementärer Prozess der Mobilisierung von Konsensus (»compliance«, [24]kzeptanz) erforderlich, weil die eigendynamischen und innengeleiteten gesellschaftlichen Funktionssysteme ansonsten auf politische Intervention allergisch reagieren. Solange sich z. B. gesellschaftliche Gruppierungen nicht in Interessengruppen und korporative Akteure organisiert haben, sieht sich das politische System einer Gesellschaft ziemlich anderen Möglichkeiten und Schwierigkeiten sozialer Intervention gegenüber, als wenn diese Organisierung einen hohen Grad erreicht hat. Solange das Erziehungssystem, das Wissenschaftssystem oder etwa das Gesundheitssystem einer Gesellschaft nicht über professionalisierte Rollen, spezialisierte Organisationen und ein eigenständiges Kommunikationsmedium sich selbst autonom gesetzt haben, ist es für das politische System relativ einfach, in diesen Bereichen Veränderungen zu erreichen. Nach der Ausbildung von Autonomie und selbstreferenzieller Operationsweise lassen sich diese Funktionssysteme dagegen nur noch in höchst voraussetzungsvoller und spezifischer Weise von außen beeinflussen (siehe Systemtheorie II, Kap. 5).

Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken, einige prägende Momente in Etzionis Steuerungskonzeption der aktiven Gesellschaft hervorzuheben. In ihnen unterscheidet sich die Form der aktiven Gesellschaft grundsätzlich von traditionellen Beschreibungen, vor allem von den in der Tradition von Locke und Tocqueville stehenden Gesellschaftstheorien, welche nur Individuen und individuelle Akteure kennen. Folgende Merkmale werde ich herausgreifen und kurz erläutern:

 Die Hervorhebung des korporativen Systems (»collectivity«) als eigenständiger Handlungsrealität gegenüber individuellen Akteuren;

 die Idee der systemischen Interaktion (»representational interaction«), die es erlaubt, Kommunikationen auf korporative Systeme zuzurechnen;

 das Postulat der Selbsttransformation als Fähigkeit eines Systems, sich selbst aktiv nach einer bestimmten Idee oder Vision des Systems zu verändern; und

 die Rolle des kollektiven Wissens als (gegenüber dem individuellen Wissen) eigenständiger Instanz der Identität und der Selbststeuerung eines Sozialsystems.

Die formende Bedeutung kollektiven Handelns und kollektiver Akteure für gegenwärtige Gesellschaften unterstreicht Etzioni mit dem Konzept der »collectivity«: »A collectivity is a macro-scopic unit that has a potential capacity to act by drawing on a set of macroscopic normative bonds which tie members of a stratification category« (Etzioni 1971, S. 98). Um Missverständnisse zu vermeiden, übersetze ich hier den Begriff der »collectivity« mit »korporativem System«. Die »Inkorporierung« soll auf die wesentlichen Momente der[25] »collectivity«, die dichte soziale Vernetzung und die gemeinsame normative Bindung hinweisen.

 

Die Fähigkeit korporativer Systeme zu kollektivem Handeln – und zwar nicht im diffusen Sinne eines Massenphänomens, sondern im Sinne gerichteter strategischer Kommunikation auf der Basis der Verfügung über sozietale (gesellschaftliche, gesellschaftsweite) Ressourcen und der Verankerung im Stratifikationsmuster der Gesellschaft – verbietet es, eine Gesellschaft auf die Aggregation atomistischer Individuen zu reduzieren. Wenn aber korporative Systeme wie Organisationen, Vereinigungen, Interessengruppen oder öffentliche Körperschaften gesellschaftlich relevant handeln können, dann stellt sich unweigerlich die Frage ihrer kollektiven Rechte und Pflichten, sowie die Frage ihrer Einpassung in das Steuerungsmodell der Demokratie. Die Entwicklung gesellschaftlicher Akteure außerhalb der Politik verändert die Regeln des politischen Spiels um individuelle und kollektive Güter und Rechte – und sie verändert mithin die Steuerungsaufgabe und Steuerungsfähigkeit der Politik (Willke and Willke 2008). Aber es stellt sich auch die Frage der Beeinflussbarkeit und des Einflusses der korporativen Systeme, die Frage nach dem Modus und der Qualität der Interaktionen zwischen korporierten kollektiven Akteuren innerhalb und zwischen den Funktionssystemen einer Gesellschaft.

Lindbloms Verdikt, dass große Korporationen nicht in den Rahmen der Demokratie passen, muss umgeschrieben werden, weil die Realität moderner Demokratie als Organisationsgesellschaften nur die Wahl lässt, entweder diese Realität zu verleugnen oder aber das Modell Demokratie aufzugeben. Längst gibt es keinen vernünftigen Zweifel mehr an der Beobachtung, dass nicht nur der engere Bereich der Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt von Großorganisationen beherrscht wird, so dass der politische Prozess aus der strategischen Interaktion einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen resultiert:

»Eine wichtige Folge dieser Entwicklung ist die zunehmende Fragmentierung von Macht, die auf der Handlungsfähigkeit formaler Organisationen nach innen wie nach außen und auf ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen beruht; um das zu konkretisieren, braucht man nur an die großen Unternehmen, an Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände oder an Ärzteverbände zu denken. In vielen Bereichen der Politik gilt daher, dass es der Staat längst nicht mehr mit einer amorphen Öffentlichkeit oder mit Quasi-Gruppen wie soziale Klassen zu tun hat, sondern mit korporativen Akteuren, die über eine eigene Machtbasis verfügen« (Mayntz 1993, S. 41).

Es liegt auf der Hand, dass dies die Undurchschaubarkeit, Komplexität und die Schwierigkeit politischer moderner Demokratien steigert. Aber muss deshalb[26] das Modell Demokratie aufgegeben werden? Diese Frage wird uns durchgehend beschäftigen, denn es ist die zentrale Frage einer Steuerungstheorie moderner Gesellschaften. Aber bleiben wir zunächst bei Etzioni.

Dieser bezeichnet es als eine zentrale Hypothese seiner Studie, dass im Gefüge der Typen von Interaktionen in modernen Gesellschaften sich charakteristische Verschiebungen ergeben. Während die Modi der direkten und der symbolischen Interaktion zwischen korporativen Systemen an Gewicht verlieren, steigt die sozietale Bedeutung der »repräsentationalen« oder systemischen Interaktion: »Representational interaction« nennt Etzioni eine über den institutionellen oder organisatorischen Apparat der korporativen Akteure geregelte Kommunikation, welche dem korporativen System insgesamt, nicht aber individuellen Akteuren, zugerechnet wird. Systemische Kommunikation und Interaktion wird zwar auch von kommunizierenden und handelnden Individuen, etwa Vorsitzenden, Vertretern oder Bevollmächtigten mitgetragen, ihre Inhalte und Wirkungen beziehen sich aber nicht auf diese Personen als Individuen, sondern als Repräsentanten des Systems. Ihre gesellschaftlichen Wirkungen entfalten systemische Kommunikationen aufgrund dieser Repräsentativität und ihrer Zurechnung auf das jeweilige korporative Sozialsystem, nicht aber, weil dort bestimmte Individuen handeln.

Sinnvoll ist diese Verdichtung von Kommunikationen durch Repräsentativität, weil in komplexen und dichten Sozialbeziehungen nicht jede Person und jede Gruppe in der Fülle ihrer Besonderheiten zum Zuge kommen kann, ohne das System völlig zu überlasten. Empirischen Anschauungsunterricht dafür erteilt gegenwärtig der amerikanische Kulturkampf einer völlig überzogenen »political correctness«, wonach jede noch so idiosynkratische Gruppe der Mehrheit die umfassende Berücksichtigung ihrer Besonderheiten aufzwingen kann – jedenfalls semantisch. In der Organisation komplexer Systeme sind viele Details der konkreteren Ebenen auf generalisierteren Stufen der Interaktion irrelevant, oder jedenfalls nicht unabdingbar wichtig. Der Aufbau organisierter Komplexität ist nur möglich, wenn die Dynamik und Varianz der konkreteren Ebenen durch Restriktionen der Relevanzgesichtspunkte kontrolliert und in vereinfachte Formen der Interaktion von Subsystemen gezwungen wird. In der naturwissenschaftlichen Theorie der Komplexität wird dies als Prinzip des »optimum loss of detail« bezeichnet:

»The principle states that hierarchical control appears in collections of elements within which there is some optimum loss of the effects of detail. Many hierarchical structures will arise from the detailed dynamics of the elements, as in the formation of chemical bonds, but the optimum degree of constraint for hierarchical control is not determined by the detailed dynamics of the elements. … hierarchical controls arise from a degree of[27] internal constraint that forces the elements into a collective, simplified behavior that is independent of selected details of the dynamical behavior of its elements« (Pattee 1973, S. 93).

Mit der Unterscheidung von direkter, symbolischer und systemischer Interaktion bietet Etzioni ein leicht nachvollziehbares Konzept für die Erklärung der nach wie vor höchst umstrittenen Frage, wie nicht individuelles, kollektives oder systemisches Kommunizieren und Handeln vorstellbar sein soll. Er zeigt auf, dass das Handeln von Systemen über die Figur der Repräsentativität nicht nur möglich und normal, sondern eben für komplexe Gesellschaften und ihre Makrodynamik besonders bedeutsam ist.

Diese frühen Hypothesen Etzionis sind in der nachfolgenden langjährigen Diskussion um die Theorie des Neokorporatismus eindrucksvoll bestätigt worden (Schmitter 1983; Willke 1983, Kap. 4). In korporatistischen Verhandlungssystemen, wie z. B. konzertierten Aktionen, kommunizieren die Vertreter von korporativen Systemen mit Wirkung für ihre Systeme und mit sozietalen Wirkungen, eben weil sie nicht als individuelle Personen, sondern als Repräsentanten von Systemen agieren. An diesen Fällen lassen sich auch einige der Konsequenzen systemischer Kommunikation gut beobachten: Entgegen naiven Vorstellungen von Kommunikation und Handeln kommt es für die Inhalte der systemischen Interaktion nicht nur – und heute vielleicht nicht einmal mehr vorrangig – auf die Intentionen oder Interessen der beteiligten Individuen an, sondern auch auf die Gesetzmäßigkeiten der Operationsweise der betroffenen handlungsfähigen und interessierten Sozialsysteme (siehe auch Systemtheorie II, Kap. 4.2).