Der Spion in meiner Tasche

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Die neue Freiheit

Nichts und niemand berühren wir im Laufe eines Tages so oft und zärtlich wie unser Handy. Die »Generation Nokia« erkennt noch heute den Einschaltton, der täglich auf hunderten Millionen Handys überall ertönte. 1994 erklang zum ersten Mal die Bearbeitung einiger Takte eines bis dahin unbekannten Gitarrenstücks von Francisco Tárrega als unverwechselbarer Nokia-Klingelton. In wenigen Jahren wurde er zur bekanntesten Melodie der Welt.

Lebhafte Erinnerungen an dieses erste Handy zeigen, welche starke Veränderung es im Alltag von Menschen bedeutete. Für junge Leute, deren stundenlange Telefoniergewohnheiten von ihren Oldies mit Argwohn kommentiert wurden, war das erste Handy eine Befreiung. »Bei uns zuhause hieß es immer, fasse dich kurz, vielleicht braucht jemand das Telefon für einen Notfall«, erzählt S. Sogenannte Vierteltelefone waren in Österreich noch in den 1990er-Jahren weit verbreitet – keine Anspielung auf die Weinkultur des Landes, sondern eine Telefonleitung, die sich vier Parteien teilen mussten. Wenn ein Teilnehmer telefonierte, hieß es Pause machen für die anderen drei.

»Mein Freund schickte mir ein eigenes Handy in die Arbeit. Es war gelb und zum Aufklappen. Ich weiß noch, welche Freiheit das für mich bedeutete.« Freiheit, zuhause nicht mehr auf den freien Anschluss warten zu müssen. Unabhängigkeit, nicht mehr zu genau bestimmten Zeiten Samstagabend am üblichen Platz die Clique zu treffen. Wer später kam, wurde mit Anruf oder SMS verständigt, wo die Freundinnen und Freunde inzwischen waren. Für H. brachte das erste Handy (»ein blaues Nokia 6110«) bei einem Auslandsstudienjahr in London die Freiheit, mit billigen SMS statt den teuren Ferngesprächen vom Münzfernsprecher im Studentenheim mit Freunden und Familie daheim in Kontakt zu bleiben.

»Mein erstes Handy bekam ich mit 18 zu Weihnachten. Ich wusste, wo die Eltern die Geschenke versteckten und habe es schon davor gefunden«, erinnert sich B. wie alles anfing. »Snake« spielen wurde zur Leidenschaft – ein einfach gestricktes Spiel, das auf Vierzeilen-Displays ohne Grafik und mit Tastensteuerung funktionierte. SMS wurden damals durch schnelles mehrfaches Drücken auf eine Zifferntaste geschrieben, um den gewünschten Buchstaben zu erzeugen (für jüngere Leserinnen und Leser: das Touch-Tastenfeld auf Smartphones zeigt noch heute die Buchstaben an, mit denen jede Ziffer verbunden ist. Um beispielsweise ein »F« zu schreiben, musste die »3« dreimal rasch gedrückt werden). »Ich konnte unter der Schulbank blind SMS schreiben.« Eine lebhafte Erinnerung mit Erklärungsbedarf, die man heute staunenden Enkeln zum Einschlafen erzählen kann.

Das erste Handy ein gelbes Ericsson, ein lila Alcatel, ein blaues Nokia 6110; zu Weihnachten, zum Führerschein, zur Matura geschenkt; ein Akku, der eine Woche hielt: Wie die Erinnerung an das erste Auto oder an einschneidende Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer 1989, bezeugen solche Aussagen die große Veränderung, die mit dem Handy in unserem Leben einzogen. Wenige technologische Neuerungen lösten von der Stunde Null an solchen Enthusiasmus aus.

Ein schleichendes Unbehagen

Einschneidende, berufliche Änderungen brachte für manche »der BlackBerry«, ein Kultgerät von Jungmanagern, um Tag und Nacht mit ihren E-Mails verbunden zu sein. Die Meisterschaft, mit zwei Daumen im Stakkato am »Mäuseklavier« (der Mini-Schreibmaschinentastatur) Mails verfassen zu können, erwies sich als karriereförderlich. Plötzlich kam die Arbeit mit nach Hause: Der unablässig piepsende Signalton beim Eintreffen neuer Mails war der Vorbote von WhatsApp. »Es war toll«, und es war belastend, sagt S. »Ich musste keinen Laptop mehr mitnehmen, um für dringende Fälle erreichbar zu sein. Aber ich blieb immer angespannt und schaute alle Viertelstunden nach, ob eine neue Mail gekommen war. Für mich hat hier der Begriff Work-Life-Balance seinen Ursprung.«

Aber solche Bedenken gegen übermäßigen Handygebrauch wurden vorerst in Diskussionen in der Familie, unter Freunden und Kollegen unter den Tisch gekehrt. Es überwogen Spaß und praktischer Nutzen und es sollte noch Jahre dauern, bis über Handysucht, Burnout oder Beziehungen diskutiert wurde, die auf dem Altar der Hinwendung zum Smartphone geopfert wurden. Lehrerinnen und Lehrer fanden einen neuen Feind in ihrem Kampf um die Aufmerksamkeit pubertierender Jugendlicher. Manche Schulen wussten sich nicht anders zu helfen, als die Handys ihrer Schüler vor dem Unterricht einzusammeln, um SMS-Austausch und Handyspiele unter der Schulbank zu unterbinden (was meist nur die vorübergehende Rückkehr zu papierenen Kassibern und Comics zeitigte).

Nicht mehr jede Innovation wurde gleichermaßen bejubelt. Als Kameras ins Handy einzogen und zunehmend den populären digitalen Kompaktkameras Konkurrenz machten, reagierten Unternehmen mit sensiblen Unterlagen und Produktionsstätten mit Misstrauen. Daraufhin brachte Nokia von seinem Manager-Liebling Communicator kameralose Versionen heraus, um ihre lukrativen Geschäftskunden nicht zu vergraulen.

Von Zeit zu Zeit sorgten Protokolle vertraulicher Telefonate in Zeitungen für Schlagzeilen, etwa im Zusammenhang mit der Beschaffung milliardenteurer Abfangjäger in Österreich. Die Quellen blieben naturgemäß verborgen, Geheimdienste wurden verdächtig, und vermeintlich Wissende sprachen mit verschwörerisch halblauter Stimme von »IMSI-Catchern«, mit denen Mobilfunkgespräche abgehört werden könnten – ein Gerät, das in der Nähe von Handys Telefonate und SMS zum Mithören »einfängt« und erst dann an eine Mobilfunkzelle weiterleitet (mehr über den Einsatz und das Geschäft mit IMSI-Catchern erfahren wir im Kapitel »Die fünfte Generation«).

Fälle wie diese und aufsehenerregende Kriminalfälle, bei denen wie bei O.J. Simpson die Handyortung eine wesentliche Rolle spielte, sowie der Einzug von Handys in den Ermittlungsalltag im sonntäglichen »Tatort« und andere Fernsehkrimis weckten nur langsam das Bewusstsein, dass das geliebte Handy im Zweifelsfall kein sicherer Hafen für Umtriebe war.

Alles, was recht ist

Dabei oszillieren Film und Fernsehen zwischen furchterregenden, jedoch technisch plausiblen Schreckensvisionen der Überwachung, und technischem wie gesetzlichem Humbug. Der bereits 1998 in die Kinos gekommene Film »Der Staatsfeind Nummer 1« zeichnet die Allmacht eines Überwachungsstaates dank Standortpeilung, Handy-manipulation, Gesichtserkennung, versteckten Videokameras und missbrauchten Onlinediensten. In den folgenden Kapiteln werden wir erfahren, wie mit Smartphones, datenhungrigen Apps, Cloud-Diensten, Face-Recognition und anderen Technologien diese Vision heute technisch weitgehend Realität ist. Ein prominenter Player in »Staatsfeind Nummer 1«, damals noch weitgehend unbekannt, verkörpert heute den Überwachungsstaat: die NSA, der elektronische Geheimdienst der USA.

Auf der anderen Seite finden sich SOKO-Serien, in denen zwei Kommissare mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt und ihrer Handys beraubt werden. Doch keine Sorge: Die Kollegen eilen zu Hilfe, orten am PC im Kommissariat eines der gestohlenen Handys und schicken eine Kollegin zur Parkbank, wo sie dem gerade telefonierenden Übeltäter auf die Schulter klopft und das Handy abnimmt. Nett, aber doppelt falsch: Erstens wäre am PC des Kommissariats die Lokalisierung eines Handys durch Kriminalbeamte nicht möglich. Zweitens wäre eine Lokalisierung über das Mobilfunknetz so ungenau, dass damit unmöglich auf einem öffentlichen Platz ein konkretes Handy identifiziert werden könnte.

Standortinformationen erhält der Mobilfunkbetreiber von einem Handy in den älteren Teilen seines Netzes entweder, wenn das Handy telefoniert oder gerade eine SMS verschickt, oder wenn die Mobilfunkzelle das Handy »anpiepst«. Ältere Netzteile: Das sind GSM, die so genannte zweite Generation des Mobilfunks, und das ab 2000 gebaute Datennetz 3G, anfangs als UMTS bekannt. Diese beiden Generationen sind weiterhin ein wichtiges Rückgrat der aktuellen Mobilfunknetze, obwohl inzwischen der Großteil des Datenverkehrs über 4G alias LTE vermittelt wird (auch über diese Entwicklung erfahren wir mehr im Kapitel »Die fünfte Generation«).

Den Standort zu bestimmen, fällt in 2G- und 3G-Netzen relativ ungenau aus, da nur wenige Betreiber über »Triangulation« verfügen – die Möglichkeit, durch die Anmeldung des Handys bei mehreren Mobilfunkzellen in seiner Umgebung genauer den konkreten Ort zu bestimmen. Diese Genauigkeit erhöht sich bei LTE (4G): Denn Smartphones melden sich relativ häufig bei »ihrer« Mobilfunkzelle, und diese wiederum sendet ihre Radiowellen in engeren Sektoren aus, was wiederum den möglichen Standort eingrenzt.

Anders sieht es aus, wenn es nicht um einen genauen Standort geht, sondern um die Bewegung eines Handys und seiner Benutzerin oder seines Benutzers. Durch die Verfolgung des Geräts über mehrere Funkzellen entstehen relativ genaue Bewegungsprofile. Ausreichend genau, um bei einer Ermittlung eine Person in Zusammenhang mit einem oder mehreren Tatorten zu bringen.

Hingegen ist der Zugriff auf den genaueren GPS-Teil (Satellitennavigation) von Handys dem Betreiber nicht möglich und damit der Polizei verwehrt. Dazu bedürfte es der Manipulation eines Handys durch entsprechende Software, einem »Bundestrojaner«, wie diese Schadsoftware umgangssprachlich genannt wird. In Deutschland ist dies den Behörden beim Verdacht auf schwere Straftaten seit einigen Jahren erlaubt. In Österreich wurde der Polizei dieser dringende Wunsch Ende 2019 vom Verfassungsgerichtshof versagt: Zu groß sei der mögliche Kollateralschaden für die Zivilgesellschaft (mehr darüber im Kapitel »Ibiza ist überall«).

Was der Polizei (nicht) erlaubt ist

Gemessen daran, was Smartphones heute über uns wissen und wir in den folgenden Kapiteln erfahren werden, ist dem Mobilfunkbetreiber nur eine Handvoll persönlicher Daten über das jeweilige Handy bekannt. Betreiber wissen, wer der Inhaber einer Mobilfunknummer ist, inzwischen auch bei registrierungspflichtigen Prepaid-Karten. Sie kennen den – mehr oder weniger genauen – Standort zu bestimmten Zeiten und können ein Bewegungsprofil über einen gewissen Zeitraum erstellen. Dazu kommen Verbindungsdaten: Wer wann angerufen wurde, wer wann welche SMS geschickt hat, welche Webseiten von einem Handy angesurft wurden. Und der Betreiber kennt Daten des konkreten Geräts wie dessen (manipulierbare) Seriennummer, das verbrauchte Datenvolumen, die Zahl der SMS, die Länge der geführten Gespräche.

 

Davon dürfen nur die sogenannten »Metadaten« gespeichert werden, also Daten über die aufgebauten Verbindungen, Standorte, Datenvolumen, Geräteinformation. Diese Information bleibt einige Monate gespeichert: So lange, bis Rechnungen bezahlt und nicht beeinsprucht wurden, oder allenfalls so lange, bis über einen Einspruch entschieden wurde. Die Vorratsspeicherung, die mehrjährige Speicherung dieser Daten, wurde hingegen vom Europäischen Gerichtshof als Verstoß gegen Grundrechte erkannt und beendet.

Der Zugriff auf diese Daten ist der Polizei nur aufgrund einer staatsanwaltlichen Anordnung mit richterlicher Genehmigung erlaubt. Die Betreiber müssen dafür rund um die Uhr bereitstehen. Im Falle einer richterlichen Erlaubnis können Inhalte mitgehört werden und SMS gelesen werden. Daten von konkreten Verdächtigen können »eingefroren«, das heißt so lange gespeichert werden, bis ein Ermittlungsverfahren beendet ist.

Manchmal kann dies eine alles entscheidende Hilfe sein, etwa als vor einigen Jahren in Österreich ein großer Hersteller durch die Vergiftung seiner Getränkegebinde in Supermärkten erpresst wurde. Erst durch die Lokalisierung, von wo SMS abgeschickt wurden, konnte der Erpresser schließlich durch die enge Zusammenarbeit von Polizei und Mobilfunker festgenommen werden, ehe jemand zu Schaden kam. Diese Möglichkeit der Ermittlung und Verfolgung verschließt sich jedoch der Polizei immer mehr durch die Verwendung von WhatsApp & Co. (auch darüber mehr in den folgenden Kapiteln).

Selbst wenn die Polizei ermächtigt wird, den Standort einer gesuchten Person zu ermitteln oder Telefonate mitzuhören: An den Schreibtischen im Kommissariat findet dies nicht statt, wie uns manche Sonntagskrimis suggerieren. Der Zugang zum Teilnehmer, dessen Daten überwacht und Gespräche belauscht werden sollen, muss zuerst vom »Interception Team« des Betreibers aktiviert werden. Dann werden diese Daten an eine zentrale Überwachungsstelle der Polizei ausgeleitet. Das Überwachungsteam des Betreibers selbst sieht und hört von der Überwachung nichts – dafür sorgen spezielle Verschlüsselungstechniken.

In Deutschland werden die Daten überwachter Teilnehmer an eines von neun Zentren geleitet, wo die weitere Bearbeitung durch die Ermittler erfolgt. In Österreich gibt es dafür ein polizeiliches Zentrum in der Meidlinger Kaserne in Wien. Dieses darf Information an jeweils eine Stelle bei den Landeskriminalämtern weitergeben. An dieser zentralen Stelle müssen die ermittelnden Beamten selbst vor den Bildschirmen sitzen, um im Falle eines Einsatzes Information telefonisch an die Einsatzkräfte weiterzugeben. Am Schreibtisch schnell nachschauen, wo der Täter sein könnte, oder dem pulsierenden Punkt auf dem Handy der Kommissarin folgen: Soviel Komfort gibt es nur im »Tatort«.

Was Mobilfunker wissen

Mobilfunker haben Daten darüber, wer ihre Kunden sind, wo sie unterwegs sind, mit wem sie telefonieren oder simsen und – im Falle eines genehmigten Lauschangriffs – was der Inhalt von Gesprächen und Texten ist. Wenn mobile Daten genutzt werden, werden auch IP-Adressen erfasst, die ein Nutzer ansurft. Die Inhalte – welche Seiten angesehen wurden oder wonach gesucht wurde – sind dem Betreiber nicht bekannt, da sie meist verschlüsselt übertragen werden.

Gemessen an der Information, die ein Smartphone über viele Details der Nutzung erzeugt, sind die Daten der Mobilfunker relativ bescheiden. Und sie unterliegen im Rahmen eigener Gesetze strenger Regulierung, anders als die von Konzernen wie Google oder Facebook erfassten Daten. Durch Akzeptanz der AGBs (Allgemeinen Geschäftsbedingungen) erhalten diese Anbieter weitgehend freie Hand zur weiteren Verwendung.

Dennoch sind Mobilfunker für die Polizei die erste Adresse im Zuge von Ermittlungen, da bereits Rufnummerninhaber, Standorte und Verbindungsdaten sehr aufschlussreich sind. Auskunft gibt es nur auf staatsanwaltliche Anordnung mit richterlicher Genehmigung. Je nach Anordnung können dabei auch Inhalte ab dem Zeitpunkt der Genehmigung abgehört werden. Auskünfte werden rund um die Uhr von eigenen »Interception Teams« bei den Betreibern gehandhabt. Andere Mitarbeiter, etwa in Shops oder im Service, haben keinen Zugang zu diesen Daten.

Das Jesus-Phone

Zweites Kapitel, in dem wir erfahren, wie durch das Internet am Schreibtisch unser geliebtes Handy in die Krise gerät. Worauf ein kalifornischer Messias mit einem »revolutionären Produkt« und einem bunten Blumenstrauß an Apps erscheint, die uns künftig auf allen Wegen begleiten werden.

Die Stagnation

Manchmal kann man am eigenen Erfolg scheitern. Unter unangefochtener Führerschaft von Nokia hatte das Handy geschafft, was noch keiner Technologie davor gelang: Eine de facto 100-prozentige Marktsättigung in einer Dekade. Epidemiologen kennen das Phänomen, dass grassierende Seuchen besonders aggressiver ansteckender Krankheiten wieder zusammenbrechen, sobald der Krankheitserreger niemanden mehr findet, den er noch anstecken kann. Darum zeichnete sich am Handymarkt Mitte der 2000er-Jahre das Abklingen der Manie ab, nachdem ein Handy (fast) in jeder Hand und jeder Tasche war.

Der weltweite Verkauf stagnierte, die Geräte wurden nicht mehr so häufig durch neue Modelle ersetzt wie noch zur Jahrtausendwende. Prominente Hersteller wie Ericsson, Siemens oder Alcatel zogen sich aus dem Handymarkt zurück. Hitziger Wettbewerb sorgte für billigere Gesprächsgebühren. Gut für Konsumenten, schlecht für Mobilfunker: Die Umsätze, die zuvor in den Himmel zu wachsen schienen, begannen zu schrumpfen.

Handys waren jetzt im Alltag allgegenwärtig. Mit einer Vielzahl an Klingeltönen hatten sie das Ende des guten alten Festnetztelefons eingeläutet. In den Haushalten wurden Telefonanschlüsse abgemeldet, eine Festnetznummer war ein Zeichen fortgeschrittenen Alters. Telefonbücher verschwanden aus Büros und Wohnungen.

Ein Grund für die nachlassende Liebe: Handys schafften es nicht, mit der anderen rasanten digitalen Entwicklung dieser Jahre mitzuhalten, dem Internet. Mail hatte schon vor der Jahrtausendwende Brief und Fax weitgehend abgelöst. Das Zeitwort »googeln« wurde bereits 2004 durch Aufnahme in die 23. Auflage des Duden geadelt. Printmedien kämpften gegen Einkommens- und Bedeutungsverlust durch junge Onlinemedien an und kannibalisierten sich selbst mit Gratisausgaben. Amazon wurde zum Schrecken des Handels, Facebook begann sich im Freundeskreis breit zu machen. Ein Drittel der Bankkunden nutzte schon Onlinebanking. Von YouTube bis Spotify breitete sich Streaming von Video und Musik anstelle von Downloads aus. Aber zu dieser neuen digitalen Affäre war ein PC nötig. Die exorbitanten Datenpreise der Mobilfunker verhinderten, dass Internet am Notebook außerhalb vom WLAN im Café populär wurde. Natürlich versuchten die Handyhersteller mitzuhalten. Als »MMC«, Multimedia-Computer, propagierte jetzt Nokia seine internetfähigen Handys. Damit wollten die Finnen der Kundschaft beibringen, dass sie alle Segnungen des Internets auch am Handy nutzen konnten. Vor allem Musik, was mit der Erfindung des iPods 2001 und seines Musikdienstes iTunes unangefochten die Domäne von Apple geworden war. Später wurde diese aufgemotzte Handy-Generation »Feature-Phones« getauft. Dank billiger Preise sind sie heute noch in Ländern der Dritten Welt beliebt.

Aber mit Ausnahme von E-Mail am BlackBerry und am Nokia Communicator gelang es nicht, das Handy zu einem Teil des Internetbooms zu machen. Statt wie bisher zu emotionalisieren, wurde das Publikum mit technoiden Kürzeln bombardiert, wie WAP, UMTS, MMS oder DVB-T (Auflösung: Wireless Application Protocol, Universal Mobile Telecommunications System, Multimedia Messaging Service, Digital Video Broadcasting Handheld). So kompliziert wie die Abkürzungen waren Einstellungen, Menüs und Bedienung des Internet in der Tasche. Die Geräte waren eben in erster Linie zum Telefonieren und für SMS-Texte gemacht – der schrittweise Umbau zu »Multimedia-Computern« überforderte die technische Basis und die Kunden.

Berührende Revolution

Doch Erlösung war in Sicht und sie kam von keinem der »üblichen Verdächtigen«, wie Steve Jobs vor tausenden Fans Anfang 2007 die Branchenriesen des Handymarkts auf der Bühne des jährlichen Apple-Hochamts »Macworld« spöttisch abkanzelte. Dank der Rückkehr seines charismatischen Gründers in den 1990er-Jahren hatte Apple ein beachtliches Comeback geschafft. Mit dem MP3-Player iPod und der Musikbibliothek iTunes hatte Jobs die Musikindustrie auf den Kopf gestellt. Auf der Gerüchtebörse wurde seit langem ein Apple-Handy gehandelt. Ein Motorola-Handy mit integriertem iTunes war bisher der einzige Ausflug in diesen Bereich geblieben. Nokia hatte Grund, der Herauforderung gelassen entgegen zu blicken: Mit 50 Milliarden Euro Jahresumsatz und 437 Millionen verkauften Handys jährlich waren die Finnen mehr als doppelt so groß wie Apple.

All das hinderte Jobs nicht an vollmundigen Ansagen. »Von Zeit zu Zeit gibt es ein revolutionäres Produkt, das alles verändert«, leitete er seine mehr als einstündige Show ein. Der Mac habe nicht nur Apple, sondern die ganze Computerindustrie transformiert. Der iPod krempelte Musikkonsum samt Musikbranche um. Und jetzt bringe Apple »gleich drei neue revolutionäre Produkte« auf einmal auf den Markt: Einen iPod mit großem Touchscreen, ein revolutionäres Mobilfunkgerät und einen »sensationellen Internet-Kommunikator« – »es sind drei Geräte in einem, und wir nennen es das iPhone«.

Noch mehr als ein Jahrzehnt später ist die Präsentation des ersten iPhones ein überragendes Ereignis. Im Rückblick lässt sich sagen, dass Jobs sein Versprechen vom »revolutionären Handy« gehalten hat. In seiner Keynote (weiterhin auf YouTube) führt er vor, wie schon wenige Jahre später die meisten Menschen ihre Handys benutzen würden, gleich ob iPhone oder Geräte mit Googles Android.

Anstelle einer fixen Plastiktastatur tritt das Touch Display: Ein Bildschirm wie die grafische Benutzeroberfläche des Computers, mit Fingern statt einer Maus zu bedienen. Durch den Entfall der Tastatur wird das Display größer, Bildschirm-Tasten erscheinen je nach Notwendigkeit und passen sich dem jeweiligen Programm an – der »App«. Bilder und Texte werden durch Auseinanderziehen zweier Finger vergrößert, durch zusammenzwicken verkleinert. Mit dem Finger von links nach rechts wischen, um das Gerät zu entsperren (womit Apple später ein Patentverfahren gegen Samsung gewinnen sollte) oder von einem Bild zum nächsten zu kommen. Von oben nach unten »scrollen«, um am iPod durch die Songs zu »blättern«, oder auf einer Webseite weiter zu gelangen. Telefonnummern auf einer Webseite antippen, um einen Anruf zu machen. Webbrowser und Mailprogramm, wie es Benutzer vom Computer gewohnt waren. Google Maps, um den Weg zu finden. Ein einziger Home Button, um wieder an den Anfang zurückzukehren, wenn man sich in den Apps verirrt hatte. Mit Sonderapplaus bedacht: Ein separater kleiner Schalter, um Klingeln zum falschen Zeitpunkt sofort abdrehen zu können. Und dazu den iPhone-Klingelton, der bald so bekannt sein sollte wie davor die Nokia-Tunes.

Es ist bemerkenswert, wie Steve Jobs mit dieser Vorführung im Jahr 2007 die neue Welt der Smartphones so definierte, wie sie bis heute funktioniert. Erstaunlicherweise kamen in dieser Premiere zwei essenzielle Bausteine unserer Smartphones zu kurz. Das war einerseits Fotografie am Handy: Zwar zeigte Jobs die iPhone-Foto-App und die integrierte 2-Megapixel-Kamera. Aber zu Recht hätte er bei seiner Einführung auch digitale Fotografie auf seine revolutionären Fahnen heften können. Nokia hatte dies zuvor durch eine Kooperation mit dem deutschen Traditionshersteller von Präzisionsoptiken Zeiss probiert. Doch die Daten von Fotosites wie Flickr zeigten bald, dass sich die (noch vergleichsweise inferiore) Kamera des iPhones rasch an die Spitze aller geknipsten Bilder setzte. Einfache Benutzung zählte mehr für den Erfolg als technologische Überlegenheit.

 

Andererseits fehlte jeder Hinweis auf einen App-Store und damit auf die schier unbegrenzten weiteren Verwendungsmöglichkeiten für das iPhone, die Abertausende von Apps bald eröffnen sollten. Gerade darin lag das »Revolutionäre« der neuen Handygeneration: Durch Apps können sie sich immer wieder neu erfinden. Ein Jahr später, im Sommer 2008, sollte schließlich der App-Store mit 500 Angeboten seine virtuellen Tore öffnen. Heute werden über zwei Millionen Anwendungen angeboten, zu denen täglich Hunderte neue kommen.

Der Rest ist Geschichte. Bei der Apple-Messe, bei der Jobs die Revolution verkündete, konnte das iPhone nur als sakrales Kultobjekt hinter Glas bewundert werden, wie Kronjuwelen geschützt. Bis zum Sommer 2007 durfte kein Sterblicher Hand an das Wunderwerk legen. Wie das Stehplatzpublikum bei Ballettvorstellungen der Wiener Staatsoper warteten schließlich tausende Fans in einer Juni-Nacht vor Verkaufsbeginn vor den amerikanischen Apple-Stores, um die Segnungen des von Medien nur halb-ironisch »Jesus-Phone« getauften Geräts empfangen zu dürfen. Szenen, die sich in Hauptstädten rund um den Globus wiederholten.