Ich hätte König sein können

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Z serii: Lindemanns #368
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Unberührte Unschuldslämmer

Die Busen ragten, teilweise, leicht angehoben aus den BHs und erfreuten sich an Licht und Freiheit. Die Schönheiten waren geschminkt und jene, die darauf verzichteten, weil das Licht auf den Toiletten oder fliegerische Turbulenzen keinen vernünftigen Lidstrich zuließen, bedeckten ihr Gesicht mit überdimensionalen Sonnenbrillen, deren Nasenbügel vergoldet waren.

Später, auf dem Rückflug, ein ähnliches Maskenfest. Vorbei die langen Nächte in Londons damaligen Edel-Discos „Annabelle’s“ oder „Tramp’s“, den Einkaufstouren in der Bond, Jermyn oder Kensington High Street, im Avantgarde-Kaufhaus „Biba’s“, oder bei „Harrod’s“. Die Wüstenkinder waren wieder unberührte Unschuldslämmer, eingehüllt in die Tücher der Keuschheit.

Ibtissam verlor sich nicht in der Heuchelei, der Komödie der Klamotten. Sie versuchte allerdings, das Ölumschwappte Emirat ihrer Familie zu meiden. Sie fürchtete, ihr Vater würde versuchen, sie gegen ihren Willen mit einem saudiarabischen Prinzen zu verkuppeln, solange der ein direkter Nachfahre des Herrschers war. Allein diese Vorstellung, hatte mir Ibtissam gebeichtet, sei für sie unvorstellbar – eingesperrt in einem Harem womöglich, ohne Freiheit, bewacht von Eunuchen oder Männern, die vorgaben es zu sein, begleitet von ihren aus Marokko oder den Philippinen importierten Dienerinnen beim Shopping.

Natürlich, offiziell sind Harem mit mehr als vier Ehefrauen, etwa in Marokko, Vergangenheit. Nur, wer wollte einem königlichen saudischen Abkömmling die diskrete Vielweiberei dieser Tage verbieten? Sie selbst würde reduziert werden auf den Rang einer diamantenbesetzten Gebärmaschine, von der ihr Mann, der Sohn des Königs, nur eines erwartete: Söhne. Nach einer Nacht voller Leidenschaft im Beduinenzelt würde er aufbrechen zur Falkenjagd oder mit dem Jet nach Monza düsen, zu Testfahrten mit dem neuesten Ferrari, von denen er sechs bestellte, davon fünf für seine Lieblingsbrüder.

Natürlich, das wusste sie, ein Leben mit drei weiteren Frauen, die sich den Prinzen, legal, teilen können, würde sich in einem Palast abspielen, der über Porsche SUVs verfügte, Maybachs, einige Dutzend restaurierter Oldtimer sowie aus Kentucky importierte Galopper, denen eine Klimaanlage im mahagoni-beschlagenen Stall das Wüstenleben erträglich machte.

Sicher, sie konnte sich ein Leben zu zweit durchaus vorstellen, mit Dienerinnen wie der mir bekannten sinnlichen, lieben Marokkanerin Attika, die auf Knopfdruck morgens um drei vor dem Bett stand, frischen Pfefferminztee servierte und Orangensaft, ohne diese irritierenden Fasern und Kerne. Mit Hummerschwänzen veredelte Omeletts, Zitronenpuffer, Mandel- und Marzipangebäck, unendliche Schokoladenmengen made in Switzerland, vor allem Pralinen. Morgens um fünf. Und Haschisch, welches jugendliche Nachfahren des Monarchen in Dollar-Noten drehten und rauchten. Der mit einer Pumpstation, natürlich unterirdisch montiert, betriebene Wasserfall versprühte Romantik und uniformierte Wachen vertrieben Kamele, die sich dem Wasser näherten.

Uzzis und Kalaschnikows

Die Tochter des Scheichs kannte den Preis für diese unwirkliche, wirkliche Welt made in Saudi-Arabien. Treue Zofen würden sie begleiten, denen wegen des absoluten Vertrauens beim Arbeitsantritt die Pässe entzogen werden. Leibwächter wären an ihrer Seite, bewaffnet mit Uzzis und Kalaschnikows, die von den nationalen Boykottlisten gestrichen wurden, weil die israelischen und russischen Maschinenpistolen sich als treffsicherer erwiesen als die Gewehre der unabhängigen Schweiz und des neutralen Österreich. Im unruhigen Zeitalter des grenzüberschwappenden Terrorismus sicher eine weise Entscheidung.

Bei meinem Dschidda-Besuch mit König Hussein von Jordanien traf ich auf eine Welt aus 1000 und einer Nacht – ein königlicher Palast orientalischer Dimension. Leibwächter, in Weiß gehüllt, waren mit kunstvoll verarbeiteten Säbeln bewaffnet. Aus Marmor geschlagene Brunnen, Kronleuchter, wahrscheinlich aus dem venezianischen Murano importiert. Die Lunchtafel entsprach olympischen Dimensionen – 100 Meter. Hinter jedem Gast, darunter eine Menge Prinzen, stand ein Diener. Die Hoheiten waren selbstgefällig und entrückt. Während die Könige ihre Begrüßungsreden vom Blatt ablasen, dachten die erlesenen, in Weiß gekleideten Gäste womöglich an die anstehende Falkenjagd, an den neuesten Ferrari oder die unnahbare Fatimah, die in London, bei Sotheby’s, dem Auktionshaus, Kunstkurse belegte. Sie tranken aus Kristallgläsern. So wie es der Prophet erwartet: Wasser.

Die Wirklichkeit hinter den Palastmauern sieht zuweilen anders aus – die Prinzen versäumen kein Gebet, fünfmal, ihr Soll. Zu nächtlicher Stunde allerdings füllen sie ihre Kristallgläser mit Champagner und Whisky und morgens jetten sie mit einem schrecklichen Kater gen Mekka.

Bertha T. Thompson ist Wochen vor dem Covid 19- Drama in Rhiad gelandet, der saudischen Hauptstadt, in der auch Donald Trump vor vier Jahren einschwebte, zu seiner ersten Auslandsreise als Staatsoberhaupt der USA. Sie fliegt als Captain für „Federal Express“. Sie kam erstmals aus Shanghai in Saudi Arabien an, mit kostbarer Fracht: Computer. Ground control, die Rollkontrolle, hatte dem Vollfrachter die parking position zugewiesen. Bertha ist eine jener Frauen, die als „tough“ qualifiziert werden können. Ich kann das bestätigen.

In Montmartre hatten wir uns, vorübergehend, eine Wohnung geteilt, eine sexlose WG. In ihrer Freizeit startet Bertha in Oldtimer-Langstreckenrennen im eigenen Mercedes-Benz-Cabriolet. In ihrem Heißluft-Ballon gondelt sie über die Alpen. Männer, die an Berthas Brüsten die verlorene Mami wiederfinden wollen, zumindest dieses wohlige, vertraute Gefühl von Wärme und Geborgenheit, müssen wahrscheinlich nach zwei Stunden Liebestaumel von der Flugzeugführerin die Frage hinnehmen: „War das alles?“

Das baut den Mann auf, keine Frage.

Ein am Place de Fürstenberg etablierter Galerist, der mit der Pilotin Bett und Rennauto teilte, hat mir seine Leidensphase bestätigt, die ein Saudi in anderer Form in Rhiad erlebte. Bertha, US-Bürgerin, wartete im Cockpit ihres Jets auf der ihr vorgeschriebenen Parkposition auf Vertreter des Ramp Services, einen Lademeister und einen für die Betankung zuständigen Agenten. Nach 20 Minuten Wartezeit rollten die Saudis eine Treppe an den Airbus. Der Gentleman, der an die Tür klopfte, trug ein langes, weißes Gewand, geschnitten wie ein deutsches Nachthemd zu Kaisers Zeiten. Offenbar verwirrte ihn das Weib, das sich vor ihm auftürmte, 1,80, uniformiert, offenes, langes Haar.

„Where is your captain?“, wollte er wissen.

„I am the captain“, antwortete Bertha, der die Verunsicherung des Arabers nicht entgangen war. Ihre Uniformjacke war, züchtig, geschlossen. Ganz sicher. Vielleicht waren ihre marylin-ähnlichen Rundungen zu erahnen, aber das war nicht ihr Problem, allenfalls ein Geschenk der Natur.

„Where is your co-pilot?“, setzte der Saudi nach, wohl auf männlichen Beistand hoffend.

„Gioia!“, rief die Flugzeugführerin in Richtung Cockpit, „Gioia, I need your help“.

Die 33-jährige Co-Pilotin, Römerin, Mutter, ein Kind, trat nun in die Tür, die Bertha und Gioia vom saudiarabischen Territorium trennte. Der Handling Agent schwieg, drehte sich auf seinen Sandalen und eilte die Treppe hinab. 30 Minuten später fuhr ein schwarzer Range Rover vor. Die Fenster waren mit Vorhängen verschlossen. Ein Saudi, schwarzer Anzug, Leinen, passende schwarze Loafer, informierte die aus zwei Frauen bestehende Crew: „In Ihren Uniformen dürfen Sie das Hotel nicht verlassen. Falls Sie das vorhaben, dann nur in traditionellen Kleidern, die bis zu Ihren Knöcheln reichen.“

Der Saudi transportierte die Pilotinnen direkt in die Tiefgarage des Hotels. In einem Lastenaufzug erreichten die Frauen ihre Zimmer. 15. Etage. Königreich Saudi Arabien, zwischen Falken und dem 21. Jahrhundert. Bertha und Gioia bestellten den Roomservice und schalteten ihre Fernseher auf CNN.

Eine Rolls-Royce-Jahresproduktion für Ibtissam

Für eine Frau wie Ibtissam wäre die Monatsproduktion von Rolls Royce für einen Eheinteressenten, einen saudischen Thronfolger beispielsweise, allenfalls die Anzahlung. Ibtissam belohnte sich für ihre sexuelle Askese mit Essen, vor allem Kaviar, Austern und Hummer. Na ja, und mit einigen diamantenbesetzten, goldenen Armbanduhren der von ihr geschätzten Marken Patek Phillip oder Vacheron Constantin. In ihrer unendlichen Phantasie verhielt sich meine arabische Gefährtin gelegentlich so, wie es schwangeren Frauen angedichtet wird, die von ihren Männern als Liebesbeweis Unmögliches fordern, und das vorzugsweise zwischen drei und fünf Uhr morgens: „Ich träume von Lammhirn“, hauchte sie in unserer ersten gemeinsamen Nacht auf getrennten Lagern. Ersatzweise in gewürztem Wasser gekochte Schnecken. Nur, in den Restaurants auf dem Place Dauphine gab’s nach Mitternacht ums Verrecken kein Hirn, und die Schnecken, die auf der Tageskarte angeboten werden, sind in Knoblauchbutter ertränkt. Wir näherten uns zum Lunch folglich erneut einer Alternative zwischen Kaviar und Spaghetti – bis Franz Joseph, der trotz seines kaiserlichen Namens Franzose war, ein banales Steak anbot, na gut, mit Trüffeln. „Ja, ja, das würde mich schon reizen“, sagte sie. „Nur, ich muss halal essen.“ Also Fleisch, das nach vorgegebenen muslimischen Ritualien bearbeitet wird, einschließlich des Schlachtens selbst.

„Halal und Halali, was ist da der Unterschied“, trompetete der offensichtlich korankundige Koch, und garantierte meinem Gast, in seinem Restaurant würde jede Speise nach religiösen Richtlinien angerichtet werden. Für sie sogar mit Blick auf Mekka.

Ibtissam schnitt zwei Bissen vom Steak und hatte plötzlich keine Lust mehr für eine derartig schweißtreibende Tätigkeit. „Darling, schneide mir bitte das Fleisch.“

 

Immerhin, wir näherten uns. Darling, der Startschuss für so manche Katastrophe zwischenmenschlicher Beziehungen.

Ihre hemmungslose Bestätigung, sie habe nie ungekochte Spaghetti gesehen, weil sie weder Lebensmittelmärkte betrete noch irgendwelche Küchen, zeugten nicht von Ignoranz und kindlicher Naivität allein, sondern enthielt auch die Botschaft, sie sei schrecklich verwöhnt und werde sich nicht dazu herunterlassen, für einen Mann in Kochtöpfen zu rühren. So gesehen hatte sie ihre Gleichberechtigungsgrenzen abgesteckt. Warum sollte die Tochter eines ölgetränkten Wüstenfürsten sich überhaupt mit derartig banalen Geschichten befassen. Küche? Ungekochte Spaghetti? You must be kidding! Kochbücher. Spielerei, eine Sandkiste für frustrierte Erwachsene, die beim Schneiden von Zwiebeln Kinderlieder singen. Warum sollte sie Rosenkohl entblättern und das Waschen von Blattsalat einem Opernabend vorziehen? Ja, warum? Ibtissam schleppte 40.000 Dollar in Travellerschecks mit sich herum, die berühmte eiserne Reserve. Diese Araberin wartete nicht vor dem Louis-Vuitton-Palast am Champs-Élyseés mit 436 Japanerinnen, 789 Südkoreanern, zwei Pinnebergerinnen, drei Burmanesinnen und einer vom Herrscher Kim Jong-un mit dem Taschenkauf für seine geliebte Genossin Ehefrau Ri Sol-Ju beauftragte Nordkoreanerin in der unendlichen Schlange, die vor dem gläsernen Eingang steht, wie eine Kerzenlose Lichterkette.

Feilschen entsprach nicht ihrem Kontostand

Ibtissam ließ die Luxusverkäufer, in der Vor-Virus-Zeit, in ihrer Hotel-Suite antreten, die um Mitternacht wie ein arabischer Basar wirkte. Leere Schuhkartons, ein Chanel-Abendkleid, zwei weitere Louis-Vuitton-Koffer, eine Halskette, schlicht, massives Gold, 18 Karat, die ihr ein echter Prinz empfohlen hatte. Der war, vor Jahren, bei einem Edeljuwelier, Harry Winston, an der Avenue Montaigne für die VIP-Kunden abgestellt. Schließlich war auch er eine Hoheit. Sein Vater war König. Kurzfristig. Die in einer Chanel-Tüte verpackten Birkenstock hatte Ibtissam sich – angeblich – von Karl Lagerfeld aufquatschen lassen, wegen des Gehkomforts. Sie war eine der Kundinnen des Couturiers gewesen und hatte bei Karl über Rückenschmerzen geklagt, weil sie hin und wieder bedauert werden wollte. Der PR-geschulte Lagerfeld nahm Maß und schickte eine Assistentin mit den Gesundheitsschuhen in die Nobelherberge.

Ibtissam verfügte über ein Dutzend Kreditkarten und fragte nie wirklich nach dem Preis. Das Feilschen, das die heimatlichen Basaristen zur Perfektion erlernen, ermüdete sie. Handeln entsprach nicht ihrem Kontostand.

Sie blieb nur eine Nacht bei mir, dann war ihre Suite im Plaza Athenée bereit und endlich konnte sie die Zimmerkellner zu nächtlicher Stunde damit nerven, ihr umgehend ein Dutzend Austern zu servieren, weil sie im arabischen Satelliten-Fernsehen gesehen hatte, dass das Fleisch der Meeresfrucht offenbar die Haut glättet.

Am nächsten Tag bestellte Ibtissam mich ins Hotel, weil sie Begleitung zum Kauf von sechs Kartons eines Kosmetik-Produkts namens „La Prairie“ benötigte, mit Austernextrakt veredelte Haut- und Körpercremes. Natürlich wollte sie danach nur noch bei „Marius&Jeanette“ an der Avenue George V reservieren, weil der Concierge ihr das Lokal wegen der außergewöhnlichen Austernauswahl empfohlen hatte. Ein weiterer Grund: Sie konnte das Restaurant zu Fuß erreichen, 388 Meter Fußweg.

Meine verhätschelte Freundin hat ihren Aston Martin tatsächlich einmal durch Paris gesteuert. Ein Hotelpage begleitete sie, damit Ibtissam die Adresse finden konnte, das „Ritz“, am Place Vendôme. Zwei Kilometer Luftlinie, die sie im zweiten Gang zurücklegte. Sie war mit ihrem Vater verabredet, der sich mit Vertretern einer italienischen Werft in der „Hemingway Bar“ getroffen hatte – ein kleiner Umtrunk nach Verhandlungen über den Neubau einer Mega-Jacht für einen ihm freundschaftlich verbundenen, saudischen Prinzen. Papa Scheich trank Champagner, wie immer im Ausland, natürlich in Orangensaft gequirlt – ein überzeugter Moslem verpönt Alkohol. Der Orangensaft war das Feigenblatt.

Das Heil, das auf dem Land ich suche,

nie werd’ ich es finden!

Ibtissam stellte mich ihrem Vater vor, einem untersetzten Mann, mit grauem gestutztem Bart und bläulich gefärbten Haaren. Er hat seinen Doktortitel, wie sie mir verriet, an einer Universität der US-Hauptstadt erworben. Seine intellektuellen Grenzen überwand der Wüstensohn mit dem Versprechen seines Vaters, der Schule eine neue Sporthalle zu finanzieren. Der Ibtissam-Papa beglückwünschte mich zu meinem perfekt geführten Restaurant. Offenbar verwechselte er mich mit dem Bar-Manager des „Ritz“, weil ich in einem weißen Anzug aufgetreten war. Später warnte er seine Tochter, in Weiß gekleidete Männer verdienten meist als Zuhälter oder Croupier ihr Geld. Sie solle dem Typen nicht vertrauen. Durchaus nachvollziehbar, warum die Tochter ihrem Vater nicht beichtete, zwar habe sie die letzte Nacht im Bett eben dieses Typen verbracht, jedoch ihre Unschuld gerettet.

Ibtissam ließ ihren Aston Martin vom Chauffeur einschließlich ihrer nach den Shopping-Expeditionen nunmehr elf Koffer mit einem schwarzen Mercedes-Minibus aus dem Plaza Atheneé abholen. Sie plante nämlich ein unglaubliches Abenteuer: vier Stunden in einem Zug. Ohne Begleitung. Nie in ihrem Leben hatte sie das gewagt. Ich versprach, sie zum Bahnhof zu begleiten, mit der Metro, Nummer 1, von der Haltestelle Franklin D. Roosevelt zum Gare de Lyon – zehn Stationen, ein Vorgeschmack auf ihr bevorstehendes Abenteuer. Ibtissam widersprach mir nicht und schien auch nicht empört, nun Tuch an Tuch mit Arbeitern in der Pariser U-Bahn zu stehen, die nach Pernod, Knoblauch oder Rotwein rochen und Pferdewettzeitungen studierten. In ihrer Krokotasche steckten weiterhin 40.000 Dollar. Ja, der TGV, Frankreichs Hochgeschwindigkeitszug, das würde sie wagen. In Cannes wartete, off shore, Papas Jacht auf sie, 85 Meter lang, 14 breit, bescheiden für einen Scheich der ölumschwappten Oasen, die unterdess mit Weltmachtallüren auftreten und heimlich radikale Islamisten finanzieren. Hassan kutschierte den Aston Martin gen Süden, gefolgt vom Mercedes-Bus. Abdul, der dritte Chauffeur im väterlichen Monte Carlo-Haushalt, würde Ibtissams Bordkleidung, vier Koffer für drei Tage auf See und 12 Stunden Vertauung an der neuen, modernen Kaianlage von Saint Tropez, mit dem Cadillac „Eldorado Biarritz“ direkt ans Boot liefern. Ibtissam konnte ohne Gepäck reisen, erstmals in ihrem Leben.

Sie ist heil angekommen. Hin und wieder erhalte ich eine Ansichtskarte von meiner Freundin, die wahrscheinlich nie verwelkt, den Austern sei Dank. Offenbar ist sie noch immer unverheiratet und umkreist die Welt wie der im Bariton klagende „Fliegende Holländer“, der nirgends mit seinem Schiff anlegen kann: „Das Heil, das auf dem Land ich suche, nie werd’ ich es finden!“

Kommunikation auf Trappistenebene

Die illustren Bewohner des historischen Platzes hatten ihre Hunde noch nicht an die Bäume geführt, die sich gegen tierische Fäkalien nicht wehren können, natürlich nicht. Sie müssen Kot und Urin ertragen, und gleichwohl sollen ihre Blüten Duft verbreiten und die Farben des Regenbogens übertreffen. Wer sich anno 2021 rund 25.000 Euro pro gekauften Quadratmeter leisten kann, hat womöglich solche Erwartungen. Der Place Dauphine hat mehr als ein halbes Jahrtausend hinter sich und ist ein großartiges historisches Werk, und zwar die gesamten 2.665 Quadratmeter, die über die Pont Neuf, die älteste Brücke der Metropole, anno 1607, mit der Hauptstadt verbunden sind. Keine Schlaglöcher darauf. Paris ist nicht Manhattan, wo urbaner Zerfall offenbar als Avantgarde angesehen ist.

„Il est cinque heures, Paris s’éveille“, hat Jaques Du-tronc gesungen und in seinem Text auch den Place Dauphine verewigt. So wie Rainer Maria Rilke, der die architektonische Grandeur bejubelte: „Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz ...“ Die Müllabfuhr ist eben vorbeigerumpelt und hat Leicht- wie Langschläfer auf ewig gegen sich aufgebracht. Von meinem Fenster aus konnte ich die voluptuöse Blonde sehen, die Managerin des Cafés vom „Caveau du Palais“. Sie servierte bereits Yves Montand. Der legendäre Schauspieler, geboren in Italien, lebte er seit den 50er-Jahren auf dem Place. Gemeinsam mit der französischen Ikone Simone Signoret. Ein Power-Paar. Ein freundlicher Monsieur.

Der Chansonnier, der während der deutschen Besetzung von Paris wie die Kollegen Edith Piaf und Maurice Chevalier auch Wehrmachtsoffiziere unterhielt, war stets elegant gekleidet, oft mit Pullover oder Weste, so, als wollte er in Longchamp oder Chantilly auf Pferde wetten. Er versäumte nie, mir und anderen Gästen ein „Bonjour“ zuzuwerfen oder sogar „A bientôt“. Bis bald also, aber dabei blieb es in all jenen Jahren. Bald war er gestorben, und außer einem sozialistischen Verteidigungsminister, Pierre Joxe, dessen Familie hochherrschaftlich am Platz residierte, konnten Paparazzis hier selten einen Prominenten ausmachen. François Mitterrand bettete seine Geliebten in anderen Breitengraden. Das heimliche Liebesleben des Valéry Giscard d’Estaing füllte in einer von meinem Freund Olivier Todd verfassten Biografie ein Kapitel. Monsieur Holland, einer seiner Nachfolger, ließ sich gelegentlich, wir erinnern uns, für ein „Frühstück d’amour“ von einem Leibwächter in die Élysées, nahe Rue de Cirque transportieren. Auf einer Vespa. Was folgte war ein Zirkus „à la croissant“ – der Staatschef reduziert zum Clown, der einen Sturzhelm trug und auf sein Amt wegen Misserfolgs und entsprechender Ablehnung der Bürger vorzeitig verzichtete.

Mit meinem Nachbarn, einem Pianisten, oder einer der davon träumte es zu sein, kommunizierte ich auf Trappistenebene. Wie Schweigemönche existierten wir über Jahre auf der ersten Etage nebeneinander. Mein Nebenan lehnte es ab, mit Unbekannten zu reden, selbst jenen, die ihm tagtäglich begegneten. Allerdings meldete sich der Anrainer jeden Morgen, gegen 8 Uhr, musikalisch. Seine Fenster öffnete er wie den schweren Velour-Vorhang einer Opernbühne. Die Pianoklänge schallten über den Platz. Gewaltig. Nie gelang es mir zu klären, ob der Künstler sich als Rubinstein oder Horowitz wähnte. Er intonierte jeden Morgen, 30 Minuten lang, stets dieselben, undefinierbaren Stücke. Sein Flügel war arg verstimmt. Und die Kompositionen, falls es welche waren, mindestens unvollendet. Ein wenig Schubert also. Ohne dessen Genialität. Meinen Nachbarn konnte ich nicht fragen, weil er, wie erwähnt, jedwede Unterhaltung ablehnte. Ich habe den Namen des Musikers nie erfahren, zumal der auch am Briefkasten fehlte.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Pianist Selbstgespräche geführt hat. Er hustete häufig, zuweilen röchelte er. In solchen Sekunden fürchtete ich, seine Zahnprothese sei verrutscht und er drohte zu ersticken. Seinen Briefkasten hat er nie geleert, das scheint verbürgt. Über Monate quollen dieselben Drucksachen heraus. Der Hauswart hatte irgendwann einen Karton unter die Postfächer gestellt und den „postier“ angehalten, die Sendungen für den schweigsamen Bewohner dort hineinzuwerfen. Sobald der Kasten gefüllt war, entsorgte der Concierge die gesamte Post im Müll. Der Pianist beklagte sich nicht, verriet mir der Verwalter. Er schien erleichtert, dass ihm diese Arbeit abgenommen wurde.

Beifall für ein unerträgliches Frühkonzert

Täglich punkt 9 erschien der Anonyme auf dem Platz, als wollte er sich den Beifall für sein unerträgliches Frühkonzert abholen. Maestoso. Gravitätisch. Ich schätzte ihn auf 1,88. Er war hager bis mager, eingefallen, blass. Er versuchte seine Glatze zu verbergen, indem er die verbliebenen Haare bis in den Nacken wachsen ließ und sie dann, von hinten gegelt, bis an die Stirn führte. Er hätte es mit einem Hut einfacher gehabt. Nur klassische Pianisten spielen offenbar nicht mit Mütze, nur Jazzer. Seine Hosen entsprachen der Haarfarbe: grau. Seinem blauen Blazer fehlten mehrere der goldgefärbten Knöpfe. Der Hemdkragen, vielleicht war es das einzige Hemd, das er besaß, war zerlöchert und an den Rändern zerfressen. Von den schwarzen Lackschuhen, die der Gentleman vergangener Epochen zum Smoking oder Frack schätzte, hatte sich der Lack abgemeldet; nur einige wenige Bereiche der Schuhe glänzten wie in früheren Zeiten. Hose, Hemd und Jacke fehlte jede Form. Sie waren einem Bügeleisen seit Langem entkommen. Womöglich schlief mein Nachbar in seiner Kleidung, weil ihm ein Schrank fehlte. Oder eine Daunendecke für den Winter.

Er schlurfte nicht etwa auf den Platz, sondern trat erhaben auf, selbstbewusst. Der Künstler blickte hinauf auf die wunderschönen Fenster in den historischen Gebäuden, so, als vermute er dort die Logen seiner Oper, seine Fans sowie Claqueure. Oder den Kommissar Jules Maigret. Den hat Romancier Georges Simenon nämlich zum Stammgast des Restaurants „Au trois Marches“ werden lassen, auf dem Place.

 

Der Pianist verneigte sich, nur einmal, vielleicht setzte ihm die Bandscheibe zu. Danach setzte er sich auf die Bank im Zentrum. 9 Uhr, täglich. Bis 11. Der Kunstschaffende las weder ein Buch noch eine Zeitung. Stattdessen fütterte er Tauben und Spatzen mit Brot, einem dieser geschnittenen Toastsorten, die nach einem versehentlichen Fall auf den Boden hochschnellen wie ein Basketball.

Zwei Stunden lang. Sieben Tage pro Woche. Womöglich hörte er aus der Ferne die Stimme Montands, der in seiner Parterrewohnung täglich mit einem Pianisten übte. Vielleicht machte ihn dieser Musiker neidisch.

Mein Nachbar war ein Greis, 80, 90, vielleicht auch ein frühzeitig zerfallener Sechzigjähriger. Selbst an Regentagen verfolgte er seinen Tages-Wochen-Monats-Jahresplan. An solch düsteren Tagen war er von einem übergroßen Regenmantel umhüllt, grau wie Hose, Haare und Gesicht. Er hockte auf einem gefalteten, grünen Badetuch. Gewitter schreckten ihn nicht. Wenn die Blitze zuckten, flüchteten Tauben und Spatzen, der Pianist blieb auf seiner Bank im Zentrum des Place Dauphine. Allerdings öffnete der enigmatische Entertainer einen übergroßen, karierten Golfschirm, dem einige der Drahtstützen fehlten und der deshalb wie ein zusammengerutschtes Zelt wirkte. Darunter hockte er wie eine Skulptur, eine kopflose. Magritte hätte ihn als Modell nutzen können. Zumindest den Hals, der schwanenähnlich gebogen war.

Plötzlich sprachen die Nazis französisch

Dreimal wöchentlich hörte ich seine hohe Stimme, die sich in Kastratennähe bewegte. Eine bezopfte ältere Frau, deren Strickstrümpfe gummibandverstärkt unterhalb der Knie endeten, belieferte den Greis mit Lebensmitteln. Da mein Nebenan keine Klingel oder selbige abgestellt hatte, klopfte die Frau, dreimal wöchentlich, zunächst behutsam nachsichtig, an die Tür. Nach einigen Minuten verlor sie, dreimal wöchentlich, die Geduld und hämmerte mit ihren Fäusten. Vielleicht war der Musiker schwerhörig, was seine klägliche Musik und das ungestimmte Piano forte erklären würde. Oder er litt an Alzheimer, erste Symptome, denn wie anders war es zu deuten, dass er über Jahre die Rendezvous mit seiner einzigen Kontaktperson vergaß? Der Alte, das konnte ich hören, begrüßte seine Lebensmittellieferantin nicht etwa mit einer Entschuldigung, sondern rügte sie: „Sie sind zehn Minuten verspätet.“ Sie reagierte nicht, reichte ihm eine Rechnung. Er zahlte und schlug die Tür zu. Seine Kommunikation des Tages.

Der Pianist besaß weder ein Radio noch einen Fernseher, wie mir der Concierge verriet; lediglich ein Feldbett, ein verstimmtes Steinway-Piano und die Einsamkeit. Angeblich las er die rechtsextreme Postille „Minute“.

Der stumme Monsieur hatte sich eben auf seiner Bank niedergelassen und die ersten Tauben besetzten seine Knie, als die Nazis den Place Dauphine stürmten. Hitlers Handlanger. Der Künstler rührte sich nicht, allerdings sah ich von meinem Fenster aus, wie er die nun nachrückenden Panzerspäh- und Kübelwagen, allesamt an den Hakenkreuzen erkennbar, beobachtete, vor allem die Kradfahrer, die Wehrmachtsstahlhelme trugen. Und die Männer in schwarzen Ledermänteln, die Frauen und Männer an eine Wand drängten, unweit des Cafés, in dem Yves Montand Stammgast war.

Zugegeben, für einige Sekunden war ich irritiert, verwirrt ob dieser Szenen meiner Kindheit. Kriegskind in alle Ewigkeit. An der Zufahrtsstraße zum Pont Neuf machte ich Pariser Polizisten aus, die auf ihren Hochglanz geputzten BMW-Motorrädern saßen und die chaotischen Szenen auf dem Place verfolgten – Dreharbeiten. Hollywood an der Seine. Monsieur X rührte sich nicht. Er fütterte seine Tauben.

Wusste mein Nachbar, dass dies nicht 1944 war, jener dramatische Pariser August des Widerstandes, sondern ein halbes Jahrhundert später? Nicht der Kampf der Résistance gegen die Besatzer, stattdessen der Versuch, einen Aspekt der Geschichte aufzuarbeiten?

Ein Mann, der Bootsschuhe ohne Socken trug, eine eng geschnittene Jeans und ein T-Shirt, dazu eine Baseball-Mütze, trat den deutschen Soldaten entgegen und befahl: „Cut!“

Plötzlich sprachen die Nazis französisch miteinander, und sie genossen die von der Produktion bestellten „Tartines“, Landbrot, belegt mit geräuchertem Schinken, Lachs, Paté oder Käse. Ich hatte vom Fenster aus einen Tribünenplatz und verfolgte, wie die schwergewichtige Besitzerin des Restaurants „Chez Paul“, Nachbarin der Montand-Wohnung, die Filmarbeiten zu einer Vergangenheit beobachtete, die ihr durchaus vertraut war. Kurzfristig war ich also abgelenkt und hätte so den Abgang meines Nachbarn von seiner Spatzen-, Katzen-, Köter-, Taubenkot bedeckten Bühne beinahe nicht gesehen – der war dramatisch. Der Typ, der eben „cut“ gerufen hatte, vermutlich der Regisseur, versuchte einen SS-Offizier vor den Faustschlägen des greisen Pianisten zu schützen. Er, ausgerechnet dieser stumme, in seine eigene Welt versunkene Greis.

Lunch mit Blick auf das antiquierte Klo

Tatsächlich müssen die Filmszenen Erinnerungen in dem Musiker befreit haben; aus der Vergangenheit projezierte Bilder, die den Pianisten aus dem mentalen Gleichgewicht trieben und völlig unerwartet versperrte Türen aufrissen. Auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung trat der Greis auf den SS-Mann zu und spuckte ihm ins Gesicht, nicht nur einmal. Obendrein trat er dem Uniformierten ins Geschlechtsteil. Immerhin waren die Gebeine meines stummen Nachbarn noch gelenkig. Sodann setzte er dem Schauspieler seine Faust ans Kinn. Mein Nachbar! Der Darsteller traf ihn mit mehreren Kontern am linken Auge und knallte ihm eine Rechte auf die Nase. Die blutete heftig, ein Auge war blutunterlaufen und schwoll an. Der Pianist war gezeichnet, wie der Brite Henry Cooper nach seiner Begegnung mit Cassius Clay (Muhammad Ali) im Juni 1963 in London. Erstmals zeigte das Gesicht des Künstlers in all diesen Jahren unserer stummen Nachbarschaft Farbe. Der schweigsame Eremit akzeptierte die Entschuldigung des Regisseurs für die Konter seines Schauspielers und nahm eine Einladung ins „Chez Paul“ an. Außerdem versprach der SS-Schläger, der übrigens an der Comédie Française unter Vertrag war, dem verstörten Musiker ein neues Hemd, denn das vergilbte war nun blutgefärbt und würde eine Wäscherei nicht überstehen.

Wegen des Faustkampfes hatte mein Nachbar seine Lebensmittellieferantin versäumt, die ihre Plastiktüten, regelwidrig, vor dessen Tür stellte.

Nach der Reaktion des Pianisten auf die Naziszenen war ich nicht sicher, ob die Einladung ins „Chez Paul“ wirklich eine gute Idee war. Denn die Wirtin, das hatte sie mir anvertraut, war Nazioffizieren, damals in der düsteren Zeit, als junge Kellnerin, durchaus zugetan: „Das waren Gentlemen. Ja, das waren sie! Meine besten Liebhaber überhaupt.“

Vielleicht fanden Schauspieler und Wirtin gleichwohl zueinander, denn so mancher der Comédie-Française-Darsteller applaudierte in vergangenen Zeiten ihrem greisen Marschall Pétain, der sich mit den Nazis eingelassen hatte. In frühen Jahren wäre die Französin womöglich von Richard Wagner als Walküre gecastet worden, als Brünhild vielleicht. Sie war vollschlank und vollbusig, blond und blauäugig und nicht abgeneigt, einsame Germanen an ihre Busen zu ziehen. Um die hätte selbst eine Jane Mansfield die Wirtin beneidet.

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