Widerstreit

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LUFTHOHEIT ÜBER DEUTSCHLANDS STAMMTISCHEN

Der Wut-Bürger setzt auf reflexhafte Empörung. Mut-Bürger dagegen auf konstruktiven Streit. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.

Wir kennen die Bilder: Immer wieder montags trafen sich in Dresden Tausende von »Wutbürgern«, um Rednern zu applaudieren, die für Volk und Vaterland den Notstand ausriefen, überall Gefahr und Verrat witterten und eindringlich vor Flüchtlingen und Lügenpresse warnten. Montag war Wut-Tag.

Deutsche, hört die Signale! Geschrei, Gegröle, Gezeter – der akustische Soundtrack aller Empörten und Enttäuschten von Sachsen bis in die Niederungen heimischer Mittelgebirge, ein Sound, jederzeit imstande, kollektive reflexive Handlungshysterie zu entfachen. Die Echo-Welle des Unappetitlichen und Unangepassten, von der sich der national-gesinnte Wutbürger gerne mitreißen und mittragen lässt, hält ungebrochen an.

Auch die gern zitierte »Mitte der Gesellschaft« ist von ihr erfasst. Flüchtlinge, Ausländer, Asylanten, kurzum »alles Fremde« – alles, was sich immer schon eignet als ideale Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Probleme im eigenen Planquadrat. Nationalistische Angst-Fantasien als Motor und Motivation, als Appell und Attacke. Es geht um die beschworene »nationale Identität« und besteht in der Abgrenzung nach außen. Das Motto: »Deutschland zuerst!«

Und so findet sich nun beinahe eine Hundertschaft von AfD-Abgeordneten im Bundestag, um die gefühlte Heimat zu verteidigen – wenn es sein muss, mit schriller Rhetorik. Es geht um »kulturelle Wurzeln«, um »Völkisches« und vor allem: gegen die »Altparteien«, die »Lügenpresse«, »die Volksverräter«. Die Frage lautet: Ist das noch in Ordnung, ist das noch verfassungsgarantierte Narretei – oder schon nazi-kontaminierter Wahn? Ignorieren, tolerieren oder aufregen? Ja, keine Frage: es gibt sie, die mediale und politische Tendenz, alles im Konsensabgleich zu erledigen, so als sei unsere demokratische Hausordnung gleich in höchster Gefahr, wenn Sprache und Begriffe mal pubertär rüpelhaft, mal politisch grenzdebil durchs Parlamentsplenum, über die Plätze der Republik – oder samstags durch die Stadionkurven – zu laut und zu schrill daherkommen. Das ist mitunter unangenehm, anmaßend, abstoßend, gar grenzdebil. Was tun?

Wir sollten solcherlei Entgleisungen einerseits nicht mit allzu übertriebener Empfindsamkeit begegnen, den Rest – so sieht es unser Rechtsstaat vor – klären Staatsanwaltschaften und Gerichte. Andererseits: Zu viel Verständnis und coole Toleranz gegenüber jeder Form politischer Dummheit und Devianz ist auch nicht immer die sinnvollste Reaktion. Vor allem die extreme Rechte provoziert gerne mit wirren Begriffen und lenkt damit ab von ihren noch wirreren Ideen. Wer das AfD-Führungsduo Gauland und Weigel einmal in Talkshows erlebt hat, findet hier eindrucksvollen Anschauungsunterricht, wie die AfD-Fraktion im Bundestag agiert. Verbaler Treibstoff für eine national-konservative – wenn es sein muss – auch rechte Identitätsmaschinerie, live aus dem Berliner Plenarsaal.

Da will auch die CSU als verlässlicher Begriffslieferant nicht hintenanstehen. Wie weiland schon Franz-Josef Strauß proklamierte, »dass rechts von der CSU nichts wachsen dürfe«, fordern nun auch dessen Nachkömmlinge pflichtschuldig ein AfD-grundiertes neues deutsches Heimatgefühl. Beispielsweise Alexander Dobrindt. In der Tageszeitung Die Welt, dem Leitmedium der bürgerlich-konservativen Mitte, fordert er einen längst überfälligen gesellschaftlichen Aufbruch, eine »konservative Revolution«. Unter »konservativen Revolutionären« versteht die Geschichtswissenschaft elitäre, antidemokratische und deutschnationale Kräfte, die gegen die »dekadente« Weimarer Republik gekämpft haben. Männer wie Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger, die zu Gewaltfantasien und Apokalyptik neigten, denen die Moderne und mit ihr die »Zivilisation« als Grundübel galten.

Stellt sich die Frage: Benutzt der CSU-Mann diesen Begriff bewusst? Der Berliner Journalist Michael Angele findet für den Geist, der aus Dobrindts Traktat spricht, den Begriff »Extremismus der Mitte« – und weil dieser neue Extremismus der Mitte alte Feindbilder braucht, verbindet der CSU-Frontmann seine rhetorische Kraftmeierei mit einem rabulistischen Gestus gegen die »68er«, die als die großen Zerstörer dastehen. »Linke Ideologien, sozialdemokratischer Etatismus und grüner Verbotismus« hatten ihre Zeit, skandiert Dobrindt und fordert eine »neue, konservative Bürgerlichkeit« für die Republik.

Vor allem will seine Partei bei der kommenden bayerischen Landtagswahl die verlorenen Stimmen ihrer Stammwähler zurück, die bei der Bundestagswahl bei der AfD ihr Kreuz gemacht haben. Grund genug, genauso zu sprechen wie die Rechtspopulisten. Nur nebenbei wollen wir festhalten: Dobrindts Partei ist in Bayern seit etwa sechzig Jahren durchgehend und im Bund 17 der vergangenen 25 Jahre an der Regierung beteiligt. Es bleibt also eher diffus, warum der proklamierte Aufbruch dort nicht stattfand. Christian Stöcker bringt in einer Spiegel-Kolumne das eigentliche Problem der Konservativen auf den Punkt: »Es fällt ihnen sehr schwer, den Wesenskern ihrer Weltanschauung klar zu formulieren. Vielleicht, weil sich Rassismus, Sexismus und Nationalismus nur die abgebrühtesten Rechtspopulisten zu formulieren trauen.« So ist es.

Es geht um die Lufthoheit über Deutschlands Stammtischen, um die Deutungsmacht von Begriffen: um Heimat und Vaterland, Familie und »christliche Werte«. Das gehört nun einmal zur DNA der Bayern-Partei. Vor allem aber geht es um eines: um Machtgewinn oder Machtverlust. In Abwandlung des großen Volksphilosophen Sepp Herberger, der einst verlautbarte, dass das nächste Spiel immer das schwerste sei, gilt für die neuen Eiferer des Konservativen: Die nächste Wahl ist immer die wichtigste. Der Kampf um »den Wähler draußen im Lande« ist also entbrannt. Lautstarke Empörungs-Rhetorik und eingespielte Leerformeln sind der Sound der Wahlkampfzeiten. Keine Partei pocht auf besondere Alleinstellungsmerkmale. Alle mischen mit. Wir haben uns daran gewöhnt.

Tatsache ist: Vor allem das politische Entertainment ist mitunter an einem Punkt angekommen, an dem es unerträglich geworden ist: Schlichte Verdummungs-Slogans wie »Ein Land, in dem wir gut und gerne leben«; im Nachbarland Österreich wird ein telegener, konservativer junger Mann zum Kanzler gewählt, der mit Plakaten warb, auf denen stand: »Es ist Zeit!« Zeit wozu? Wofür?

Dass sich Herr Kurz mit dem rechtslastigen Herrn Strache ins politische Bett legte, ist besonders unappetitlich. Man will sich nicht vorstellen, wie es mit der AfD hierzulande laufen würde, wenn sie statt des miesepetrigen Gauland einen Schwiegermutter-Strahlemann wie diesen Sebastian Kurz hätte. Das alles sind überschaubare Zorn-Beschleuniger. Aber es gibt natürlich auch die volle Dröhnung – gewissermaßen im XXL-Format. Für die konstante Belieferung unseres Zorn-Depots wird gesorgt: die politische Klasse, die globalen Finanzjongleure, allerlei beseelte Ideologen und religiösen Fundamentalisten liefern beständig.

Hier ein kleiner Abriss der laufenden Zumutungen: Zornig macht die beschämende Nicht-Aufklärung der NSU-Mordserie, die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes, die diese »Dienste« etwa in Hessen und Thüringen dabei gespielt haben. Zornig machen die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, vor allem deren jahrzehntelange Vertuschung. Täter wurden »kirchenintern« gedeckt, allenfalls versetzt – anstatt die Staatsanwaltschaft zu informieren.

Zorn kommt auch auf, wenn ausgerechnet Exministerpräsident Koch – verliehen vom jetzigen Ministerpräsidenten Bouffier – einen Preis bekommt, der nach Wilhelm Leuschner benannt ist: der Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer Leuschner war nach einem Volksgerichtshof-Schauprozess 1944 in Berlin hingerichtet worden. Der Preis soll an ihn und sein mutiges Eintreten gegen die Nazis erinnern und Personen würdigen, die sich »im Geiste Leuschners hervorragende Verdienste um die demokratische Gesellschaft« erworben hätten. Herr Koch, der einst in der Affäre um CDU-Schwarzgelder von »jüdischen Vermächtnissen« geschwindelt hat, bekommt den Preis und die braven Partei-Claqueure applaudieren. Eine Groteske.

Halten wir fest: Widerstand beginnt dort, wo sich die Bürger gegen Ignoranz und Arroganz, die Verwandlung von Politik in Verwaltung oder Therapie auflehnen. Dann kann es mitunter laut und gewalttätig werden. Aus Empörung wird militante Attacke, flammender Protest, gewalttätige Revolte. Aus Wut zerstörende Gewalt. Ob »Links« oder »Rechts«, ob sogenannte internationale »Antifa« oder nationale »Pegida«: Wut ist lagerübergreifend unbeherrscht. Ein allzu alltäglicher Reflex und nicht selten auch sicht- und hörbarer Beleg für ein reduziert-redundantes Weltbild, für ein einfaches Zurechtrücken komplizierter Wirklichkeiten und vor allem: Verweigerung des politischen Streits.

LOB DES ZORNS

Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn erscheint in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann nur Attitüde und Pose? Höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns zu verteidigen – gegen selbsternannte Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler.

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Mitunter haben wir es in Zusammenhang mit wütenden, altersgereiften Wutbürgern oder empörten, jungen Querköpfen gebraucht, die gegen den Abriss von Bahnhöfen, bedrohliche »Überfremdung« oder die »Merkel-Diktatur« demonstrieren. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlosen Schwestern des Zorns?

 

Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt häufig unscharf. Da hilft vielleicht, die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander?

Was ist mit all den zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, für mehr Bienenschutz und gegen Massentierhaltung, all diesen landesweiten Protest-Ritualen, die, nicht selten begleitet von düsterer Untergangs-Rhetorik, die Bürger-Demokratie beschwören und lebendig halten? Was ist mit der jungen Fridays for Future-Bewegung, den Seenot-Rettungs-Akteuren, den Aktivisten von Amnesty International – und was mit den »Querdenkern« und den diversen Polit-Hooligans? Handelt es sich hierbei um »gemeinsame Zorn-Erfahrungen« oder sind sie allenfalls Ausdruck einer »schimpfenden Weltbetrachtung«, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Ob Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?

Zorn ist allgegenwärtig. Er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn: Seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden. Wo der Zorn des Einzelnen sich bündelt und zum Zorn der Menge anschwillt.

Zahllos sind die Anlässe, die Menschen in Rage versetzen, wütend und zornig machen. Betrachtet man das Gefühlsfeld der Unzufriedenheit auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden (»ein aggressiver Mensch…!«).

Wie aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann man diesen Prozess beschreiben? Geht dem eigentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist Hass Kennzeichen des langanhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Ist Zorn die Leidenschaft und Wut der Affekt, also das eine das langsam Anschwellende, das andere der plötzliche Ausbruch? Und wäre dann nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl?

Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig schwer zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinandergreifen. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, die sich in ihrem Buch »Philosophie der Gefühle« mit dem Zorn und anderen Aggressionsaffekten beschäftigt haben, nennen einige hilfreiche Kriterien zur Differenzierung: »Das Gefühl des Zorns muss ein personales Objekt besitzen, es muss jemanden geben, dem gezürnt wird. Sodann sind es im Fall des Zorns häufig der Zürnende selbst oder zumindest ihm Nahestehende, die durch das Unrecht geschädigt wurden, um derentwillen Zorn empfunden wird. Beide Bedingungen gelten für Empörung nicht unbedingt.« Während also Empörung noch vage sein kann in der Zuschreibung von Verantwortung und kausaler Zuständigkeit, übertroffen nur noch von einer diffusen »Betroffenheit«, muss im Zorn – so die Autoren – der Gegner bereits identifiziert sein. »Gezürnt werden kann nur jemandem.«

Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich grundierten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen. Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Die subjektiven Gefühle und Handlungsmaximen freilich sind kaum zu vereinheitlichen: wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, konstituiert sich bei einem weiteren nichts als kühler Zorn. Wütend darf der Mensch sein, aber das Recht zum großen Zorn kommt – das haben wir bereits festgestellt – allenfalls den Göttern, niemals aber dem Menschen zu. Denn Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky in seinem »Buch der Laster« hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. »Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt blind um sich, behilft sich notfalls auch mit Ersatzobjekten.« Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall.

Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem. »Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende«, analysiert Sofsky scharfsinnig, Seine Betrachtungen bescheinigen dem Zorn eine zähe Destruktivität. »Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.« Man mag dem Autor hier gerne widersprechen, denn die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt »fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«. Im allgemeinen Werteempfinden wird dieser »gerechte Zorn« durchaus akzeptiert.

Klima-Katastrophe, Kriege, Flucht, Hunger – an Zorn-Anlässen besteht kein Mangel. Es findet sich eine neue Art von Volkszorn, von den politischen und wirtschaftlichen Eliten gerne als zerstörerische Energien junger Menschen missverstanden – oder denunziert. Wer den Protest-Bewegungen das Politische und das Soziale abspricht und auf eine tiefenpsychologische Grundkraft reduziert, der ignoriert freilich die produktive Potenz des Zorns – individuell und gesellschaftlich. Gilt das auch für die gegenwärtige Randale militanter Polit-Hooligans, die in Washington, Berlin, Stuttgart und anderen Städten als neuer Prototyp des Zornigen die politische Arena betreten? Ob Capitol-Erstürmung, Antifa-Radau, Pegida-Pöbelei oder Querdenker-Demos – »der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde«, konstatiert Manfred Schneider in der NZZ. Seine politische Chiffre reicht von links bis rechts, von esoterisch bis vollends verwirrt. Er benötigt nur eine positiv oder negativ besetzte Parole, um seiner Wut den notwendigen Impuls zu verleihen. Er braucht keine Haltung, keine Idee, nur ein »ungutes« Gefühl und schlechte Stimmung«. Nichts hat er gemein mit den mutigen Bürgern in Belarus, Hongkong, Myramar oder anderswo, die gegen Menschenrechtsverletzung, Wahlfälschung und Korruption, trotz Polizeiterror und drohender Verhaftung unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen. Die eigene »Protest-Legitimation« des Wutbürgers speist sich aus seiner Wirklichkeits-Verleugnung – potenziert in kollektiven Echo-Räumen, in denen er sich mit Gleichgesinnten dauererregt austauscht und seinen Wut-Akku auflädt.

Blicken wir nur ein paar Jahre zurück: ob Ost oder West, allerorten Pegida-Aufmärsche. Als letzte nationale Hoheitszeichen schwenkte die neue rechtslastige Bürger-Front schwarz-rot-goldene Fahnen und brüllte nationale und faschistoide Parolen: »Deutschland gehört uns!« und »Ausländer raus!«. Diese rückwärtsgewandten Wut-Bürger, nicht selten durchaus eher privilegiert als marginalisiert – staatlich ordentlich versorgt als Beamte und Rentner –, sie alle einte die Wut, »ihre« Kultur-und Traditionsgemeinschaft in Auflösung durch Flüchtlinge, Eliten und parlamentarische Volksverräter erleben zu müssen. Montag war Pegida-Tag. Ein Protest-Event zwischen Panik und Paranoia. Ging es hier »um die in der eigenen Heimat empfundene Heimatlosigkeit«, wie Jens Jessen in der Zeit konstatierte, um eskalierende Globalisierungsfurcht? Kurz, um Verlust- und Verliererängste?

Der britisch-indische Autor Pankaj Mishra versucht in seinem Buch »Das Zeitalter des Zorns« eine Erklärung dafür, wie diejenigen, die im Prozess der Globalisierung nicht zu den Gewinnern gehören, anfällig für Demagogen sind. Alle, die zurückgelassen werden und sich ausgegrenzt fühlen, reagierten immer auf die gleiche Weise: mit Hass auf erfundene Feinde, dem Heraufbeschwören von Untergangs-Szenarien und der Selbstermächtigung durch Gewalt. Das Fremde wird als Bedrohung erlebt. Daraus resultiert Angst, Wut – und mitunter auch langlebiger Zorn. Sind Wut und Zorn also doch Brüder im Geiste?

Schauen wir auf die Jetzt-Zeit: selbsternannte »Querdenker«, die sich den staatlichen Sicherheits-Anordnungen verweigern, die sich vom Staat getäuscht, reglementiert und verfolgt fühlen und zum Widerstand gegen die »Corona-Diktatur« aufrufen. Die kein Problem damit haben, neben rechtsradikalen Plakaten und antisemitischen Spruchbändern zu marschieren und sich nicht entblöden, sich als die wahren Erben, als »Kämpfer der Freiheit« auszugeben. Können auch sie eine »produktive Potenz des Zorns« für sich reklamieren? Oder handelt es sich hier eher um ein Trauerspiel kollektiver Wirklichkeitsverweigerung, um hippe Events des kollektiven Wahns?

Geschlossene Wahn-Systeme haben Konjunktur. Auf digitalen Plattformen wird geleugnet, gehetzt und polarisiert. Boris Groys, international angesehener Philosoph, der an der New York University lehrt, hat darauf hingewiesen, dass die zahllosen wahnhaften Verschwörungs-Erzählungen mit dem Aufstieg der weltweiten Informationssysteme zu tun haben. Viele Menschen misstrauten etablierten Medien, völlig unabhängig davon, wie seriös oder unseriös sie arbeiten. In Krisen-Zeiten würde dieses Misstrauen von einem Gefühl der Ohnmacht verstärkt. Für diese Ohnmacht suche man eine Erklärung – und hier bieten sich krude Verschwörungstheorien an. Groys wies auch darauf hin, dass in einer Konkurrenzgesellschaft auch Verschwörungstheorien in Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anhänger miteinander stehen. Gewissermaßen ein Wettbewerb des Grauens. Die »Wahrheit« von Corona-Leugnern erlaubt keine Abweichung, sie muss düster, apokalyptisch und schrecklich sein: schuldig sind der Staat, die »herrschenden« Politiker, die Pharma-Industrie, finstere Dämonen oder wahlweise Bill Gates. Für Groys Versuche, die komplizierte Wirklichkeit mit bizarren Mythen und Wahn-Erzählungen zu erklären.

Halten wir fest: Der Zorn kommt in vielfältiger Gestalt daher und ist beileibe nicht immer produktiv und zukunftsorientiert. Er kann Ausdruck sowohl einer kritisch-produktiven Geistes- und Emotionshaltung sein, die sich mit der Welt und ihren Zumutungen so nicht abfinden und befrieden will, aber auch Ausdruck einer Haltung, die oft den Nebenschauplatz, etwa einer verloren geglaubten Kultur, zum Hauptkampfplatz macht. Wut und Hass haben keine gesellschaftliche Verortung, sie sind politisch heimatlos. Aber sie sind immer fanatisch, egomanisch, destruktiv – und dumm. Auch der Zorn steht immer in Gefahr, nicht klug zu agieren. Es geht also darum, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen und den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Kurzum, es ist höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen und zu verteidigen – gegen selbsternannte Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler.

 

Zorniger Geist verachtet Dummheit und Wahn. Er setzt nicht auf blinde Gewalt, nicht auf coole Randale, nicht auf eruptive Militanz – sondern andauernden Disput, auf konstante Auseinandersetzung. Zorn, heißt es bei de Tocqueville, »kann man nicht einsperren, teilen oder exportieren«. Zorn sucht den konstruktiven, oft auch zähen Diskurs. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.