Was Lehrerinnen und Lehrer stark macht (E-Book)

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•… handeln immer unter öffentlicher Beobachtung durch Schüler und deren Eltern, aber auch durch Kolleginnen und Kollegen bis hin zu Schulleitung und Schulaufsicht. Alles, was sie in einer Unterrichtsstunde sagen und tun, hat quasi öffentlichen und justiziablen Charakter. Dies verlangt Selbstkontrolle, innere Unabhängigkeit, Selbstsicherheit und Stabilität.

•… benötigen eine funktionierende Selbstorganisation, da ihre Arbeitszeit nur teilweise definiert ist und sich mit ihrer Freizeit vermengt. Dafür sind insbesondere gutes Zeitmanagement (→ Kapitel 12) und ökonomische Arbeitsplanung sowie eine geringe Neigung zur »Aufschieberitis« (Prokrastination) hilfreich.

•… müssen damit rechnen, dass ihre Arbeit nicht von allen Adressaten akzeptiert wird. Das birgt ein hohes Konfliktpotenzial und stellt Motivation und Berufszufriedenheit der Lehrkräfte häufig auf die Probe.

•… müssen sich damit auseinandersetzen, dass sich die Ziele und Interessen der Schülerinnen und Schüler nicht immer mit dem Auftrag und den Absichten der Schule decken. Das verlangt permanent anstrengende, motivierende, kreative »Überbrückungsarbeit«.

•… haben selten die Zeit, die sie aufbringen möchten, um ihre Arbeit mit einer sie selbst zufriedenstellenden Qualität und Perfektion zu leisten, zumal ihre pädagogische Aufgabe »nach oben offen«, nie wirklich erledigt ist. Darüber hinaus werden ihnen auch immer wieder neue Aufgaben zugewiesen, für die sie nicht ausgebildet sind. Dies verlangt nach Abgrenzungsfähigkeit und Grenzsetzung sowie Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheit.

•… agieren in einem asymmetrischen Beziehungsfeld. Lehrkräfte und Schüler kommunizieren und interagieren nicht auf Augenhöhe und haben unterschiedliche Freiheitsgrade in der Toleranz von Einstellungen und Verhaltensweisen. Auch hier sind personale Kompetenzen gefragt, vor allem emotionale Stabilität (→ Kapitel 8).

•… müssen sich damit abfinden, für ihr Engagement nur eingeschränkte Anerkennung zu erhalten. Angesichts der oftmals nur geringen Wertschätzung ihrer Arbeit bei den unmittelbar Betroffenen und in der Gesellschaft sowie der recht begrenzten Beförderungsmöglichkeiten benötigen sie für eine ausgewogene Gratifikationsbilanz eine stabile, optimistische und belastbare Selbstwertschätzung. Ohne ein gewisses Maß an Idealismus ist das schwer zu ertragen.

•… stehen bei Beurteilungen und Benotungen immer wieder in einem inneren Widerspruch zwischen verschiedenen Bewertungsnormen und wenig differenzierenden Noten. Das verlangt eine Auseinandersetzung mit den Themen Gerechtigkeit, Beurteilungsfehler und Gradlinigkeit.

•… müssen hin und wieder einsehen, dass ihre diagnostischen Kenntnisse begrenzt sind oder ihr Handlungsrepertoire erschöpft ist und sie Rat und Unterstützung von Fachleuten anderer Disziplinen benötigen (z. B. Schulpsychologen, Sozialpädagogen). Das verlangt Souveränität, sich Grenzen einzugestehen, Rat und Hilfe anzunehmen.

Ob man diese Charakteristika zu den Anforderungen zählt, die zum Lehrerberuf gehören, oder ob man sie als Belastungen im Sinne von Hindernissen und Widerständen bei der Erfüllung des Arbeitsauftrages betrachtet, unterliegt der jeweiligen Perspektive. Als unbedingt belastend wird von Lehrerinnen und Lehrern immer wieder die Kombination von Lernverweigerung, gemeinschafts- und lernprozessstörendem Verhalten von Schülerinnen und Schülern, Klassengröße und der hohen Zahl von Unterrichtsstunden genannt (z. B. Schaarschmidt 2005).

Berufsunspezifische Belastungen im Lehrerberuf

Zusätzlich zu berufsspezifischen Belastungen treten bei Lehrerinnen und Lehrern Störungen und Erschwernisse auf wie in anderen Arbeitsverhältnissen auch: Führungsprobleme, mangelnde Ausstattung mit Arbeitsmitteln, fragile Solidarität, Konkurrenz bis zur Verweigerung sozialer Unterstützung, mangelnde Kooperation, Intrigen, Mobbing usw. Sie können ebenfalls erhebliche Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit, der Arbeitszufriedenheit und der psychischen Gesundheit darstellen.

Es gilt, konstruktive Bewältigungsstrategien zu erlernen, um nicht zum Spielball der Verhältnisse zu werden, sondern aktiv Einfluss zu nehmen (→ Kapitel 6). Daneben sind die Wirkungen ungünstiger innerer Haltungen nicht zu unterschätzen, z. B. eine negative Berufseinstellung mit überwiegend negativen Emotionen und Unzufriedenheit oder überzogene Ansprüche an Quantität und Qualität eigener und fremder Leistungen. Zwischen individuellem Verhalten und institutionellen Arbeitsbedingen besteht ein Zusammenhang u. a. dergestalt, dass individuelles Verhalten bestimmte Reaktionen des Umfeldes hervorrufen kann, die rückwirkend als Belastung erlebt werden (→ Kapitel 10). Daher gilt es immer auch abzuwägen, welche eigenen Anteile eine Belastungssituation aufweist.

Selbstevaluation: SOLLEN

Sie haben in diesem Abschnitt einen Eindruck von den Anforderungen im Lehrerberuf erhalten. Ihnen werden zustimmende, skeptische oder ablehnende Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Wir empfehlen, diese Überlegungen festzuhalten und sie mit späteren Gedanken zum Thema zu vergleichen.

•An welcher Stelle regt sich in Ihnen Widerspruch gegen das Szenario des SOLLENs?

•Was hat Sie an den Aufzählungen überrascht?

•Welche Anforderungen und Belastungen sind aus Ihrer Sicht besonders schwierig und konfliktanfällig? Wie wollen Sie sich diesen stellen?

•Welchen Anforderungen und Belastungen sehen Sie gelassen entgegen? Nutzen Sie sie als Ressourcen!

•Wie haben Ihre früheren Lehrerinnen und Lehrer nach Ihrem Eindruck diese Aufgaben bewältigt? Gibt es da positive oder negative Modelle für Ihr Verhalten?

2.2 KÖNNEN

KÖNNEN umfasst hier sehr allgemein die Ressourcen, auf die eine Person zurückgreifen kann, wenn es darum geht, von außen gesetzte Anforderungen und Belastungen zu meistern oder selbst gesetzten Zielen und Erwartungen gerecht zu werden – seien es private oder berufliche. Zum KÖNNEN zählt in diesem Zusammenhang auch, äußere und innere Gelingensbedingungen zu erkennen und materielle, soziale, technische, informationelle Ressourcen zu nutzen, um die diversen Rollenaufgaben möglichst erfolgreich zu bewältigen.

Fehlendes Anforderungsprofil

Lehrerinnen und Lehrer benötigen ein breites Spektrum an spezifischen Fähigkeiten, berufsbezogenem Wissen, bestimmten Wertorientierungen, Haltungen usw.: »Die Qualität einer guten Schule und die Wirksamkeit eines guten Unterrichts werden entscheidend durch die professionellen und die menschlichen Fähigkeiten von Lehrerinnen und Lehrern geprägt« (KMK 2000).

Leider gibt es nicht nur keine Arbeitsplatzbeschreibung, sondern auch kein Anforderungsprofil, in dem die Eignungsvoraussetzungen für den Lehrerberuf definiert sind. Das macht es schwierig, Eignungsmerkmale zu bestimmen und frühzeitig eine entsprechende Vorauswahl zu treffen.

Aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulgesetze lässt sich nicht ohne weiteres ableiten, welche Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen jemand benötigt, um ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin zu werden. Was muss man z. B. können, wie muss man sich als Lehrkraft verhalten, damit Schülerinnen und Schüler »die eigene Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit sowie musisch-künstlerische Fähigkeiten« entfalten können (Schulgesetz Rheinland-Pfalz)? Es gilt daher immer noch, was Hermann Lange, ehemaliger Staatsrat für Schule in Hamburg, 2005 dazu festgestellt hat: »Genau genommen wissen wir weder, welche Eigenschaften ein guter Lehrer haben sollte, noch wie man diese befördert.«[5]

Das hat u. a. zur Folge, dass die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer dominiert wird von den Unterrichtsfächern, ergänzt durch Didaktik und Methodik. Die für eine erfolgreiche Lehrertätigkeit überaus notwendigen interaktionalen und selbststeuernden Fähigkeiten und Kenntnisse spielen – wenn überhaupt – erst in der zweiten Phase der Ausbildung eine gewisse Rolle. Es gibt zwar im universitären Feld vereinzelt entsprechende freiwillige Angebote, z. B. in Kassel (Bosse u. a. 2012). Aber in der Regel wird mehr auf die bisherige, eher zufällige Sozialisation der Lehrerinnen und Lehrer sowie auf Ihre Fähigkeit vertraut, sich entsprechende Kompetenzen im Lauf der Zeit anzueignen, obwohl diese eigentlich für einen so hochgradig interaktionalen Beruf von Beginn an auf einem professionellen Niveau erforderlich sind. Lehrerinnen und Lehrer werden aber in der Regel nicht vorzeitig dienstunfähig, weil sie zu wenig von ihrem Unterrichtsfach verstehen, sondern weil die personalen und sozialen Kompetenzen im Ungleichgewicht zu Anforderungen und Belastungen stehen (→ Kapitel 1; Weber u. a. 2004).

Notwendige Ressourcen im Lehrerberuf

Die KMK benennt einige Qualifikationen konkreter, die sie für den Lehrerberuf für erforderlich betrachtet: »Für die berufliche Arbeit sind umfassende fachwissenschaftliche wie auch pädagogisch-didaktische und soziologisch-psychologische Kompetenzen sowie kommunikative und soziale Fähigkeiten erforderlich« (KMK 2000).

Weiterhin wird ausgeführt: Für die »Beurteilungsaufgabe im Unterricht und bei der Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und Berufswege« sind »hohe pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften erforderlich sowie die motivierende Kommunikation untereinander und die hilfreiche Beratung der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern« (ebenda). Die »ständige Fort- und Weiterbildung [ist] ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil ihrer beruflichen Tätigkeit. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer ständige Kontakte zur Arbeitswelt pflegen« (ebenda).

 

Ob diese von der KMK erwarteten Kompetenzen und Fähigkeiten ausreichend vorhanden sind, ließe sich im Einzelfall nachweisen, indem man fachliche, interaktionelle und personale Voraussetzungen prüft sowie die Einstellung zum Beruf untersucht.

Fachliche Voraussetzungen

Verfügt die Person über die erforderlichen fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Kenntnisse für die Tätigkeit (Fachwissen, didaktisches, methodisches und unterrichtliches Handwerkszeug, Fähigkeiten für die unterrichtsadäquate Nutzung von technischen und materiellen Hilfen usw.)? Wie steht es mit den Kompetenzen zur erzieherischen Beeinflussung des Verhaltens von Schülerinnen und Schülern?

Interaktionelle Voraussetzungen

Verfügt die Person hinreichend über soziale Kompetenzen, um mit den Menschen des näheren und weiteren Arbeitsfeldes sach- und personbezogen zu interagieren (Kommunikation, Konfliktmanagement, Empathie usw.)? Kann sie mit Kolleginnen und Kollegen, Schulpersonal, Vorgesetzten, Eltern usw. kooperieren und sich sozial vernetzen? Hat sie Geduld im Umgang mit Schülerinnen und Schülern und mit sich selbst? Kann sie Schülerinnen und Schüler ermutigen, wertschätzend korrigieren und kritisieren?

Personale Voraussetzungen

Verfügt die Person über gute Fähigkeiten, sich selbst zu steuern und situationsangemessen zu entscheiden und zu handeln? Kann sie ihre Emotionen kontrollieren und überwiegend positiv gestalten? Kann sie innere und äußere Widerstände lösungsorientiert als Herausforderung betrachten, Misserfolge bewältigen, Stressoren konstruktiv verarbeiten? Ist sie in der Lage, soziale Unterstützung, Beratung und Hilfe zu suchen und zu akzeptieren. Ist sie bereit, aus Fehlern und Kritik zu lernen (»lessons learned«[6])? Setzt sie sich realistische Ziele und bemüht sie sich um die eigene Weiterentwicklung?

Einstellung zum Beruf

Wie ist die Einstellung der Person gegenüber ihrem Beruf – den positiven und negativen Aspekten, den Höhen und Tiefen? Kann sie positive Energien aus ihrer Tätigkeit schöpfen? Arbeitet sie aktiv daran, die Passung zwischen sich selbst und den beruflichen Anforderungen zu wahren und zu verbessern? Stimmen ihre persönlichen Wertvorstellungen, Einstellungen und Haltungen mit den berufsimmanenten Wertvorstellungen und denen des Arbeitgebers überein? Erkennt sie ihre (Selbst-)Wirksamkeit in Bezug auf Problemlösungen und die Weiterentwicklung der Schülerinnen und Schüler?

Je umfangreicher diese Ressourcen vorhanden und ausgebildet sind, desto erfolgreicher und befriedigender wird eine Person mit den Anforderungen und Belastungen im Schulbetrieb umgehen können. Es kann ihr so gelingen, Widerstände auszuhalten und zu überwinden, an negativen Erfahrungen zu wachsen, Stresssituationen zu bewältigen, Resilienz und Widerstandskraft zu entwickeln. Diese Kompetenzen verlangen allerdings die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, immer wieder evaluiert an neuen Lebenslagen und Schülergenerationen.

In diesem Sinn geben Helmut Messner und Kurt Reusser zu bedenken: »Die berufliche Entwicklung von Lehrpersonen beginnt mit der Grundausbildung und erstreckt sich über die ganze Spanne der Berufslaufbahn« (Messner & Reusser 2000, S. 157).

In der Literatur zur Lehrergesundheit und zum Umgang mit Stress und Belastungen werden zahlreiche weitere Befähigungen genannt, die zum Erhalt von Gesundheit, Arbeitszufriedenheit und Leistungsfähigkeit im Lehrerberuf hilfreich sind.

Die nachfolgende Selbstevaluation enthält eine Zusammenstellung einschlägiger Kompetenzbereiche mit der Möglichkeit einer Selbsteinschätzung.


Selbstevaluation: KÖNNEN
Da habe ich nur wenige Probleme. = Das macht mir immer wieder zu schaffen. = ?
Ich vertraue auf meine Selbstwirksamkeit und habe ein positives Selbstbild und Selbstkonzept.
Ich reflektiere regelmäßig mein Handeln und bemühe mich um Selbstevaluation zur Sicherung meiner Professionalität und beruflichen Motivation.
Ich kann mich organisieren und meine Zeit effektiv einteilen.
Mit meinen Emotionen kann ich kontrolliert umgehen.
Es gelingt mir Anspannung/Engagement und Erholung/Reflexion auszubalancieren.
Ich bin offen für Beratung und Hilfe von anderen und suche ggf. nach sozialer Unterstützung und Feedback.
Ich kann im Team arbeiten und stehe Kooperation positiv gegenüber.
Ich fühle mich für die Erhaltung meiner physischen und psychischen Gesundheit verantwortlich und handele entsprechend.
Ich setze mich aktiv für ein lebens- und liebenswertes persönliches und berufliches Umfeld ein.
Überprüfen Sie Ihre Einschätzung gemeinsam mit einem kritischen Freund.

Fragen

•Was sind Ihre Stärken, was können Sie gut und worauf können Sie sich verlassen?

•Was hat Ihnen bisher geholfen, Erfolg zu haben und Schwierigkeiten zu überwinden?

•Woran möchten Sie arbeiten? Wer kann Ihnen dabei helfen? Was brauchen Sie dazu?

2.3 WOLLEN

WOLLEN beschreibt das komplexe Bündel von eigenen beruflichen und privaten Zielen, Haltungen, Wünschen und Bedürfnissen, Wertvorstellungen, Ängsten usw. WOLLEN umfasst Qualitätsvorstellungen, Ansprüche an sich selbst und die Bereitschaft, die dazu notwendigen Anstrengungen auf sich zu nehmen (z. B.: Was macht für mich einen guten Lehrer aus? Wann bin ich mit einer Arbeit zufrieden, was ist für mich Erfolg?). Diese zunächst auf sich selbst bezogenen Erwartungen bestimmen auch, wie wir gern gesehen werden möchten und welche Vorstellung wir davon haben, was andere leisten sollten.

Eine Voraussetzung für gesundheitsdienliches WOLLEN ist, die Realisierungsmöglichkeiten der Ziele und Wünsche in Anbetracht der eigenen Ressourcen und der externen Gelingensbedingungen einzuschätzen. Unrealistische Zielsetzungen sind ein gerader Weg in Unzufriedenheit, Misserfolgserlebnisse, Versagensängste und Vermeidungsverhalten. Wer sich z. B. erst dann als gute Lehrerin bzw. guten Lehrer ansieht, wenn es gelingt, alle Schülerinnen und Schüler zu befähigen, »verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten« (Schulgesetz Rheinland-Pfalz), bedenkt nicht, dass für das Erreichen dieses Zieles auch viele von ihm unabhängige Gelingensbedingungen erfüllt werden müssen. Dabei ist noch nicht einmal geklärt, was dieses Ziel denn in der Praxis bedeutet.

Es heißt auch, zu akzeptieren, dass man nicht alles so richten kann, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht, dass man Menschen nicht nach Belieben verändern kann und lernen muss, Dinge hinzunehmen. Dies schützt vor Enttäuschungen, Selbstüberforderung und Berufsmüdigkeit, die bis zum Burnout führen können.

Die inneren Antreiber

Nicht alle Elemente des WOLLENs sind subjektiv gleichermaßen bedeutsam. Das geht von Unverzichtbarkeiten (Must-have), weltanschaulichen, gesellschaftlichen und politischen Orientierungen und Überzeugungen bis zu Vorlieben und Geschmacksfragen (Nice-to-have).

Einiger dieser Motivationen sind wir uns kaum bewusst, z. B. der sogenannten inneren Antreiber. So werden starke Imperative, Lebensziele, persönliche Grundbedürfnisse bezeichnet, die wir in unserer Sozialisation und durch eigene Lebenserfahrungen als Lebensmaximen erworben und verinnerlicht haben. Das sind z. B. von den Eltern übernommene Erwartungen: »Du bist nur was, wenn du was leistest!« – »Du musst immer der Beste sein!« – »Du musst immer einen guten Eindruck machen!« Aber auch selbst aufgestellte Leitmotive gehören dazu: »Alle sollen mich mögen; ich will es mir mit niemandem verderben«, ebenso wie leidvolle Erfahrungen: »Vertraue niemandem!« – »Lass dir nichts gefallen!«

Solche inneren Antreiber färben unsere subjektive Wahrnehmung von Interaktionen und Situationen, z. B.: »Muss ich mich hier durchsetzen oder eher um Wohlwollen, Anerkennung buhlen?« Sie sind so etwas wie eine innere Zensur für unser Handeln und Denken: Passt das, was ich jetzt sage, tue und fühle zu dem, was ich erreichen will?[7]

Situative Konstellationen können sich mit inneren Antreibern zu einer riskanten Mischung verbinden, wenn z. B. jegliche Kritik als Angriff auf die eigene Person gewertet wird oder wenn Konkurrenzdenken kollegiale Kooperation unmöglich macht.

Leitbilder

Auch unsere Leitbilder gehören zur Kategorie WOLLEN.

Leitbilder sind Vorstellungen davon, wie wir in unseren verschiedenen beruflichen und privaten Rollen handeln sollten, um in Einklang mit uns selbst zu sein. Sie treten auf als Gebots- und Verbotsnormen und geben uns Orientierung, welche Ziele wir erstrebenswert finden, und halten uns von anderen Verhaltensweisen und Gedanken ab. Wir rechtfertigen damit unser Tun und Lassen vor uns selbst und gegenüber anderen. Wir fühlen uns mit uns im Reinen, wenn wir uns unseren Leitbildern entsprechend verhalten. Sie bilden auch den Maßstab für unsere Bewertungen von Mitmenschen und Ereignissen (siehe dazu: Heyse 2015a, Heyse & Sieland 2015).

Im Abgleich mit den Leitbildern entwickelt sich allmählich unser Selbstbild. Sogar wenn wir uns eines Leitbildes nicht explizit bewusst sind, keine bestimmte Person oder Ideologie vor Augen haben, haben wir doch eine Ahnung davon, wie wir gern sein möchten, was für uns »passt«, wie wir eingeschätzt werden wollen, wie wir am besten durchs Leben kommen (wollen).

Ob und wie wir uns auf Veränderungen einlassen, hat ebenfalls mit unseren Leitbildern zu tun. Ein Vorsatz, ein Bedarf an oder ein Bedürfnis nach Veränderung werden mit größerer Wahrscheinlichkeit realisiert, wenn sie mit Forderungen aus unseren Leitbildern zusammenpassen (»Selbstkonkordanz«; Sieland & Heyse 2010a, S. 111). So ist z. B. zu erwarten, dass Vereinbarungen in einem Kollegium, so weit wie möglich offene Unterrichtsformen zu praktizieren, zuverlässiger eingehalten werden, wenn es zu dem Leitbild und Selbstbild der einzelnen Lehrperson passt, Schülerinnen und Schülern Spielräume in Bezug auf Inhalte, Wege und Zeiten des Lernens einzuräumen. Wer sich aber selbst eher als Fremdenführer seiner Schüler auf dem Pfad des Lehrplans versteht, wird kaum das Zutrauen haben, dass Entdeckungen auch auf eigene Faust geschehen können, und sich alternativen Unterrichtsformen verschließen (siehe dazu Badr 2015).

 

Wie Leitbilder sich entwickeln

Die Quelle für erste Leitbilder ist die Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen. Hier lernen wir, welches Verhalten, Denken, Sprechen in Familie, Schule, Freundeskreis akzeptiert wird und welches nicht, welche Lebensmaximen gelten, was wir tun müssen, um eigene Ziele zu erreichen, Strafen zu vermeiden, Anerkennung zu erlangen. In das Leitbild fließen auch familiäre Konstellationen ein, z. B. die Stellung in der Geschwisterreihe. Ob jemand jüngstes oder ältestes Geschwisterkind ist oder dazwischen steht, hat durchaus Auswirkungen auf das Verhalten und Denken. Aus diesen Erfahrungen entwickeln sich Strategien für die Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen und Aufgaben umgehen.

Allerdings bleiben unsere Leitbilder nicht immer dieselben; sie verändern sich in den Lebensphasen. Die frühen Denk- und Handlungsweisen werden in der Pubertät sehr kritisch in Frage gestellt. Es gilt in dieser Zeit, die schleichend übernommenen Leitbilder zu prüfen und eine bewusste Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Religiöse, ethisch-moralische, philosophische, politische, wirtschaftliche, pädagogische und weitere Konzepte, Ideen, Theorien, Ziele, Orientierungen – oder auch öffentliche Personen (z. B. aus Literatur, Sport, Musik, Fernsehen usw.) stehen zur Auswahl. Sich daraus einen »roten Faden« für den Lebensplan zu knüpfen (Keupp 2012), ist eine große Herausforderung; es gleicht geradezu einer »unternehmerischen Leistung« (Bröckling 2007).

Auch unsere spätere Weiterentwicklung durch persönliche und berufliche Erfahrungen, Anpassungen oder Widerstand in Bezug auf das Lebensumfeld, auf Rollenpartner (»Ko-Evolution«; Willi 2007), politische und gesellschaftliche Entwicklungen usw. bedingen Wandlungen der Leitvorstellungen. Frühere Generationen hatten es etwas leichter: Religion, Tradition, Kultur boten eine begrenzte Auswahl an bewährten Vorlagen, die gleichsam als »Schnittmuster« für die eigene Lebensführung (Keupp et al. 2006) dienen konnten.

Hinzu kommt, dass in diversen Rollen im privaten und beruflichen Feld unterschiedliche Leitbilder gelten können; Sieland spricht von »Rollenhaushalt« (Sieland & Heyse 2010a). Sie können sehr widersprüchlich ausfallen und sich gegenseitig behindern: Der liebevolle Vater z. B. kann durchaus ein selbstherrlicher Schulleiter sein, und das Bestreben, täglich in der Schule sein Bestes zu geben, kann kollidieren mit dem gleichzeitig bestehenden Leitbild vom engagierten Mitglied im Gemeinderat. So kann aus einem Leitbild auch ein »Leidbild« für sich und das eigene Umfeld werden.

Selbstevaluation: WOLLEN

Wir wollen Sie animieren, sich mit Ihren beruflichen Zielen, Wertvorstellungen, Motivationen – kurz: mit Ihren Leitbildern auseinanderzusetzen. Denn wer sich seine Leitbilder nicht hin und wieder bewusst macht und sie ggf. anpasst, wird »aus dem Rahmen fallen«.

Vergegenwärtigen Sie sich, warum Sie Lehrerin oder Lehrer werden wollten, ob und wie sich Ihre Motivation in der Ausbildung verändert hat, welche Ziele Sie sich als Lehrerin oder Lehrer setzen, welchen Modellen Sie folgen, welche Qualitätsmaßstäbe Sie an Ihre Arbeit anlegen.

Ihre Vorstellungen von Ihrem Lehrersein haben zentrale Bedeutung für Ihr Tun und Lassen, Denken und Fühlen; sie sind der Untergrund, auf dem Sie die Balance für Ihre psychische Gesundheit erarbeiten und immer neu zurückgewinnen müssen (Heyse & Sieland 2015).

Der folgende Fragenkatalog soll Sie anregen, gleichsam wie in einem »Leitbilder-Buch« zu blättern (Heyse 2015a). Hilfreicher noch ist es, dies mit anderen Personen zu besprechen, die als Spiegel dienen können, ungewohnte Perspektiven aufzeigen, auf blinde Flecken aufmerksam machen, Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, zu Klarheit zwingen.

Meine Berufsleitbilder

•Was waren meine Motive, Lehrerin oder Lehrer zu werden?

•Was gehört für mich zu einer guten Lehrerin, einem guten Lehrer?

•Von welchem Leitbild, erlebten Vorbild, Modell oder auch Gegenmodell wurde/werde ich beeinflusst? Wer ist so, wie ich sein möchte, bei wem sehe ich Haltungen, Verhaltensweisen usw., an denen ich mich orientiere?

•Welche Rolle spielen für mich Schule, Unterricht und was damit zusammenhängt (z. B. Lebenserfüllung, Selbstverwirklichung, Broterwerb, gesellschaftliche Verantwortung)?

•Wie sehe ich mich als Fachlehrer/-in, Klassenlehrer/-in?

•Wie definiere ich mein Verhältnis zu Schülerinnen und Schülern, Kolleginnen und Kollegen?

•Was erwarte ich vom Führungspersonal (Schulleitung, Schulaufsicht)?

•Welche Rolle spielen für mich die Eltern von Schülerinnen und Schülern?

•Welchen Anteil will ich in die Weiterentwicklung meiner Schule einbringen?

•Wo sehe ich mich beruflich in 5 Jahren? Was möchte ich noch intensiver verwirklichen?

•Wie steht es mit meiner Bereitschaft, zugunsten der Integration in das Kollegium und in die gemeinsamen Arbeitsprozesse Autonomie abzugeben?

Meine Lebensleitbilder

•Wie verhält es sich mit meinem KÖNNEN – WOLLEN – SOLLEN? Wie passen Ziele und Aufgaben mit den verfügbaren Ressourcen zusammen? Welche Ressourcen möchte ich stärken?

•Woran orientiere ich mich in meinem Handeln, Denken, Fühlen? Was sind meine ethischen und moralischen Wertvorstellungen? Was sind meine inneren Antreiber?

•Welche Rollen spielen für mich konkrete Modellpersonen, Verhaltenstypen, bestimmtes Modellverhalten?

•Wie möchte ich meine beruflichen und privaten Rollen, Anforderungen, Aufgaben, Problemlagen, Krisen usw. angehen und bewältigen? Was möchte ich gern – und was auf keinen Fall – erreichen?

•Stehen meine Rollen-Leitbilder in Konflikt zueinander? Wie löse ich Rollenkonflikte?

•In welcher Art und Weise möchte ich mit Anvertrauten, Abhängigen, Freunden, Gegnern usw. umgehen?

•Was sind meine Ansprüche an meine Rollenpartner, was erwarte ich von ihnen? Wie vertragen sich meine Leitbilder mit denen der Rollenpartner? Wo ist meine Toleranzschwelle gegenüber anderen Leitbildern?

•Wie möchte ich von anderen gesehen werden, was sollen andere von mir denken?

•Bin ich daran interessiert, meine Handlungen, Haltungen, Denkkategorien usw. zu evaluieren, Feedback dazu zu bekommen? Wie entwickle ich meine Orientierungsmuster weiter?

•Welchen Einfluss haben Veränderungen, Verluste, Zugewinne, Hindernisse bei mir selbst und/oder in meinem Umfeld auf meine Vorstellungen von gelingendem Leben?

•Welche Erwartungen habe ich an mein Leben, an meinen Tod?

Dokumentieren Sie Ihre Gedanken in Ihrem Tagebuch.