Was Lehrerinnen und Lehrer stark macht (E-Book)

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Teil 1:
Psychische Gesundheit

Im ersten Teil dieses Buches geht es um die psychische Gesundheit (Kapitel 1). Sie gilt als Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit Es wird vorgeschlagen, psychische Gesundheit als Zustand einer Balance von SOLLEN, KÖNNEN und WOLLEN zu verstehen. Im zweiten Kapitel wird erörtert, wie sich das Zusammenspiel von SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN speziell für Lehrerinnen und Lehrer darstellt.

Kapitel 1 Psychische Gesundheit – ein lebenslanger Entwicklungsauftrag

Der psychischen Gesundheit kommt im Rahmen der Lehrergesundheit eine besondere Rolle zu (siehe dazu auch Rothland 2007; Sieland & Heyse 2010b; Heyse 2011; SchulVerwaltung 2008).

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert psychische Gesundheit folgendermaßen:

»Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen« (EU-Kommission 2005).

Das Grünbuch der Europäischen Kommission führt weiter aus: »Psychische Erkrankungen umfassen psychische Gesundheitsprobleme und -belastungen, Verhaltungsstörungen in Verbindung mit Verzweiflung, konkreten psychischen Symptomen und diagnostizierbaren psychischen Störungen wie Schizophrenie und Depression.«

Welche maßgebliche Rolle psychische Gesundheit für das reibungslose Ausüben des Lehrerberufs spielt, zeigt eine Totalerhebung der Frühpensionierungen (N = 5548) in der Lehrerschaft von 1996 bis 1999 in Bayern (Weber u. a. 2004). Der Erhebung zufolge wurden schon damals 52 Prozent der Frühpensionierungen wegen Beeinträchtigungen im Bereich Psyche/Verhalten ausgesprochen. (Zum Vergleich: 2015 beruhten nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung 43 Prozent der Frühverrentungen auf psychischen Störungen und Erkrankungen.)

Psychische Gesundheit gilt als Voraussetzung für Leistungsfähigkeit. Leistungsfähigkeit wiederum steht in einem Interdependenzverhältnis mit Arbeitszufriedenheit, die ihrerseits einen positiven Einfluss auf die Gesundheit hat. So ist psychische Gesundheit eine unverzichtbare Grundlage, um im modernen Arbeitsleben zu bestehen und sich fachlich wie persönlich entwickeln zu können.

»Die psychische Gesundheit ist die emotionale und spirituelle Widerstandskraft, die es uns ermöglicht, das Leben zu genießen und gleichzeitig Schmerzen, Enttäuschungen und Traurigkeit zu überwinden. Sie ist eine positive Lebenskraft und ein tiefer Glaube an unsere eigene Würde und unseren Selbstwert« (INQA 2012).

Für Schaarschmidt und Kieschke ist ein Mensch psychisch gesund, »dem es im Alltag gelingt, sich engagiert und doch entspannt den Anforderungen zu stellen, der über eine positive Einstellung zu sich selbst und zu den eigenen Wirkungsmöglichkeiten verfügt, der Ziele verfolgt, in seinem Tun Sinn erfahren kann und sich sozial aufgehoben fühlt« (Schaarschmidt & Kieschke 2007, S. 29).

1.1 Die Balance von SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN

Psychische Gesundheit ist – genauso wie die physische Gesundheit – kein stabiler Zustand, der bestehen bleibt, wenn er einmal erreicht ist. Sie ist immer wieder durch eigenes Handeln, Fühlen und Denken sowie durch äußere Einflüsse gefährdet. Der Erhalt der eigenen psychischen Gesundheit verlangt lebenslang einen Lern- und Anpassungsprozess mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen zwischen

•beruflichen und privaten Aufgaben, Anforderungen und Belastungen,

•dem verfügbaren Wissen und den persönlichen Fähigkeiten und Ressourcen, die zur sachgerechten und befriedigenden Bewältigung der Anforderungen und Belastungen erforderlich sind, und

•eigenen Zielvorstellungen, Wünschen, Motiven, Erwartungen, Leitbildern, Qualitätsansprüchen an sich und andere.

Es geht, kurz gesagt, um die Balance von SOLLEN, KÖNNEN und WOLLEN. Wenn sich diese mittel- und langfristig im Gleichgewicht befinden, muss man sich um die psychische Gesundheit keine ernsthaften Sorgen machen.


Abb. 1: Psychische Gesundheit zwischen SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN

Personen unterscheiden sich darin, wie stabil sie die Balance von SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN gegenüber inneren und äußeren Störungen halten bzw. zurückgewinnen können.

Dieses Verständnis von psychischer Gesundheit ist z. B. an Becker et al. (2004, S. 12) angelehnt. Ebenda wird Gesundheit als das Resultat eines Regulationsprozesses zwischen Individuum und Umwelt definiert, bei dem der Ausgang davon abhängt, »wie gut es […] gelingt, externe und interne Anforderungen mit Hilfe externer und interner Ressourcen zu bewältigen«.

Ähnlich argumentiert Siegrist (2011) mit seinem Effort-Reward-Imbalance-Modell (ERI). Er versteht seelische Gesundheit als dynamische Balance zwischen den Anforderungen und Ressourcen, die einer Person zur Bewältigung aller beruflichen und privaten Rollenaufgaben zur Verfügung stehen.

1.2 Arbeitspsychologische und arbeitsmedizinische Kategorien

Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Gesundheit gilt es, drei arbeitspsychologische und arbeitsmedizinische Kategorien zu bedenken, die im Folgenden immer wieder auftauchen: Anforderungen – Belastungen – Beanspruchung.

Anforderungen

Diese Kategorie umfasst

•eine Arbeitsanalyse der Tätigkeiten, Aufgaben und Pflichten,

•eine Arbeitsplatzbeschreibung inkl. der Arbeitsbedingungen sowie

•eine Anforderungsanalyse mit den Voraussetzungen, die jemand mitbringen muss, um den Arbeitsauftrag sachgerecht erfüllen zu können.

Frage

Welche beruflichen Anforderungen stehen für Sie im Vordergrund? Was denken Sie, wird von Ihnen im Beruf erwartet?

Belastungen

Unter Belastungen sollen hier im Einklang mit dem Arbeitspsychologen Leitner (1999) die Erschwernisse, Hindernisse und Widerstände verstanden werden, die sich jemandem bei der Erfüllung des Arbeitsauftrags entgegenstellen. Zahlreiche Untersuchungen haben eine Vielzahl von Faktoren und Ereignissen herausgearbeitet, die Lehrkräfte als belastend empfinden und die ihre psychische Gesundheit gefährden (z. B. Schaarschmidt 2005, DAK 2011, 2012; Schult u. a. 2014; vbw 2014; Lohmann-Haislah 2012).

Frage

Worin sehen Sie die größten Belastungen in Ihrem Beruf als Lehrerin bzw. Lehrer?

Psychische Beanspruchung

Die »psychische Beanspruchung« trägt der Tatsache Rechnung, dass objektiv identische Situationen von jedem Beteiligten subjektiv anders wahrgenommen werden und zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen können.

Beispielsweise kann dieselbe Problemlage als Bedrohung des Selbstwertes, Beeinträchtigung des Wohlbefindens, Angstauslöser (negative Beanspruchung) empfunden oder als Herausforderung und Gelegenheit zur Erprobung der eigenen Fähigkeiten (positive Beanspruchung) aufgefasst werden. Das hängt davon ab, wie die Person die Situation wahrnimmt und bewertet.

Dabei spielen die »überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien« (DIN EN ISO 10075, 2000) der betroffenen Person eine ausschlaggebende Rolle. Dazu zählen z. B. Wissen, Kompetenzen, subjektive Wahrnehmung, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Verfügbarkeit von sozialen Ressourcen.

Es gibt folglich keine generelle »Wenn-dann-Beziehung« zwischen hohen Anforderungen oder schwierigen Arbeitsbedingungen einerseits und dem subjektiven Empfinden von Stress oder Einschränkungen von Leistungsfähigkeit, Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden andererseits. Dies ist ein Grund, warum es in einem Kollegium schwer sein kann, zu Vereinbarungen zu kommen, und selbst gut gemeinte Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit nicht unbedingt Unterstützung finden.

Bestimmte Situationsmerkmale können zwar Stress und Belastungsempfinden mit größerer Wahrscheinlichkeit hervorrufen, z. B. Anforderungen an Arbeitsmenge oder -qualität unter Zeitdruck, Multitasking, Dauerbelastung ohne Erholungsmöglichkeiten usw. Ob dies aber als positive oder negative Beanspruchung gedeutet und erlebt wird, entscheidet letztlich die betroffene Person selbst. Dennoch gibt es auf individueller Ebene durchaus stabile Stressauslöser: »Immer wenn ich am Sonntagabend an die Klasse 6b denke …«.

Frage

Wie schätzen Sie das Verhältnis zwischen Ihren individuellen Voraussetzungen und den Anforderungen und Belastungen im Lehrerberuf ein?

1.3 Die Säulen der Lehrergesundheit

Psychische Gesundheit im Lehrerberuf ist von einer Reihe von Bedingungen abhängig. Sie ruht gleichsam auf vier Säulen:


Abb. 2: Die Säulen der Lehrergesundheit

Individuelle Verpflichtung

An erster Stelle steht die eigene Verantwortung, die physische und psychische Gesundheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, sie nach Möglichkeit zu erhalten oder gar zu verbessern. Krankheit ist ja nicht nur ein individuelles Handicap, sondern wirkt sich auf das materielle und soziale Umfeld aus und stellt auch für Mitmenschen eine Herausforderung dar. Im beruflichen Bereich sind Arbeitnehmer sogar gesetzlich zu dieser Eigenverantwortung verpflichtet:

 

»[1] Die Beschäftigten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie gemäß der Unterweisung und Weisung des Arbeitgebers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen« (Arbeitsschutzgesetz von 1996, § 15).

Damit geht einher, die berufliche und persönliche Weiterentwicklung wichtig zu nehmen. Das gilt auch für personale Kompetenzen (→ Teil 2), z. B. einen konstruktiven Umgang mit Stress und Belastungen, emotionale Stabilität, Kommunikation. Der ständige Wandel von Aufgaben, interaktionalen Anforderungen und Belastungen lässt sich nur bestmöglich meistern, wenn man bemüht ist, beruflich auf dem Laufenden zu bleiben.

Verhaltensmanagement

Die Bemühungen der einzelnen Person, durch ihr Tun oder Unterlassen ihre Leistungsfähigkeit und damit ihre Gesundheit günstig zu beeinflussen, werden gemeinhin als gesundheitsförderliches Verhaltensmanagement oder Verhaltensprävention bezeichnet.

Verhältnismanagement

Jeder ist auch in soziale, materielle, organisatorische Bedingungen im engeren und weiteren Lebensumfeld eingebettet. Diese beruflichen und privaten Umfelder mit ihren Forderungen und Erwartungen gesundheitsverträglich zu gestalten, ist Aufgabe und Ziel der Verhältnisprävention bzw. eines gesundheitsförderlichen Verhältnismanagements. Dies bedeutet für die Schule, in dreifacher Weise Gesundheitsverantwortung wahrzunehmen: als Kollegium, als Schulleitung und in schulaufsichtlicher sowie bildungspolitischer Hinsicht.

Kollegiale Herausforderung

Die Chancen und Risiken individueller Gesunderhaltung hängen auch ab von den Interaktionen auf der Kollegiums- und Mitarbeiterebene sowie mit Vorgesetzten und »Kunden« (Eltern, Schülerinnen und Schüler, Betriebe usw.). Denn das Verhalten eines Einzelnen stellt ein Element der individuellen Umfeldbedingungen (Verhältnisse) eines jeweils anderen dar.

Dies gilt in besonderem Maß in Arbeitsfeldern wie Schule, die durch eine hohe Dichte an Interaktionen gekennzeichnet sind. Ob diese unterstützend und förderlich oder verletzend, beeinträchtigend, psychisch belastend erlebt werden, hat gravierende Auswirkungen auf Wohlbefinden, Belastbarkeit, Leistungsbereitschaft und Arbeitszufriedenheit des Einzelnen.

Das schon erwähnte Arbeitsschutzgesetz bestimmt in § 15 (2) zusätzlich, dass »die Beschäftigten auch für die Sicherheit und Gesundheit der Personen zu sorgen [haben], die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind«.

Führungsverantwortung

Neben dem Kollegium nimmt die Schulleitung eine Schlüsselrolle für die Gesunderhaltung der Lehrkräfte und des nichtpädagogischen Personals ein. Ihr obliegt die Sorge für Arbeitsbedingungen, die zumindest nicht gesundheitsschädlich sind. Dies ist das Anliegen der betrieblichen Gesundheitsförderung.

Auch hier macht das Arbeitsschutzgesetz (§ 4) eine Vorgabe. Es verpflichtet Arbeitgeber dazu, »[die] Arbeit […] so zu gestalten, daß eine Gefährdung für Leben und Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird«.

In einigen Bundesländern werden in diesem Sinn Gefährdungsanalysen in Schulen durchgeführt; allerdings sind die Spielräume sehr begrenzt, bei erkannten nicht technischen Gefährdungen, z. B. auf der Ebene von Interaktionen, Abhilfe zu schaffen.

Es sollte ohnehin im Interesse des Arbeitgebers liegen, sein Personal so pfleglich zu behandeln, dass es weder durch betriebsbedingte Krankheit und Dienstunfähigkeit hohe Kosten verursacht noch durch innere Kündigung (→ Kapitel 2.4) als Aktivposten ausfällt. Deswegen unterstützen Betriebe zunehmend das individuelle Verhaltensmanagement zusätzlich durch betriebsinterne Angebote, z. B. Wellnessangebote, Sozialarbeiter, Betriebspsychologen, oder finanzielle Beihilfen für private Initiativen, z. B. Yogagruppen, Supervision u. Ä.

Die Kultusministerkonferenz (KMK) überträgt in ihrer »Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule« (2012) den Schulleitungen bei »der Umsetzung des Gesundheitsmanagements und der Gesundheitsförderung im Rahmen der schulischen Personal- und Organisationsentwicklung eine zentrale Funktion und Verantwortung«.

Sie stellt fest, dass Gesundheitsförderung und Prävention integrale Bestandteile von Schulentwicklung sind und »zum Kern eines jeden Schulentwicklungsprozesses« (ebenda) gehören: »Im Hinblick auf die Gesundheit der Lehrkräfte und des sonstigen schulischen Personals kommt der Umsetzung der Maßnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes eine besondere Bedeutung zu« (ebenda).

Schulinterne Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sind demnach nicht luxuriöse Zusatzleistungen, die am Ende des Schuljahres, »wenn noch Zeit ist«, knapp abgehandelt werden können, z. B. als sogenannter Gesundheitstag des Kollegiums. Dauerhafte Gesundheitsbeiträge an einer Schule sind neben einem wertschätzenden sozial-emotionalen Klima z. B. die Transparenz von Regelungen und die Partizipation an Entscheidungen sowie ein funktionierendes Beschwerdemanagement (→ Kapitel 9.2) im Sinn einer permanenten Evaluation der innerschulischen Abläufe.

Sicher kann eine Schulleitung nicht schulaufsichtliche oder bildungspolitische Rahmenbedingungen für die Arbeit in der Schule ignorieren oder außer Kraft setzen. Aber ein Kollegium kann zusammen mit der Schulleitung per Gesamtkonferenz die Grundlinien der unterrichtlichen und pädagogischen Arbeit an der Schule maßgeblich gestalten; die Schulgesetze geben dafür hinreichend Spielraum. Bei näherem Hinsehen erweisen sich nicht selten gut gemeinte Schulprogramme als freiwillige Selbstüberforderung. Und für die Art und Weise ihres Umganges miteinander sind Schulleitung und Kollegium selbst verantwortlich.

Politische Verantwortung

Die Schulleitung als örtliche Vertretung des staatlichen Dienstherrn muss dafür sorgen, dass die gesetzlichen Regelungen und die Verwaltungsanordnungen im Schulalltag umgesetzt werden. Dabei besteht durchaus ein gewisser Spielraum. Schulaufsicht und Bildungspolitik sind ihrerseits aber dafür verantwortlich, dass diese Rahmenbedingungen den Ansprüchen des Arbeitsschutzgesetzes genügen und sich an die Vereinbarungen der KMK halten. Klassenmesszahlen, Unterrichtsverpflichtungen, Lehrpläne, politische und gesellschaftliche Erwartungen an Schule und Lehrerschaft, besondere Bestimmungen für die Schularten wirken sich bis in das familiäre Leben der Lehrerinnen und Lehrer aus.

Im Rahmen des Projektes Lehrergesundheit Rheinland-Pfalz (www.add.rlp.de → Links) wurden die »Landauer Empfehlungen zur Lehrergesundheit – Lehrergesundheit fördert Qualität von Schule« formuliert (Heyse 2014b). Sie appellieren an die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und im Bildungswesen, der Lehrergesundheit einen hohen Stellenwert einzuräumen und dies in politisches und administratives Handeln umzusetzen.

Seitens der Bildungspolitik und der Schulaufsicht werden Lehrerinnen und Lehrern ständig neue Aufgaben auferlegt und Reformen angeordnet. Bedauerlicherweise ist dabei zu beobachten, dass den Schulen die dafür erforderlichen Ressourcen oftmals nicht ausreichend zur Verfügung gestellt oder die Lehrkräfte auf diese neuen Aufgaben fachlich nicht hinreichend vorbereitet werden (z. B. Inklusion). Damit sind Gesundheitsgefährdungen und Leistungsschädigungen programmiert. Vielfach dominiert die Wünschbarkeit bei der Umsetzung solcher Maßnahmen die tatsächliche Machbarkeit im Schulalltag. Man baut darauf, dass die Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Idealismus über sich hinauswachsen und mit »interessierter Selbstgefährdung« (→ Kapitel 2.4) auch diese Anforderungen erfüllen – oft der direkte Weg in eine »erschöpfte schulische Arbeitswelt« (Badura & Steinke 2011). So wird in den Landauer Empfehlungen gefordert, dass Gesetze und Verwaltungsanordnungen nicht nur einem Kostencheck unterzogen werden, um die fiskalischen Konsequenzen transparent zu machen. Mindestens gleichbedeutend ist ein Belastungscheck, um abzuschätzen, welche Aufgaben und Anforderungen zusätzlich auf die Betroffenen zukommen und welche Möglichkeiten der ausgleichenden Entlastung es gibt.

Lehrergesundheit wird mithin von vier Verantwortlichkeiten getragen, die aufeinander bezogen sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Eine Einstellung wie »Ich tue erst etwas für meine Gesundheit, wenn hier andere Verhältnisse herrschen« ist ebenso fehl am Platz wie »Gehen Sie erst mal in einen Stresskurs, dann halten Sie das hier auch aus«. Selbst optimale berufliche Verhältnisse können ungeeignete Personen nicht zu Leistungsfähigkeit oder Unwillige nicht zu Leistungsbereitschaft und Kollegialität führen – und beste Eignung und Leistungsfähigkeit sowie Engagement können durch chaotische, sozialfeindliche, gesundheitsschädigende Verhältnisse an einer Schule zunichte gemacht werden.

Kapitel 2 SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN

Im Folgenden wird der Lehrerberuf in Bezug auf berufsspezifische Aspekte von SOLLEN – KÖNNEN – WOLLEN betrachtet. Anschließend geht es um die Zusammenhänge zwischen diesen drei Elementen.

2.1 SOLLEN

SOLLEN umfasst pauschal alle von außen gesetzten beruflichen Anforderungen, Aufgaben, Pflichten, Erwartungen, Belastungen, Arbeitsbedingungen, soziale sowie materielle Arbeitsumfelder und berufsspezifische Merkmale usw.

Für den Lehrerberuf gibt es keine vereinbarte und verbindliche Arbeitsanalyse und Arbeitsplatzbeschreibung. Die Aufgaben und Tätigkeiten von Lehrerinnen und Lehrern mit ihren psychischen, physischen und sozialen Anforderungen, Organisationsmerkmalen und den Umfeld- bzw. Ausführungsbedingungen in den verschiedenen Schularten sind nicht hinreichend definiert. Dies führt u. a. in Versuchung, Lehrkräften immer wieder neue Verpflichtungen aufzuerlegen. Sobald gesellschaftliche Probleme oder Defizite zu einem öffentlichen Anliegen werden, z. B. Suchtvorbeugung, Medienpädagogik, Migration, Inklusion, Wirtschafts- und Finanzwissen, wird nach der Schule gerufen, sich darum zu kümmern.

Worin bestehen nun die Aufgaben von Schule, was sind die berufsspezifischen Anforderungen, zu denen das KÖNNEN von Lehrerinnen und Lehrern passen soll?

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule

Mangels Arbeitsplatzbeschreibung müssen Aufgaben und Tätigkeiten des Lehrerberufs indirekt abgeleitet werden, z. B. aus öffentlichen Verlautbarungen und Verwaltungsvorschriften, Lehrplänen u. a. Auf einem sehr abstrakten Niveau geben die Schulgesetze darüber Auskunft, was die Gesellschaft von der Schule erwartet. Dem lässt sich entnehmen, was Lehrerinnen und Lehrer leisten und können sollen, um diesen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen. So formuliert z. B. das Schulgesetz Rheinland-Pfalz[4] in § 2:

»[…] (4) Die Schule vermittelt die zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werthaltungen und berücksichtigt dabei die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. Sie fördert die Entfaltung der Person, die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt. Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Schülerinnen und Schüler werden in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen (Koedukation).

(5) Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen

 

•selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln,

•für sich und gemeinsam mit anderen zu lernen und Leistungen zu erbringen,

•die eigene Meinung zu vertreten und die Meinung anderer zu achten,

•in religiösen und weltanschaulichen Fragen persönliche Entscheidungen zu treffen und Verständnis und Toleranz gegenüber den Entscheidungen anderer zu entwickeln,

•die grundlegenden Normen des Grundgesetzes und der Landesverfassung zu verstehen und für die Demokratie einzutreten,

•die eigene Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit sowie musisch-künstlerische Fähigkeiten zu entfalten,

•Freude an der Bewegung und am gemeinsamen Sport zu entwickeln, sich gesund zu ernähren und gesund zu leben,

•mit Medien verantwortungsbewusst und sicher umzugehen.

(6) Die Schule wahrt Offenheit und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Sie achtet den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Sie vermeidet alles, was die Empfindungen anders Denkender verletzen könnte. Schülerinnen und Schüler dürfen nicht einseitig beeinflusst werden.

(7) Die Schule ermöglicht und respektiert im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung unterschiedliche Auffassungen. Schulleiterinnen und Schulleiter und Lehrerinnen und Lehrer nehmen ihre Aufgaben unparteilich wahr.

(8) Der Unterricht soll die Lernfreude der Schülerinnen und Schüler erhalten und weiter fördern. Er soll die Schülerinnen und Schüler anregen und befähigen, Strategien und Methoden für ein lebenslanges nachhaltiges Lernen zu entwickeln. Drohendem Leistungsversagen und anderen Beeinträchtigungen von Schülerinnen und Schülern begegnet die Schule unter frühzeitiger Einbeziehung der Eltern mit vorbeugenden Maßnahmen.

(9) Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen werden besonders gefördert, um ihnen durch individuelle Hilfen ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbstständiger Lebensgestaltung zu ermöglichen.

(10) Die Schule fördert die Integration von Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, durch Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache. Dabei achtet und fördert sie die ethnische, kulturelle und sprachliche Identität (Muttersprache) dieser Schülerinnen und Schüler. Sie sollen gemeinsam mit allen anderen Schülerinnen und Schülern unterrichtet und zu den gleichen Abschlüssen geführt werden. […]«

Die Aufgabenbeschreibung der Schulgesetze ist eindrucksvoll, allerdings wenig konkret. Was sie im Schulalltag bedeutet, bedarf der Interpretation. Um handlungsrelevant zu werden, müssen die einzelnen Aufgaben – orientiert am jeweiligen Lehrplan – operationalisiert und auf die Besonderheit des unterrichtlichen und pädagogischen Handelns der jeweiligen Schularten und Standorte heruntergebrochen werden. Dabei kann es durchaus zu Unstimmigkeiten zwischen den an Schule beteiligten Personen untereinander und mit den Bildungsinstitutionen kommen, da es kein objektives Kriterium dafür gibt, auf welche Weise der Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllt werden soll und ab wann dies erreicht ist.

Zudem stellt er einen Auftrag für die gesamte Schule dar, d. h. für Kollegium, Schulleitung, Elternschaft, Schulaufsicht, Schulträger, Hausmeister, Sekretärin usw. Seine Erfüllung allein an den Lehrerinnen und Lehrern festzumachen, bedeutet eine strukturelle Überforderung und führt bei nicht wenigen Lehrkräften zu Selbstausbeutung und Selbstgefährdung (→ Kapitel 2.4).

Die Aufgaben gemäß dem KMK-Beschluss von 2000

Der KMK-Beschluss »Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heute – Fachleute für das Lernen« vom 5. Oktober 2000 wird etwas konkreter: Als Kernaufgabe von Lehrerinnen und Lehrern werden genannt die »gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation«. […] Lehrerinnen und Lehrer »vermitteln grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten in Methoden, die es dem Einzelnen ermöglichen, selbständig den Prozess des lebenslangen Lernens zu meistern […]« (KMK 2000).

Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, »dass die Erziehungsaufgabe in der Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist« und dass sie als »Vorbilder für Kinder und Jugendliche wirken«. Dazu sind die Zusammenarbeit mit den Eltern und die »Kooperation mit Fachkräften außerhalb der Schule« notwendig. Lehrkräfte »beteiligen sich an der Schulentwicklung und der Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas […]« und sie übernehmen »Aufgaben und Verantwortung bei der eigenständigen Verwaltung der Schule […]« (KMK 2000).

In der Literatur sind weitere Auflistungen von Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern zu finden, die – im Einklang mit den »Standards für die Lehrerbildung« der KMK (KMK 2004) – im Wesentlichen folgende Aufgabenbereiche herausarbeiten:

•Unterricht vorbereiten, planen, durchführen etc.

•Korrigieren, bewerten, beurteilen, diagnostizieren etc.

•Erziehen, Verhalten modifizieren, motivieren etc.

•Kommunizieren, beraten, kooperieren etc.

•Verwalten, organisieren etc.

•Sich weiterentwickeln, sich weiterbilden etc.

Auch diese Auflistung bekommt ihre Handlungsrelevanz erst durch die Konkretisierung im Alltag. Es erfordert ein hohes Maß an Kooperation und Kommunikation in einem Kollegium und mit den Eltern, um ein auch für Schülerinnen und Schüler verstehbares und transparentes Schulkonzept und -programm zu entwickeln.

Ein Bonmot von Gudjons bringt es auf den Punkt: »Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.«

Generelle Charakteristika des Lehrerhandelns

Über diese Aufgaben und Tätigkeiten hinaus ist das tägliche Unterrichtshandeln von Lehrerinnen und Lehrern durch besondere Charakteristika gekennzeichnet.

Lehrerinnen und Lehrer …

•… erwartet eine anstrengende Unterrichtstätigkeit, bei der sie über Stunden hinweg ihre Aufmerksamkeit aufteilen müssen zwischen einzelnen Schülerinnen und Schülern und der Klasse mit ihrer Gruppendynamik.

•… sollen – meist unter Zeitdruck – die Vermittlung von Inhalten mit der Steuerung des Lernprozesses kombinieren. Das verlangt eine belastbare Konzentrationsfähigkeit.

•… müssen Schülerinnen und Schüler spüren lassen, dass »sie sich für ihre individuellen Lebensbedingungen und Lernmöglichkeiten interessieren und sie entsprechend fördern und motivieren, sie fordern, aber nicht überfordern« (KMK 2000).

•… sollten Schülerinnen und Schüler zeigen, dass sie ein »Herz« (KMK 2000) für sie haben, ihnen Interesse und Sympathie entgegenbringen.

•… können ihre unterrichtlichen und pädagogischen Ziele nicht aus eigener Kraft erreichen. Sie sind angewiesen auf die Kooperation und Lernbereitschaft der Schülerinnen und Schüler, die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen und die Mitwirkung der Eltern am Bildungs- und Erziehungsauftrag. Dennoch werden sie für die Lernergebnisse ihrer Schüler persönlich verantwortlich gemacht. Dies erfordert ein hohes Maß an sozialer und personaler Kompetenz, Frustrationstoleranz und kritischer Selbstwert-Einschätzung.

•… bekommen – ebenso wie die Schule – wenig Rückmeldung, in welcher Weise ihre angestrebten Bildungs- und Erziehungsziele tatsächlich erreicht wurden. Schülerinnen und Schüler sollen ja für das Leben lernen, nicht (nur) für die nächste Klassenarbeit. Ob das gelungen ist, erfahren Lehrerinnen und Lehrer eher zufällig.

•… können die für erfolgreiches Unterrichten und pädagogisches Handeln notwendigen Rahmenbedingungen nur bedingt selbst bestimmen und kontrollieren. Plötzlich auftretende Problemlagen, vorausgegangener oder nachfolgender Unterricht, schulfremde Ereignisse usw. können jegliche Planung und Vorbereitung zunichtemachen. Dafür sind Offenheit und Flexibilität erforderlich und die Bereitschaft, unklare, auch widersprüchliche Sachverhalte auszuhalten (Ambiguitätstoleranz; → Kapitel 11.2).

•… müssen im Verlauf einer Unterrichtsstunde eine Fülle von Entscheidungen treffen (nach Schätzung des Verbands Bildung und Erziehung etwa 200), ohne dass sie alle dafür eigentlich notwendigen Informationen zur Verfügung haben. Ihnen bleibt eine Reaktionszeit, aber nicht unbedingt eine Bedenkzeit. Dafür ist eine gewisse Risikobereitschaft und Fehlertoleranz sich selbst gegenüber erforderlich.