Dunkel und Licht

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Reinhilde hatte nicht aufgepasst und fast zu viel verraten. Und der zynische Unterton fiel Alina auch auf.

„Eine Vorzeigefamilie?“, fragte sie provozierend.

„So sagen manchmal die Leute“, bestätigte Reinhilde.

„Und Sie sind da jetzt so etwas wie das Oberhaupt?“, fragte Alina. Aber das hätte sie nicht sagen dürfen …

„Was? Wo denken Sie hin! Der Vater hat alles noch im Griff!“ Richtig empört schien Reinhilde wegen Alinas Vermutung. In Wirklichkeit galt die Empörung natürlich der patriarchalischen Macht des Vaters und der Angst seiner „Untergebenen“. Aber sie hatte tatsächlich noch nie darüber nachgedacht, was sich nach dessen Tod einmal in der Familienhierarchie abspielen würde.

„Vielleicht widmen wir uns der Familie doch lieber ausführlicher ein anderes Mal“, schlug die Therapeutin vor. „Können Sie mir heute vielleicht noch etwas sagen zu Ihrer langen Darmgeschichte?“

Und Reinhilde erzählte, dass sie seit der Kindheit schon einen empfindlichen Darm gehabt habe. Später waren es Durchfallprobleme, die im Vordergrund standen. Die mussten schließlich medikamentös bekämpft werden. Ab dem Erwachsenenalter, besonders seit ihrer Heirat, sei der Darm „gekippt“. Statt Durchfall waren es zunehmende Verstopfungen, die sie plagten. Auch da konnte sie bald nur noch mit Medikamenten für eine einigermaßen geregelte Verdauung sorgen. Es habe sich eine richtige Medikamentenabhängigkeit eingeschlichen. Damit kam sie dann zum ersten Mal in eine stationäre Behandlung. Das sei vor etwa 25 Jahren gewesen. Aber statt eine Verbesserung zu erreichen, habe der Darm immer mehr „gesponnen“. Die ersten Lähmungen von Teilabschnitten des Darms wurden vor ca. 10 Jahren festgestellt. Seitdem musste immer mehr am Darm operiert werden, sprich, Stücke des Darms entfernt werden. Immer stärker wurden die Folgeerkrankungen des zu kurzen und zu langsamen Darms. Nun sei der Punkt gekommen, an dem eine Operation nicht mehr möglich sei. Wenn der Darm sich nicht besser bewege, werde sie sterben. Das habe man ihr so angedroht.

7

Frau Rosamarie Schimmelpfand, die Schwester des Radfahrers, war eine langjährige Patientin bei Alina Winner. Mit ihren 64 Jahren hatte sie wegen ihrer psychischen Erkrankungen schon viele Nervenkliniken kennen gelernt, auch mehrere Therapeuten. Es wurde von niemandem mehr eine Heilung der Erkrankung erwartet. Zu Alina kam sie nur noch alle 4 Wochen, was beide als ausreichend erlebten. Dieser Rhythmus wurde nie unterbrochen, egal ob es der Patientin sehr schlecht ging oder sie eine gute Phase hatte. Beständigkeit war das A und O. Alina konnte sich nicht erinnern, dass diese Frau einmal wegen Krankheit gefehlt hätte. Und wenn sie selbst wegen Krankheit den Termin verlegen musste, dann war die Hölle los. Frau Schimmelpfand vermutete dann sofort, dass irgendein schlechter Einfluss von ihr die Therapeutin getroffen und krank gemacht hätte. Wenn Alina mehrere Wochen krank war, was zum Glück selten geschah, stand die Patientin nahe vor einer Einweisung. Ansonsten schien die Patientin vieles mit Gleichmut zu ertragen. Aber das täuschte. Manchmal bekämpften sich gute und böse Stimmen, meist schienen die bösen zu siegen. Und nach außen erstarrte in diesen Phasen die Patientin mehr und mehr, weil sie sich nie unvorsichtig verhalten durfte, nie die Aufträge und Verbote der Stimmen ignorieren, sie aber auch nie erfüllen durfte, weil die Selbstkontrolle der Patientin doch noch so weit intakt war, dass sie in ihrem Handeln den Stimmen nicht folgte. Also wurde sie, wenn es wieder einmal so weit war, ganz starr, tat nur das zum Überleben Nötigste, redete auch nur das Nötigste, um ja nichts falsch zu machen.

Dieses Mal kam die Patientin wie gewohnt pünktlich und still zum vereinbarten Termin und erzählte, scheinbar unbeteiligt, dass ihr Bruder Albert einen schweren Unfall gehabt habe. Alina kannte die Patientin gut genug, um sofort zu wissen, dass das nun nicht ihrer kranken Fantasie entsprungen war, sondern real geschehen sein musste.

„Das ist ja schlimm! Wie geht es ihm denn?“

„Er liegt im Krankenhaus.“

„Hatte er einen Autounfall?“

„Nein. Er war mit dem Rad unterwegs.“

„Ist er vom Rad gefallen?“

„Nein, er wurde von einem Auto angefahren?“

Nun begann es bei Alina zu rattern. Ist ja kein Wunder, sagen da die Tiefenpsychologen, das Unbewusste erkennt sofort die Zusammenhänge und eine fähige Psychologin wie Alina kann das ins Bewusstsein heben. Die Verhaltenstherapeuten aber sagen: Es ist nur der zeitliche Zusammenhang der Geschehnisse und der Aussagen dazu! Auf jeden Fall kam bei Alina sofort der Gedanke, es könnte der Unfall in der Familie ihrer neuen Patientin Reinhilde Sturm gewesen sein. Schicksals-Verknüpfungen zwischen ihren Patienten schienen ohnehin an der Tagesordnung zu sein. Wichtiger war jetzt aber, ob sich ihre Patientin Schimmelpfand involviert fühlte in diesen Todesfall und wie sie ihn verkraften würde.

„Soviel ich weiß, waren Sie mit Ihrem Bruder nicht so eng?“

„Nein, eigentlich nicht. Wir sehen uns vielleicht ein Mal im Jahr.“

„Wie ist es denn passiert?“

„Er ist ohne Licht gefahren und eine Autofahrerin hat ihn übersehen.“

Alina war froh, dass ihre Patientin alles realistisch verarbeitete, fragte aber noch einmal direkt nach:

„Und wie geht es denn nun Ihnen damit?“

„Er hat das nicht verdient!“

Die Patientin bringt also wieder ihre Muster rein, dachte Alina. Statt zu bangen oder zu trauern, fragt sie immer nach Schuld. Die Strafe als gute Möglichkeit, Schicksal zu verstehen. Schuld und Strafe, die zwei zentralen Anker, um die sich alles rankt im Leben der Schimmelpfand. Eigentlich der Schimmelpfands, denn die Mutter war diesbezüglich noch extremer gewesen. Erst jetzt in ihren letzten Lebensjahren wurde die Mutter ruhiger mit ihren Schuld-Selbst- und Fremdvorwürfen. Alina kam es manchmal so vor, als hätte die Mutter sechs Jahrzehnte lang ihre Aufgabe der Indoktrination der Tochter erfüllt und jetzt die Schuld-Fackel endgültig an die Tochter weitergegeben. Wie froh muss man sein, dass keine weitere Generation in den Startlöchern stand, um die Fackel weiterzutragen! Ihre Patientin Schimmelpfand hatte keine Kinder. Aber vielleicht trägt der Radfahrer auch eine Fackel mit sich herum. Langsam, Alina, ermahnte sie sich, mit dir gehen wieder einmal alle Gäule durch.

8

Auf dem Tisch stand eine brennende Kerze. Die Verhaltenstherapeutin Inge wollte es ihren Kollegen heimelig machen, ein bisschen Adventsstimmung reinbringen. Es war ihr letztes Intervisionstreffen in dem ablaufenden Jahr und niemand war so recht nach ernsthafter Besprechung von psychologischen Fällen zumute. Alina brachte Plätzchen mit. Die Analytikerin Ilona legte auch einmal ein wenig ihre Strenge ab und befand für sich, dass das in Ordnung sei. Man könne im Kollegenkreis auch einmal etwas gegen eine nüchterne Arbeitsatmosphäre tun. Max, ein ärztlicher Verhaltenstherapeut, nahm alles, wie es kam. Er ließ sich die Plätzchen schmecken und trank auch den mit Heilsteinen angereicherten Kräutertee, eine Harmoniemischung, obwohl ihm ein Glühwein sicher lieber gewesen wäre.

„Habt ihr von dem Unfall mit dem Radfahrer gehört?“, begann er plätzchenbeißend.

„Du meinst den Autounfall mit dem Mann, der im Nebel angefahren wurde?“, fragte Ilona.

Max nickte und kaute weiter. „Ich glaube, bei mir ist die Unfallfahrerin!“

„Was?“ Alina verschluckte sich am Tee. „Ich las, die Unfallfahrerin läge im Krankenhaus.“

„Nein, das ist ja nur das Bauernopfer. Ich glaub ja, dass meine Patientin aus dieser Nobelfamilie den Radler überfahren hat.“ Den Namen der Familie konnte er sich gerade noch verbeißen.

„Aber das wäre ja Fahrerflucht!“

Max nickte und schob das nächste Plätzchen ein.

„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte Alina nach.

„Der zeitliche Zusammenhang! Meine neue Patientin war noch nie in einer Therapie und kommt plötzlich mit einer Fahrangst daher und druckst rum, ihr sei etwas passiert, über das sie aber nicht reden will, das ihr aber zu schaffen mache. Ein Unfall, hab ich gerade noch aus ihr herausbekommen.“

„Aber in unserer Stadt gibt es schon noch mehr Unfälle als diesen!“, gab Ilona zu bedenken.

„Dann ist das halt mein Bauchgefühl!“, grinste Max. „Oder wie ihr Tiefenpsychologen sagen würdet: Mein Unbewusstes weiß es!“

„Könnte es sein, dass sie eine ältere Schwester, so Mitte 70 hat?“, fragte Alina.

„Ja, genau! Woher weißt denn du das?“

„Die ist bei mir!“, sagte Alina mit einem leichten Triumphgefühl, wie es sich einstellt, wenn man einen anderen überraschen kann.

Die vier Psychotherapeuten nickten lächelnd und wissend. Und es war für keinen von ihnen eine besonders große Überraschung, dass ihre Patienten miteinander verwandt oder bekannt sind.

„Wie klein wieder die Welt ist“, bemerkte Inge.

„Vor allem unsere Stadt“, präzisierte Ilona.

„Aber das ist noch nicht alles“, sagte Alina. „Wenn wir schon mal dabei sind … Es bleibt ja alles unter uns … Bei mir ist auch noch eine Patientin aus der Familie des Unfallopfers.“

„Natürlich. Klar. War vielleicht bei jemanden das Unfallopfer selber?“, fragte Max, grinsend in die Runde schauend. Und zu Alina gewandt. „Was weiß man denn über den Verunfallten?“

„Ich jedenfalls weiß kaum etwas über den. Muss ein seltsamer Vogel sein, der isoliert in seinem Wohnwagen lebt. Bei mir ist schon ewig seine schizophrene Schwester. Über die habe ich euch schon oft erzählt. Sie hat aber kaum Kontakt zu ihrem Bruder.“

„Nochmal zurück zu den Unfallschwestern aus der Nobel-Familie. Meine Patientin hat nicht erwähnt, dass ihre Schwester auch in Therapie ist“, sagte Max zu Alina.

 

„Das wissen wahrscheinlich beide nicht voneinander. Ich nehme an, das verbietet die Familienehre! Meine tut sich jedenfalls sehr schwer mit ihrer Therapiebedürftigkeit. Wer weiß, ob sie bleibt.“

„Da müssen wir beide aber aufpassen, dass wir ihnen nichts verraten!“, blinzelte Max seiner Kollegin zu.

„Und, wie kommst du zurecht mit deiner?“, fragte Alina nach.

„Sie ist ganz schön durch den Wind. Schiebt sich unbewusst“, bei diesem Begriff sah er lächelnd zu seinen tiefenpsychologisch orientierten Kolleginnen, „wohl auch selber Schuld an dem Unfall zu. Aber da ist noch mehr im Busch. Mal schauen, ob ich mit meinen eingeschränkten verhaltenstherapeutischen Mitteln dahinter komme“, grinste er ironisch Ilona und Alina zu.

Den beiden psychoanalytisch Denkenden fiel es nicht leicht, spaßig mit solchen Breitseiten umzugehen, weil sie bei der Aufdeckung verborgener Geschichten ja tatsächlich von der Überlegenheit ihrer tiefenpsychologischen Verfahren ausgingen. Aber Inge spürte die aufkommende Spannung sofort und wiegelte ab:

„Unser Max, der macht das schon!“

Manchmal war Alina auch dankbar für Inges harmonisierende Art.

„Bei meiner geht es nicht um den Unfall. Sie ist körperlich sehr schwer krank und ich bin sozusagen ihre letzte Rettung. Also momentan überschneiden sich unsere Fälle noch nicht so sehr“, schaffte auch Alina den Sprung ans rettende Ufer.

Ilona kaute aber noch auf einem Problem herum: „Was ist, wenn es sich tatsächlich um diesen Unfall handelt und wir wissen, wer die Unfallflüchtige ist? Müssen wir das nicht der Polizei melden?“

„Das ist nicht unsere Sache!“, erwiderte Max trocken. „Wir können doch nicht unsere Schweigepflicht brechen.“

„Und da soll die andere Fahrerin womöglich für etwas bestraft werden, das sie gar nicht gemacht hat?“, wandte Inge ein.

„Ach, wartet doch einmal ab! Kommt Zeit, kommt Rat!“, meinte Max.

9

Alina begann die zweite Sitzung mit einer direkten Frage: „Frau Sturm, haben Sie sich schon einmal mit Entspannungsverfahren beschäftigt?“

Reinhilde nickte: „Dazu hat mir schon ein jeder Arzt geraten! Aber ich bin halt nicht so der Typ, der sich einschläfern lässt.“

„Ich dachte, das wäre eine sinnvolle Alternative oder besser eine Ergänzung zu Gesprächen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen einmal etwas zeige? Es ist ganz einfach.“

„Das müssen Sie mir vorher schon erläutern, was Sie vorhaben!“, bremste die Patientin.

„Okay. Ich habe mir gedacht, dass wir ein paar Muskelentspannungsübungen machen. Also zum Beispiel so:“ Nun ballte Alina ihre Hand zu einer Faust und ließ nach einigen Sekunden die Hand wieder schlaff werden. „Also immer nach dem Prinzip anspannen und wieder entspannen – beides beobachten. Und das bei mehreren Muskelgruppen des Körpers, in den Armen, in den Beinen et cetera. Und nach diesen Muskelentspannungen könnten wir ein Vorstellungsbild probieren.“

„Und was soll denn das nun wieder sein?“ Reinhilde schien nicht besonders begeistert.

„Also: Sie stellen sich zum Beispiel eine schöne Wiese vor und genießen die Stimmung.“

Reinhilde schaute skeptisch. Und Alina warb weiter um ihre Idee:

„Ich würde Ihnen das halt gerne schon jetzt in der Anfangszeit anbieten, damit Sie sich eine Vorstellung davon machen können, wie wir miteinander weiterarbeiten könnten. Also, dass wir nicht nur reden brauchen, sondern auch etwas Konkretes machen.“

„Und da soll ich mich jetzt hinlegen dazu?“ Reinhilde war bei aller Skepsis offenbar gewillt, einen Versuch zu wagen.

Alina war es zuwider, Patienten zu irgendetwas zu drängen. Ihr saß aber die Zeit im Nacken. Es mussten schnell sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden. Sie hoffte, dass die Patientin diesem Vorgehen etwas abgewinnen könnte. Letztlich ging es der Therapeutin aber nicht um Entspannung, aber diese Wahrheit durfte sie der Patientin nicht zumuten, wenn sie sie nicht verschrecken wollte. Alina wollte imaginative Therapie einsetzen, um schneller an die unbewusste Inhalte zu gelangen, die hinter der lebensbedrohlichen Erkrankung stehen. Und wenn das nicht gelingen sollte, dann stünde wenigstens das Erlernen der Progressiven Muskelrelaxation als Entspannungstechnik zu Buche.

Reinhilde konnte sich tatsächlich auf die klaren Anweisungen der Therapeutin einlassen und ging mit ihr viele Muskelpartien des Körpers an- und entspannend durch. Sie spürte deutlich den Gegensatz in der Muskulatur, wenn sie fest anspannte und wieder losließ. Sogar ein leichtes Wärmegefühl registrierte sie. Alina lobte sie dafür und Reinhilde war zufrieden. Dann ging es ans Vorstellungsbild, das Alina ohne jeglichen Leistungsdruck ihrer Patientin nahebringen konnte. Eine Wiese sich vorstellen? Wie geht das? Am einfachsten eine Wiese, auf der man schon einmal war, also ein Erinnerungsbild. Schauen, was man da „sieht“, also eher „sich vorstellt“, anfangs nicht unbedingt ein anschauliches Bild. Dann etwas hinzufantasieren, schöne Blumen womöglich, vielleicht einen Waldrand oder einen Zaun. Dann etwas die Sonne und Ruhe genießen.

Beide waren zufrieden mit diesem Einstieg. Sie redeten noch allgemein über den bisherigen Umgang der Patientin mit Stress im Leben und über Auszeit, Entspannen und Genießen. Es war nicht überraschend, dass Reinhilde bisher ihren Körper und ihre Psyche stets überfordert hatte. Sie hatte dem Ganzen nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es sollte halt alles einfach funktionieren. Jahrzehntelang hatten ihr Medikamente und Operationen das Gefühl gegeben, dass sich vieles irgendwie wieder richten lässt und der immer größer werdende Rest als alters- und schicksalsbedingte Einschränkungen ertragen werden muss. Und, ehrlich gesagt, sie hatte ja schon ein Alter erreicht, in dem man nicht mehr unbedingt mit einer langen Zukunft rechnen brauchte. War also doch ihre Strategie die richtige gewesen? Nur, dass ihre Eltern sie womöglich überleben sollten, das fuchste sie. Und dass sie womöglich doch 20 Jahre herschenkte, wenn sie eigentlich so alt wie ihre Eltern werden könnte.

Nach ihrer zweiten Sitzung keimte doch tatsächlich ein wenig Hoffnung auf. Reinhilde wusste noch nicht, dass sie nach der nächsten Therapiestunde alles verfluchen und ihre alte Strategie wieder herbeisehnen würde. Die alte Strategie blieb ihr danach aber für immer verschlossen!

10

Magda Maller hatte sich nach dem Unfall mit dem Radfahrer sehr erschreckt: Dass sie die Angst überfiel, als sie sich hinters Steuer ihres Leihwagens setzte, hatte sie nicht erwartet. Sie riss die Tür auf, sprang heraus und hielt sich an der Dachreling des Autos fest. Nach einigen Minuten probierte sie es wieder. Dann ließ sie eine Stunde vergehen und traute sich ein weiteres Mal. Immer dasselbe! Als ihr die Tränen kamen, die Tränen ihrer Kindheit, und sie ihr Weinen nicht stoppen konnte, wusste sie, dass sie Hilfe brauchte. Der Unfall hatte ihre Stärke zerstört. Sie erinnerte sich an gut gemeinte Ratschläge. Wenn sie früher ihren Ärzten von ihren Problemen am Arbeitsplatz oder mit der Familie berichtete, endeten die Gespräche oft mit dem Hinweis, es gäbe dafür auch professionelle Hilfen. Auch in den ewigen Streitereien mit ihrem Mann waren Sätze wie Du gehörst auf die Couch keine Seltenheit. Sie verstand nie, warum man glaubte, sie sei verrückt. Aber jetzt erinnerte sie sich daran. Nun war es wohl so weit. Oder könnten Medikamente helfen?

Ihr Arzt empfahl eine Verhaltenstherapie. Mit ihr könnte man die Angst schnell wegtrainieren. Das wäre eine Desensibilisierung, wie bei einer Allergie. Das verstand sie. Und wenn es schnell half, umso besser.

So also war sie bei Max in Behandlung gekommen.

Der Therapeut konnte ihr sehr bald einen Termin geben. Magda berichtete Max von ihrem Angstanfall, wollte aber keinesfalls den konkreten Ablauf des Unfalls erzählen. Vor allem wollte sie sich selbst damit nicht mehr konfrontieren. Sie schilderte, dass sie unachtsam gewesen sei und von der Straße abgekommen wäre. Max nannte ihre Angst eine Amaxophobie, die sich gut behandeln lasse. Sie müsse dazu aber ein Entspannungsverfahren erlernen: Und so ballte sie ihre Faust, das konnte sie schon immer, und ließ sie wieder los, das ging auch noch. Dabei sollte sie den Unterschied beobachten zwischen der Anspannung und der Entspannung. Das war schon schwieriger. Der Therapeut ging mehrere Muskelpartien auf diese Art und Weise mit ihr durch, die Bizeps, die Waden, ja sogar Gesichtsmuskeln, von denen sie gar nicht wusste, dass sie so etwas besaß. Er nannte das Verfahren die Progressive Entspannung nach Jacobson.

Dann wurde gemeinsam eine Reihenfolge von angstauslösenden Situationen festgelegt, von der geringsten zur stärksten Angst. Diese Situationen sollten zuerst während der Entspannung vorstellungsmäßig Schritt für Schritt durchgearbeitet werden. Der erste Schritt im Behandlungsplan sah vor, dass sich Magda, nachdem sie sich entspannt hatte, ihr Auto vorstellen sollte, dann wie sie darauf zuging, schließlich wie sie Tür öffnete und sich hinters Steuer setzte. Der Therapeut bedeutete es ihr, wie wichtig es wäre, sich alles nur so weit vorzustellen, wie sie es angstfrei aushalten könne. Er sprach von einer Systematischen Desensibilisierung oder Desensitivierung – als ob ihr das nicht egal gewesen wäre.

Es ging ihr alles auf den Keks! Der Therapeut war so locker, nahm alles so leicht, verbreitete einen unerschütterlichen Optimismus. Das kriegen wir schon wieder hin. Was hatte der schon erlebt, wo konnte der schon mitreden? Und dann war der auch noch empfindlich, wenn sie etwas dagegenredete… Immer dieses Misstrauen! Was will der eigentlich? Will er mir wirklich helfen? Was verbirgt sich hinter seiner freundlichen Maske? Wahrscheinlich würde er bald sein wahres Gesicht zeigen, ungeduldig werden, sie herabsetzen, lächerlich machen, sie als unheilbar wieder wegschicken. Wieder einmal würde es sich herausstellen, dass die Menschen nichts mit ihr zu tun haben wollen, sich keine Zeit für sie nehmen und so tun, als könne man nicht mit ihr klarkommen.

11

Es hatte sich alles so schön angelassen. Eine einfache Fahrangst. Mit phobischen Erkrankungen kannte sich Max aus. Seine Patientin war wohl mit dem Auto vom Weg abgekommen und fürchtete eine Wiederholung des Unfalls. Oder war sie doch in den Unfall mit dem Radfahrer verwickelt? Er kam nicht so recht ran an diese Frau. So sind die halt in diesem Alter. Sie schilderte nicht einmal den konkreten Hergang des Unfalls. Aber na ja. Ein paar Sitzungen und sie kann wieder fahren... Auf jeden Fall lohnt es sich nicht, groß in der Kindheit zu kramen – bei der alten Frau. Die Entstehung der Phobie ließe sich leicht mit dem Unfall erklären, zumal der in diesem Alter eine noch größere Verunsicherung auslösen musste.

Dann wurde sie aber widerspenstig! Sie wirkte nicht mehr kooperativ, unterstellte ihm, oberflächlich und ungeduldig zu sein. Außerdem warf sie ihm vor, er reagiere empfindlich, wenn sie etwas Kritisches anmerke. Max erkannte, dass die Persönlichkeit dieser Frau womöglich die Behandlung sehr erschweren würde. Oder musste er ihre Kritik ernst nehmen und sich wirklich an die eigene Nase fassen?

Kam es, wie es kommen musste? Schon bald unterlief ihm ein folgenreicher Behandlungsfehler:

Die Patientin kam meist überpünktlich. So war er erstaunt, als sie sich einmal verspätete. Erst als er aus dem Fenster schaute, bemerkte er den dichten Nebel, der schon am späten Vormittag die Stadt verdunkelte. Da war vielleicht auch das Taxi vorsichtig gefahren, mit dem Magda vorfuhr. Er sah ihr zu, wie sie sich aus dem Rücksitz herausmühte. Eine alte Frau eben … Bei der Begrüßung seiner Patientin wollte er eigentlich über den Nebel sprechen, aber die Magda schaute ihn so eisig an, dass ihm jeglicher Smalltalk verging. Er konnte das Gesicht nicht deuten. Versteckte sie so ihr schlechtes Gewissen, dass sie zu spät kam? Oder war sie verärgert, überhaupt zu einer solchen Behandlung kommen zu müssen. Vermutlich verärgerte und kränkte es sie, zu einer Verspätung gezwungen worden zu sein, für die sie sich womöglich entschuldigen sollte. Der junge Kerl schaute schon wieder so vorwurfsvoll…

So passierte es Max, dass er während der Behandlung, bei der Sensibilisierung das abgesprochene eher harmlose Vorstellungsbild veränderte und beiläufig mit einem dichten Nebel „anreicherte“. Die Patientin reagierte prompt. Sie riss erschrocken die Augen auf, richtete sich auf und blieb mit geballten Fäusten und hereingezogenem Kopf sitzen. War sie so verärgert? Ihr ganzer Körper zitterte.

Es dauerte, bis Magda sich beruhigt hatte. Max war ebenso wie seine Patientin beeindruckt von dieser heftigen Reaktion. Schließlich sprach er sie direkt darauf an und endlich erzählte sie ihrem Therapeuten, was bei dem Unfall im Nebel wirklich vorgefallen war. Max begriff nun, dass nicht die Phobie, sondern das Trauma im Vordergrund stand. Und über allem schwebte die Unfallflucht!

 

Später überlegte er, ob der Fehler, den Nebel anzusprechen, nicht die Rettung für die Therapie gewesen war. Vielleicht wäre diese sonst im Sande verlaufen oder wäre bald abgebrochen worden. Es kam ihm sogar der Gedanke – und dabei dachte er schmunzelnd an seine ach so schlauen tiefenpsychologischen Intervisionskolleginnen – dass er wegen einer unbewussten Aggression gegen seine Patientin das abgesprochene Vorstellungsbild „angereichert“ hatte. Aber von solchen analytischen Interpretationen wollte er sich nicht aufhalten lassen. Er plante nun eine Traumabehandlung mit EMDR, einem Verfahren, das er schon vor Jahren in einer umfangreichen Fortbildung erlernt hatte.

12

„Nun, Max, hast du eigentlich schon mit deinem EMDR begonnen?“

Max glaubte ein Schmunzeln in Ilonas Mimik zu erkennen, als sie ihm diese Frage stellte. Und Ilona fuhr fort: „Du weißt schon, bei deiner Unfallverursacherin, die du das letzte Mal angesprochen hast.“

„Es freut mich, dass du dich daran erinnerst!“, gab er etwas pikiert zurück. „Und ja, ich habe mit der Traumatherapie angefangen.“

„Sag mal Max, arbeitest du dabei auch mit einem sicheren Ort?“, lenkte Inge das Gespräch sofort auf eine sachliche Ebene, um die Spannung zwischen dem Verhaltenstherapeuten und der Psychoanalytikerin zu besänftigen. Inge wusste, dass normalerweise alle in der Intervisionsgruppe froh darum waren, wenn sich Auseinandersetzungen in Grenzen hielten.

„Natürlich Inge“, antwortete er kurz, weil er spürte, dass es nur um Streitvermeidung ging.

Auch Alina stellte sich etwas dumm und lenkte ab: „Das erinnert mich an eure Tresorübung.“

„Ja, aber in den Tresor sollen die Patienten ihre Ängste, Erinnerungen oder Zwangsgedanken einschließen“, belehrte Max, „zum sicheren Ort können sich die Traumapatienten vorstellungsmäßig hinflüchten, wenn sie es anders nicht mehr aushalten.“

„Also Max, noch mal zum eigentlichen EMDR“, mischte sich Ilona wieder ein. „Wenn du mit deinem Finger so vor dem Gesicht der Patienten hin und her wedelst, machen die denn das einfach so mit?“

„Also Ilona, ich weiß nicht, was du willst!“ Nun war Max doch angepisst. „Du tust ja so, als ob das irgendein Hokuspokus wäre! Ich denke, das Verfahren ist genügend untersucht und seine Wirksamkeit bewiesen.“

„Ja, Ilona“, legte nun auch Inge nach, die sich freute, einmal etwas besser zu wissen als ihre gescheite Kollegin, „einfach gesagt, ist beim Trauma offenbar im Gehirn einiges an falsche Stellen geraten – was man übrigens hirnphysiologisch mit bildgebenden Verfahren beweisen kann – und das Eye Movement Desensitization and Reprocessing …“ – Inge wollte gar nicht mehr aufhören mit dem Glänzen und die anderen begannen zu schmunzeln - „… scheint durch die Gleichzeitigkeit von traumabezogenen Vorstellungsbildern und dem Verfolgen der Handbewegungen des Therapeuten da wieder etwas in Ordnung zu bringen.“

Max nickte. Er war wohl einverstanden mit Inges Erklärungen.

Ilona machte einen kleinen Rückzieher: „Es kommen halt alle paar Jahre irgendwelche neuen Methoden in Mode, die selbstverständlich schon Jahrzehnte erforscht sind.“ Ilona rollte mit den Augen, um die Ironie ihrer Aussage sichtbar zu machen. „Denkt mal nur an die Kneiferei oder Klopferei!“

„Meinst du TaKeTiNa?“, fragte Inge.

„Was? TikiTaka?“, warf Max, der Fußballexperte ein.

„Oder Titicaca?“ Alina schloss sich lachend der Blödelei an. „Aber im Ernst: Du meinst sicher NLP und EFT oder MET“.

„Ja“, sagte Ilona. „Und das erscheint mir alles so einfach und schnell. So unkompliziert kann die menschliche Psyche wohl nicht sein!“

„Trotzdem bestätigen die Erfolge die Wirksamkeit“, erwiderte Max.

„Ich muss zugeben …“ und dabei wandte sich Alina an Ilona, „dass wir Tiefenpsychologen uns manchmal zu wenig auseinandersetzen mit diesen Verfahren. Und das Neurolinguistische Programmieren oder die Klopftherapien sind sicher komplexer als wir glauben. Und das EMDR, selbst wenn es noch nicht gänzlich erforscht ist, wird inzwischen ja auch bei anderen Krankheitsbildern eingesetzt und manchmal kombiniert, übrigens auch mit NLP.“

„Und natürlich eingebaut in ein Gesamtkonzept der Behandlung, das oft viel umfangreicher ist als diese Einzelverfahren“, ergänzte Inge.

Kurve gekriegt, dachte Max. Und alle schienen erleichtert. Inge verteilte ihren heilsteinangereicherten Harmonietee und jeder bediente sich am Teller mit den leckeren Keksen. Dann kam man endlich wieder auf die leidigen Abrechnungs- und Praxisorganisationsthemen zu sprechen, schimpfte gemeinsam auf die Kassenärztliche Vereinigung, die Kassen und die unmöglichen belehrenden Gutachter, die die Gescheitheit mit Löffeln gefressen haben.

Zum Schluss des Intervisionstreffens entschloss sich Max, den Kolleginnen doch reinen Wein einzuschenken:

„Ich hab es inzwischen übrigens herausgefunden. Der Radfahrer wurde wirklich von meiner Patientin angefahren, mit ihrem Mercedes – und sie hat Unfallflucht begangen.“

„Da haben wir den Salat!“, kommentierte Ilona trocken. „Jetzt schau mal, wie du damit klar kommst!“

13

Alina ließ die Aufdeckung der Straftat keine Ruhe. Eigentlich eher die Verdeckung! Die Psychotherapeuten in freier Praxis haben in der Regel mit Opfern zu tun und nicht mit Tätern. Bei Straftaten, die ihnen durch die Patienten bekannt gemacht werden, ist das schwierig genug, zusammen mit den Betroffenen den richtigen Weg zu finden. Aber wenn der Täter in Behandlung ist, gilt da nicht auch die Schweigepflicht wie bei einer Beichte? Erschwerend kam in diesem Fall hinzu, dass eine unschuldige alte Frau für die Unfallverursacherin gehalten wurde und diese mit einem „Schock“, wie es hieß, im Krankenhaus lag. Was, wenn die alte Dame suizidal wäre? Oder vor Gram krank zu werden oder gar zu sterben drohte? Alina überlegte, ob sie nicht ihre alten Verbindungen spielen lassen müsste – auch ohne den Kollegen Max mit hineinzuziehen? Wenn Kommissar Flinker mit dem Fall befasst war und herausbekam, dass die Schwester des Unfallopfers bei ihr in Behandlung ist, würde er vielleicht ohnehin Kontakt zu ihr aufnehmen. Sollte sie ihm zuvorkommen?

„Ich bin ja gespannt, was Sie mir zu sagen haben!“, begrüßte Flinker sie mit einer herzlichen Umarmung.

„Wieso? Ich wollte Sie halt einfach einmal wieder sehen!“

Flinker lachte. „Mich freut es auch, sie zu treffen, aber natürlich steckt da etwas dahinter!“

Alina grinste: „Sie kennen mich eben schon zu gut!“

Sie setzten sich im Café an den hintersten Tisch, von dem aus sie den ganzen Raum im Auge hatten – und der Ihnen größtmögliche Diskretion erlaubte. Der kleine Flinker bestellte zum Kännchen ein großes Stück Sachertorte - man gönnt sich ja sonst nichts. Und Alina einen Cappuccino zu einem süßen Schokoladenpfannkuchen.

„Wirklich ein schönes Café!“

„Wie geht es Ihnen denn?“

Sie lachten, denn die Bemerkungen kamen fast zeitgleich von beiden!

„Ja, genau das ist es!“, sagte Alina. „Diese Zeitgleichheit im Leben. Das passiert uns Psychotherapeuten dauernd!“

„Und ich dachte schon, es hat etwas mit unseren besonderen Beziehung zu tun!“, schäkerte Flinker.

Er schaute Alina auffordernd an. Vom Alter her könnte sie fast seine Tochter sein. Trotzdem dachte er bei seiner Bemerkung nicht an eine Vater-Tochter-Beziehung.

Alina hatte verstanden. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie saßen über Eck, um sich näher zu sein. Der Diskretion wegen, versteht sich – sie hatten sich schließlich Wichtiges zu erzählen! Flinker zog die Hand natürlich nicht weg, sondern klopfte mit der freien Hand auf ihre und himmelte Alina an. Es war mehr als Freundschaft, das spürte er in solchen Situationen. Er dachte an das gemeinsame Abenteuer am Berg, es war wohl der Osser, als sie beide in der Dunkelheit abstiegen und Alina sich ganz fest an ihn anklammerte.2 Ja, sie hatten schon vieles miteinander erlebt und waren sich schon öfters nähergekommen!

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