Die alte Tür

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„Vielleicht kann ich das Ganze etwas auffangen, wenn ich ihm verdeutliche, dass die Wahrnehmung spezifischer Gerüche bei bestimmten Aussagen anderer Menschen, also diese Synästhesie, eine ungewöhnliche Gabe ist.“

Sie nickt und ergänzt: „Aber wirklich nützlich oder besonders schön ist die nun auch wieder nicht. Wobei ich es eigentlich immer schon bemerkenswert fand, dass solche Synästhesien zwischen Tönen und Farben nicht störend für die Leute sind. Stellen Sie sich mal die Pianistin Grimaud vor, wie sie ein Klavierkonzert spielt und dabei lauter Farben sieht.“

Ich lache und bekomme einen kleinen Hustenanfall, weil ich mich verschluckt habe. „Also, ich will ja nicht wissen, welche Gerüche mein Patient bei mir wahrnimmt, wenn ich mit ihm rede!“

„Sehen Sie, deswegen bin ich Analytikerin geworden! Ich muss nicht so viel reden. Ich höre immer nur zu und dann stinke ich wenigstens nicht!“ Und dabei bricht sie in eine ungewohnte Heiterkeit aus, wirft ihren Oberkörper zurück und schleudert ihre zierlichen Füße in die Höhe. Auch strenge Psychoanalytikerinnen können einen manchmal überraschen!

4. Meine schnäuzende Psychotherapeutin

Selbstverständlich bin ich auch selber ein Patient! Meine Psychotherapeutin ist eine Psychoanalytikerin, was sonst. Ich liege auf der Couch und sie sitzt hinter mir. Ich kann also ihre Füße nicht sehen. Und auch nicht ihre Gesten und Mimik... Aber ich höre sie – ohne besondere Gerüche wahrzunehmen. Was ich oft höre, ist ihr Schnäuzen. Keine Ahnung, ob sie eine Dauererkältung hat, weil ihre Nasenscheidewände zu eng stehen oder ob sie allergisch gegen etwas ist. Vielleicht sogar gegen mich? Ich habe mich bisher nie fragen getraut, ob sie sich bei anderen auch ständig schnäuzen muss.

Ich erzähle ihr von meinem Gespräch bei der Supervisorin und stelle mir vor, wie meine Therapeutin grinst. Natürlich sage ich ihr über den Fall nicht einfach dasselbe, was ich bei der Supervisorin gesagt habe, sondern nehme nur Bezug zu meinen Empfindungen, die ich dort in der Supervision, aber auch im Gespräch mit dem Patienten Baron hatte. Ich weiß schließlich, was sich gehört: Supervision dort und Therapie hier.

Als ich über meine körperliche Symptomatik berichte, die im Gespräch mit dem Baron aufgetreten waren, hakt sie ein. Vorher hat sie ja in gewohnter Manier geschwiegen, mal „Mhm“ oder „Ja“ gesagt, aber sonst nur mitgeschrieben.

„Das ist ja gar nicht so anders als bei Ihrem Patienten!“, meint sie. „Sie verknüpfen bestimmte Aussagen des Gegenübers zwar nicht mit Gerüchen, aber mit Ihren Körpersymptomen! Vielleicht mit ganz bestimmten.“

Ich weiß natürlich, dass man mein körperliches Reagieren auch als eine Begabung sehen und in der Therapie verwenden kann, aber: „Bestimmte Aussagen mit bestimmten Symptomen? Das würde ich nicht sagen. Ich reagiere halt gern körperlich.“

„Ich will auf etwas anderer raus!“, erwidert sie. „Seine Problematik erinnert Sie an sich selbst und deswegen wollen Sie vielleicht Ihren Patienten nicht als therapiebedürftig ansehen.“

„Also“, antworte ich leicht empört, „ich liege ja schließlich auch schon lange bei Ihnen, weil ich durchaus meine eigene Therapiebedürftigkeit akzeptiere!“

Das stellt sie erst einmal ruhig. Es folgt eine längere Schweigepause.

Die Analytiker machen es sich leicht. Sie warten ab. Da machen sie wenigstens nichts falsch. Ich bin noch nicht so weit, dass ich die Gedanken, die ich mir zu ihrer Arbeit mache, einfach reinplappere. Oder zu unserer Beziehung. Manchmal vermisse ich das Mütterliche, die Kollegin Inge... Meine Psychotherapeutin wirkt nicht besonders mütterlich. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sie kaum älter ist als ich. Aber es ist wohl doch eher ihre therapeutische Vorgehensweise. Abstinenz in Perfektion! Lieber frustrieren statt positiv dem anderen nahe kommen. Natürlich erinnert mich das an meine reale Mutter und meine Großmutter. Wobei das mit dem Erinnern so eine Sache ist. Meiner Therapeutin und mir ist schon lange aufgefallen, dass ich mich kaum an etwas erinnere aus meiner Kindheit. Das hängt wohl mit der Beziehungslosigkeit zusammen, die zwischen meinen Erziehungspersonen und mir immer geherrscht hat, diese Neutralität, dieses Übersehenwerden, also diese fehlenden Emotionen, die eine Verankerung des frühkindlich Geschehenen in meinem Gedächtnis so schwierig machten.

Oder ich will es nicht mehr wissen! Vielleicht sind ganz schreckliche Dinge geschehen, an die ich mich lieber nicht mehr erinnern will!

Ich führe das Gespräch weiter: „Ich hab schon immer körperlich gesprochen, das kann ich gut.“ Unsinnig, auf eine Reaktion zu warten, also weiter: „Vermutlich hat man in meiner Kindheit wenig mit mir geredet.“

Jetzt scheint sie gnädigerweise mich nicht stärker frustrieren zu wollen. Sie hat erkannt, dass unser Gespräch zu sehr die kindliche Frustration wiederholt. Sie gönnt mir ein Wort! Eigentlich erstaunlich, denn sie könnte ja auch meine Aggression gegen sie, also im übertragenen Sinn gegen die Sprachlosigkeit meiner frühen Bezugspersonen, herauslocken wollen.

„Und da haben Körperreaktionen die Gespräche ersetzt!“, deutet sie.

„Ich würde es eher so ausdrücken“, erwidere ich, „dass Körpersymptome notwendig waren, um überhaupt Reaktionen des anderen hervorzurufen!“

„Sie wollen also Reaktionen bei Ihren Patienten hervorrufen?“

„N-e-i-n“. Nachdenklich zieh ich meine Antwort in die Länge, aber die Therapeutin hilft mir gleich auf die Sprünge:

„Ich denke, dass das ein Identifikationsmechanismus sein könnte, über den Sie Beziehung herstellen. Sie übernehmen etwas an Gefühlen, psychisch oder körperlich, was zum Patienten – oder ihren Großeltern - gehört, dem Patienten aber noch gar nicht bewusst ist. Dadurch fühlen Sie sich ihm nahe.“

Das gefällt mir besser. Und ich lasse es so stehen. Es gäbe noch so viele andere Interpretationen! Eigentlich war der erste Gedanke auch nicht falsch. Denn natürlich reagiert mein Körper etwa mit Schmerzen, wenn ich etwas gesagt habe, das den Patienten verletzt hat. Und dann könnte man doch vermuten, ich bestrafe mich selber und will mich schützen vor dem Gegenangriff. Ob meine Eltern darauf Rücksicht genommen haben?

Ach ja, meine Psychotherapeutin sprach nicht von meinen Eltern, sondern von meinen Großeltern. Aber das erkläre ich erst später.

Sie schnäuzt sich. Vielleicht ist das ein Mechanismus, mit dem sie auf Abstand zu ihren Patienten geht? Kommt mir nicht zu nahe, denn ich stecke euch an, mache euch krank! Vielleicht hatte sie übergriffige Eltern, die ihr immer zu nahe kamen! Es wäre doch interessant, ob sie nur bei mir schnäuzt! Ich komme ihr aber doch nicht zu nahe, oder? Ich kann sie ja nicht einmal richtig anschauen. Nur kurz bei der Begrüßung und der Verabschiedung. Ihre Hände und Füße sind normal groß. Darauf habe ich geachtet. Alles scheint normal zu sein, das Gewicht, die Körpergröße, das gesamte Äußere. Aber das mit dem Schnäuzen...

Ob sie einen Mann hat? Oder gar eine Reihe Kinder? Nie erzählt sie etwas darüber. Sie ist wirklich absolut „abstinent“ und lässt alles Private draußen. Sie lässt Raum für meine Fantasien. Irgendwann werde ich das alles einbringen... Bestimmt!

Mit der Therapie begonnen habe ich, als ich meine Zwänge bemerkte, beziehungsweise einige meiner Verhaltensweisen als „Zwänge“ erkennen musste. Das hat mein tolles Bild, das ich von mir hatte, arg angekratzt und ich war gekränkt. Es war damals, als ich mich durch meine Fotografiererei eingeschränkt gefühlt hatte. Wie das geht? Ich fange vielleicht so an:

Bei mir daheim stehen im Bücherregal kleine Fotoalben. Sie sind für Bilder im Format 10x15 gedacht. In jedes Album passen 100 Fotos. Wenn man diese Fotos anschaut, dann fällt sofort auf, dass auf jedem Bild das Aufnahmedatum zu lesen ist. Das kann man beim Fotografieren an der Kamera so einstellen. Und dann erscheint das Datum eben auf dem fertigen Bild. Die Fotos sind genau chronologisch angeordnet, für jeden Tag gibt es genau ein Foto! Drei Alben sind also 300 Tage. Die restlichen 65 Tage des Jahres kommen in das nächste Album. Da bleiben 35 freie Plätze, die ich auffülle mit Fotografien von den Urlauben des Jahres. Vier Alben sind also ein Jahr. Die sind immer in derselben Farbe. Die wiederholt sich allerdings nach drei Jahren, denn es gibt diese Alben nur in drei Farben. Insgesamt stehen nebeneinander 40 kleine Alben. Das ergibt eine lange Reihe auf meinem Bücherregal. Ein schönes Gesamtbild!

Es hat lange Zeit gedauert, bis ich kapiert hatte, dass das ein Zwang ist, jeden Tag genau ein Foto! Natürlich kam mir dabei ein Patient zur Hilfe, der etwas Ähnliches hatte. Als ich den Zwang bemerkt hatte, versuchte ich, ihn sein zu lassen. Und da ging es richtig los! Ich bekam Angstzustände, wenn ich einmal an einem Tag kein Foto schießen wollte. Kurz vor Mitternacht stand ich noch einmal auf und drückte auf den Auslöser! Das Motiv war mir da natürlich nicht mehr wichtig, Hauptsache, das Datum stand drauf.

Was davor war und danach?

Davor habe ich viele Jahre ein Tagebuch geschrieben. Zum Schluss standen da nur noch Belanglosigkeiten drin, wie etwa, was ich gegessen hatte. Als Kind soll ich so etwas wie Wetteraufzeichnungen betrieben haben. Wichtig war immer, dass jeder Tag in irgendeiner Form festgehalten wurde. Das habe ich kapiert. Und danach? Nach der Foto-Phase?

Meine Therapeutin meinte, und ich gab ihr Recht, dass ich mich selbst bescheiße. Also dieses Wort hat sie nicht verwendet, aber gemeint hat sie es sicher so. Ich hab es mir nämlich bequemer gemacht – für mich und mein Selbstbild. Auf meinem Balkon, mit Blick auf einen Park, habe ich, gut vor Unwettern geschützt, eine Webcam installiert. Die macht nun täglich ein Foto. Jetzt kann ich mir sagen, dass es doch sehr interessant ist, das Wetter und die Natur im Park im Verlauf eines Jahres und im Vergleich mit den Vorjahren zu dokumentieren! Natürlich muss ich täglich kontrollieren, ob die Kamera in Ordnung ist und ihre Fotos macht, aber das geht einfach dadurch, dass ich auf meine Homepage gehe und nachschaue. Ein weiterer großer Vorteil im Vergleich zu den Jahren vorher liegt auf der Hand: Weil meine Homepage und die Webcamfotos öffentlich zugänglich sind, bekomme ich von einigen Seiten Lob für die guten und höchstinteressanten Aufnahmen! Bisher hat sich noch kein Spaziergänger beschwert, dass er zufällig fotografiert wurde und die Aufnahme überall auf der Welt eingesehen werden konnte.

 

5. Die Wohn- und Lebenssituation

Ich lebe gern in dieser Stadt und schätze die kurzen Wege: Meine Praxis liegt nur wenige Schritte von meiner Wohnung entfernt und die Praxen meiner Therapeutin und meiner Supervisorin finde ich gleich um die Ecke. Und selbst die Praxis meiner Intervisionskollegin Inge, bei der wir uns immer treffen, ist relativ schnell zu erreichen. Da tun mir meine Patienten leid! Viele fahren zur Behandlung vom „Wald“ hierher in die Stadt, manche über eine Stunde lang. Bei meinem Patienten Horst ist das anders: Nach seinen Abenteuern im letzten Jahr ist er umgezogen in die Anonymität der Stadt. Auch beruflich hat er sich neu orientiert. Angeblich kann er davon leben, dass er übers Internet irgendwelche Arbeitsaufträge annimmt, meist Tippereien, die schlecht bezahlt werden. Er nennt das crowdworking und als Beruf gibt er clickworker an. Das klingt doch nach etwas! Er hat aber auch noch andere Teilzeitjobs, alle ohne großartigen Kontakt zu anderen Menschen. Er ist halt ein Einzelgänger.

Das bin ich eigentlich auch und der Kontakt zu meinen Patienten reicht mir für den zwischenmenschlichen Austausch völlig. Sofern man überhaupt von einem Austausch reden kann.

Meine Praxis ist über einen Fahrstuhl leicht zu erreichen, aber ich nehme für die vier Stockwerke die Treppe. Mein Opa hatte mir oft vom Bundeskanzler Adenauer erzählt, der bis ins hohe Alter viele Stufen vom Rhein hinaufstieg. Das soll ihn angeblich gesund erhalten haben. Aber bei mir ist es nur eine Ausrede, denn ich vermeide jeden geschlossenen Raum ohne Fenster, also ein solcher Lift wäre die Hölle für mich! Und wie ich es so bei meinen Patienten beobachte, geht es vielen nicht anders...

Meine Praxis hat deshalb auch ein besonders großes Fenster, das einen Blick in einen großen Innenhof freigibt. Und wenn ich in den auf der anderen Seite liegenden Park schauen will, dann muss ich eben meinen Laptop zu Hilfe nehmen und auf meine Homepage gehen... Der Innenhof ist keine Wucht. Aber immerhin stehen einige Laubbäume drin, die im Herbst sich wunderbar verfärben und im Frühjahr viele Singvögel anlocken, die im Kessel der Häuserfronten lautstark konzertieren. Menschen sieht man dort selten, vielleicht ein paar Kinder, die auf den spärlichen Rasenflächen und alten Waschbetonplatten Fußball spielen. Ab und an hängt jemand Wäsche zum Trocknen auf die Leinen, die zwischen einbetonierten Metallpfosten aufgespannt sind. Meist hängt die Wäsche aber auf den Balkonen, von denen es im Quadrat der Hochhäuser etliche gibt. Außer bei mir. Ich hab aber das größte Fenster!

Meine Praxis ist insgesamt größer als meine bescheidene Mietwohnung. Dafür liegt die Wohnung nur im zweiten Stock und hat einen schönen Balkon, aber das sagte ich schon. Ich vermute, dass fast alle meine Patienten eine größere Wohnung haben, besonders die, die vom Land zu mir fahren. Sie haben aber auch fast alle eine Familie. Ich hingegen bin schon immer Single und ich bin das gerne! Aber seit ich selbst in Therapie bin, fallen viele meiner schön zurechtgelegten Lebenswerte in sich zusammen: Meine Foto-Sammelei ist eine Zwangsstörung, mein tägliches Treppentraining eine Klaustrophobie und mein Single-Dasein ein Unvermögen, mit einer Partnerin zusammenzuleben. Und daneben gibt es noch viele weitere Störungen, die ich jetzt nicht auch noch aufzählen möchte. Leute, geht nicht in Therapie, wenn ihr eure Lebenslügen behalten wollt!

Meine Kollegen kennen meine Privatwohnung nicht. Ich lade nicht gerne Leute ein. Sicher würden sie sich wundern über die 245 cm lange Reihe von kleinen Fotoalben in Blau, Rot und Gelb. Dann müsste ich das denen erklären. Und was weiß ich, was noch alles seltsam ist in meiner Wohnung. Wahrscheinlich werde ich nach einem weiteren Jahr Therapie noch mehr Neurotisches erkennen.

Ich war aber auch noch nie in den Privatwohnungen der Kollegen. Vermutlich steht da auch vieles herum... Nur Inges Praxis kenne ich inzwischen gut. Und das allein lässt schon auf vieles schließen. An den Wänden dort hängen Mitbringsel aus Afrikaurlauben – oder wurden die Masken und Teppiche auf Weihnachtsmärkten und in Dritte-Welt-Läden gekauft? Ach nein, das nennt man ja jetzt „Eine-Welt-Läden“. Immer schön politisch korrekt bleiben!

Auf kleinen Tischen stehen bei Inge Springbrunnen, in denen das Wasser über Halbedelsteine plätschert. Hoffentlich sind das nicht dieselben, die später in den Tees landen, die sie uns so gerne anbietet.

Und natürlich gibt es etliche Blumenstöcke mit seltsamen Namen, nach denen sich die anderen Kolleginnen sicher schon einmal erkundigt haben. Aber ich sagte ja schon, dass ich relativ neu bin in diesem Intervisions-Kreis und ich halte mich mit solchen Fragen zurück.

Von der Decke hängen übrigens Mobile herab, auch solche, die Töne von sich geben, wenn ein Lufthauch durch den Raum streicht.

In meinen Praxisräumen geht es nüchterner zu. Inge würde sie als eine typische Junggesellen-Praxis oder eine Männer-Praxis bezeichnen. Kein Schnickschnack. Dafür aber mit einem Sofa im Behandlungsraum, weil ich manchmal auch die Patienten hinlegen lasse, etwa bei Visualisierungs- oder Entspannungsübungen.

Auch in meiner Wohnung hängt wenig herum. Außer in der kleinen Küche, in der ich mich oft aufhalte, weil ich gerne etwas koche, aber auch, weil von dort aus der Balkon betreten werden kann. In der Küche baumeln viele Kochutensilien von der Decke! Es schaut aus, wie in einer Profi-Küche eines kleinen Lokals. Eigentlich bin ich stolz darauf und würde das gerne meinen Gästen zeigen. Aber ich habe ja kaum einmal Gäste.

Die Kamera auf dem Balkon ist geschickt unter der Decke angebracht. Also die Decke, das ist der Boden des darüber liegenden Balkons. Und mit geschickt meine ich, dass kein Regen die Elektronik gefährdet und dass die Kamera von draußen, also von unten, auch nur schwer erkennbar ist. Manchmal wundere ich mich, dass noch keine Beschwerden gekommen sind, dass da einer den Park beobachtet, denn meine Homepage könnten doch einige schon entdeckt haben. Ich habe keine Ahnung, ob das Filmen eines öffentlich zugänglichen Parks verboten ist, also genauer, das Filmen der dort umhergehenden Leute. Aber was soll man da schon Problematisches filmen können? Vielleicht einige Wildpinkler. Ich erinnere mich an Webcams in Touristengebieten, die auch keiner sieht, aber deren Videos in alle Welt übertragen werden, zum Beispiel auch im Fernsehen an den Wochenenden, damit die Tagestouristen einen Anhaltspunkt über die jeweilige Wetterlage bekommen, bevor sie sich auf den Weg machen.

Manchmal interessieren mich die Menschen schon, die in dem Park spazieren gehen. Und auch in der Praxis öffne ich gelegentlich das große Fenster zum Innenhof, wenn ich eine hübsche Frau auf einem der Balkone sehe. Anfangs nickte ich ihnen zu, inzwischen winke ich schon mal. Man kennt mich inzwischen, aber ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob die Leute dort wissen, dass das Praxisschild unten am Hauseingang irgendetwas zu tun hat mit dem Mann, der da aus dem großen Fenster schaut.

Das ist mir auch recht so. Und bei meinen Patienten passe ich auch gut auf, dass deren Anonymität gewahrt bleibt. Die können es selbst entscheiden, ob sie sich am Fenster des Warteraums zeigen wollen. Nur untereinander, also gegenüber dem vorausgehenden oder nachfolgenden Patienten, kann ich ein Aufeinandertreffen nicht vermeiden. Wegen des großen Einzugsgebiets meiner Praxis kommt es aber ganz selten zu einem „Hallo, wir kennen uns doch!“

Die Leute auf der Straße oder in den Geschäften haben keine Ahnung davon, dass ich der Psychologe bin, auch wenn sie mein Praxisschild schon öfters gelesen haben. Es ist schon passiert, dass sie mich erstaunt angeschaut haben, wenn sie einmal auf der Suche nach einem Physio-Therapeuten in meine Praxis kamen und mich erkannten. Das waren dann also Leute, die nicht genau gelesen und Psychotherapie mit Physiotherapie verwechselt hatten. Oder vielleicht den Unterschied nicht wussten. Die richtigen Psychotherapiepatienten kommen nur nach telefonischer Terminvereinbarung und wissen dann natürlich so ungefähr, was auf sie zukommt.

Es gibt Patienten, die drunten im Park oder im Auto warten, bis ihre Sitzung beginnt. Sie wollen nicht im Wartezimmer mit anderen zusammentreffen. Vermutlich wissen sie nach einiger Zeit, welcher Patient vor ihnen dran war, weil immer derselbe kurz davor aus der Eingangstür herauskommt. Meistens ist es so, dass die davor aus meiner Praxis Herausgehenden auch bald den danach kennen, weil sie sehen, wer draußen im Park oder Auto wartet. Na ja, jeder, wie er es will...

Vielleicht ziehen die Patienten einfach den Park meinem Warteraum vor. Das könnte ich gut verstehen. Im Park gibt es gepflegte Blumenrabatten und wunderschöne alte und exotische Bäume. Ein Baum gefällt mir besonders: Er besteht aus mehreren Stämmen. Zwei davon haben sich in mehreren Schwüngen auf die Erde gelegt, wie ein chinesischer Drache. Auch aus diesen Stämmen wachsen dicke Äste in die Höhe. Und wer weiß, vielleicht haben die Stämme schon Wurzeln geschlagen, dort, wo sie aufliegen. Die Blätter sind sehr groß und unterschiedlich geformt und im Frühsommer bezaubern weiße Blüten die Parkbesucher.

6. Intervision: Wurzeln schlagen und verlieren

Wenn man als lebendiges Wesen längere Zeit irgendwo liegt oder nicht von der Stelle kommt, schlägt man Wurzeln. Als ich in unsere Intervisionssitzung komme, sind mir meine Mitstreiter schon recht vertraut und ich will gar nicht leugnen, dass ich mich sogar ein wenig auf sie gefreut habe. Von einem Händedruck bis zur herzlichen Umarmung gibt es alles zur Begrüßung. Der Tee dampft schon vor sich hin und Butterbrezeln – oder Brezn, wie man hier sagt - liegen auf Blümchentellern. Max und Alina tauschen sich privat noch über etwas aus – offenbar haben sie zwischendurch Kontakt gehabt. Dann beginnen schon die ersten Klagen über die neuesten Bürokratiemonster. Und gleich geht es wieder ums Geld. Max muss wieder Tipps für die Abrechnung geben und Alina ist wieder die Erste, die sich erbarmt, einen Fall vorzustellen und damit die gemeinschaftsstärkenden Klagen und Schimpfereien zu beenden.

Alina berichtet über eine 38-jährige Patientin, die sie vor wenigen Monaten aufgenommen hat. Diese habe vor einem Jahr als Spätgebärende ihr erstes Kind bekommen und sei seit der Geburt ihrer Tochter depressiv. Hormonelle Medikamentierungen hätten den Zustand ein wenig verbessert. Inzwischen könne sie wieder arbeiten, aber die Frau wolle trotzdem die Psychotherapie fortführen. Die sei ja längst überfällig gewesen, habe sie selbst gesagt. Die Patientin ist als Arzthelferin in einer Psychiatriepraxis beschäftigt und steht deswegen der Psychotherapie aufgeschlossen gegenüber.

„Du meinst wohl trotzdem?“, fragt Ilona zynisch.

Alina lächelt. „Nein, der Arzt gehört wirklich zu den Guten. Mit dem habe ich öfters gemeinsame Patienten.“

„Außerdem hat er anfangs die hormonelle Behandlung eingeleitet. Er kennt sich offenbar aus“, ergänzt Max.

„Die Patientin glaubt“, fährt Alina fort, „dass die Depression nicht nur etwas Hormonelles als Ursache hat, sondern auch in ihrer Kindheit begründet liegt. Sie hat ihre Eltern nie kennengelernt und ist bei ihren Großeltern im Hegau aufgewachsen.“

Mir stockt der Atem. Ich will nicht behaupten, dass ich vorher neben der Freude über die Intervisionssitzung schon gespürt hätte, dass da etwas Unangenehmes auf mich zukommt. Doch eigentlich hatte es wirklich schon vorher im Bauch gezwickt. Und nun spüre ich einen scharfen Stich in der linken Unterbauchregion. Ich lasse mir das nicht anmerken. Ich weiß ja, wo es herkommt!

„Da hat sie ja traumatisierende Beziehungsverluste in frühester Kindheit hinnehmen müssen!“, stellt die Psychoanalytikerin Ilona fest.

„Na, ich weiß nicht“, korrigiert Alina. „Sie hat eigentlich nie einen Elternkontakt, also auch nicht wirklich einen Verlust gehabt.“

Aus meinem Stich wird eine beständiger heller Schmerz. Aber es lässt sich aushalten. Ich weiß ja, woher es kommt...

 

„Sie muss schon einige Tage nach der Geburt zu den Großeltern gekommen sein.“

„Ob du da nicht den vorgeburtlichen Kontakt mit der Mutter unterschätzt?“, gibt Ilona zu Bedenken.

Alina zuckt mit den Schultern. „Mag sein.“

„Auf jeden Fall wäre eine Auslösung depressiver Gefühle durch die Geburt des eigenen Kindes nicht abwegig“, stellt Inge fest. Und alle Kollegen nicken.

„Und warum kam sie von Hegau hierher nach Ostbayern?“, mische ich mich nun ein. Vielleicht kann mich das von meinen Beschwerden ablenken.

Vom Hegau!“, verbessert mich Alina. „Das ist ein Landstrich irgendwo in Baden-Württemberg. Richtung Bodensee oder Schwarzwald.“

„Okay, vom Hegau also.“

„Eigentlich ist es eher umgekehrt!“, klärt Alina auf. „Die Mutter meiner Patientin stammt aus dem Hegau und hat hier einen Bayerwaldler geheiratet. Meine Patientin wurde also im Bayerischen Wald geboren. Unmittelbar nach ihrer Geburt sind dann ihre beiden Eltern tödlich verunglückt und sie kam als Baby zu den Großeltern mütterlicherseits nach Baden-Württemberg.“

„Da war ja das Baby beim Unfall dabei!“, überlegt Ilona.

„Angeblich war sie nicht dabei! Und das findet meine Patientin auch merkwürdig. Scheinbar konnten die Großeltern ihr das nie richtig erklären. Aber noch merkwürdiger erscheint mir, dass die Patientin da nicht richtig nachgebohrt hat. Auch über das Grab des Vaters hat sie nicht wirklich etwas gewusst. Das Grab der Mutter ist im Hegau. Das wollten die Großeltern so. Liegt ja nahe. Das Grab des Vaters sei wohl bei seinen Eltern im hinteren Bayerwald gewesen.“

„Ach, da hatte die Familie deiner Patientin bei den Großeltern väterlicherseits gewohnt?“

„Nein, so war es auch wieder nicht“. Alina grinst. „Der Bayerwald ist groß! Die Eltern meiner Patientin lebten im oberen und die Großeltern väterlicherseits im unteren Bayerischen Wald.“

„Auf jeden Fall wurden also die Eltern deiner Patientin nach ihrem Tod getrennt!“

Alina nickt. „Und jeweils bei ihren Eltern in der alten Heimat beerdigt.“

„Und die Großeltern im Hegau? Die leben inzwischen wohl nicht mehr?“

Alina schüttelt den Kopf. „Nur ihre uralte Oma lebt noch dort.“

„Großvater gestorben. Noch ein Verlust!“, bemerkt Ilona. „Und die Großeltern väterlicherseits?“

Alina zuckte mit dem Schultern. „Das weiß die Patientin nicht. Die hatte zu denen keinen Kontakt. Sie hatte die ja auch nie kennengelernt.“

„Und diese Großeltern waren wohl auch nicht dahinter her, ihre Enkeltochter einmal zu treffen!“

„Offensichtlich nicht!“

In der Runde macht sich Betroffenheit breit. Ob meine empathischen Kollegen auch körperlich reagieren? Bei mir jedenfalls treten so etwas wie Wehen auf. Leichte Wehen, sicherlich. Ich muss meine Konzentration wieder vom Körper weglenken und frage nach:

„Aber warum kam deine Patientin als Erwachsene hier in die Gegend zurück?“

„Naja, weil sie mal auf Spurensuche ging und dabei ihren Mann kennengelernt hat.“

„Ach so, sie hat es der Mutter nachgemacht!“

„Wir Oberpfälzer sind halt unwiderstehlich!“, scherzt Max.

„Ich will ja nicht kleinlich sein, aber ihr Vater war ja wohl ein Niederbayer!“, muss ich ihn korrigieren. Zwar ärgere ich mich über meine Beckmesserei, aber dafür lässt der Unterbauch-Schmerz etwas nach. Er wird wohl bald ganz verschwunden sein. Blöderweise stellt sich nun aber ein Schwindelgefühl ein, eine Taumeligkeit, wie sie wohl manche Menschen bei einem Wetterumschwung oder bei Nackenverspannungen fühlen. Die Parallele zwischen der Lebensgeschichte dieser Patientin und meiner eigenen macht mir doch sehr zu schaffen! Obwohl sie nicht hundertprozentig ist. Ich war immerhin schon zwei Jahre alt, als ich zu meinen Großeltern kam! Meine depressive Mutter hatte sich erhängt und mein Vater sich davongemacht. Ein Kleinkind war für ihn wohl eine Nummer zu groß. Und mit seinen Eltern hatte er sich nie verstanden. Zum Glück kam ich wenigstens nicht hunderte Kilometer weg! Von meinen Großeltern lebt inzwischen nur noch der Opa – in einem erbarmungswürdigen Zustand im Altenheim. Und mein Vater ist nie mehr aufgetaucht!

Ich entschließe mich zum Outing, vielleicht hilft das: „Meine Großeltern mütterlicherseits haben sich auch nie für mich interessiert. Sie haben aber auch weiter entfernt gewohnt.“

Diese persönliche Einbringung lässt die Kollegen auf-horchen. Es wurde aber auch mal Zeit, dass der etwas rauslässt!

„Bist wohl auch ein halber Zugereister?“, witzelt Max. Und ich bereue sofort meine Aussagen.

„Nein, das nicht, aber die Parallelen mit Alinas Patientin haben mich schon etwas mitgenommen.“

Alina nickt und wartet auf weitere Erläuterungen.

„Ja“, fahre ich fort, „ich bin auch bei meinen Großeltern aufgewachsen, bei den Eltern meines Vaters.“

„Und deine Eltern?“

„Die sind damals auch gestorben. Zumindest die Mutter.“

Nun merke ich, wie mir langsam die Tränen kommen. Vor Monaten wären es noch Kopfschmerzen gewesen.

„Von meinem Vater weiß ich nichts,“ füge ich noch an und signalisiere, dass damit das Gespräch über meine Herkunft erledigt sein soll.

Die Kolleginnen erkennen das, aber Max tut sich etwas schwerer. „Zum Glück bist du nicht depressiv!“

Ich nicke. „Aber meine Zwänge reichen mir auch!“

Es ist das erste Mal, dass ich das in meiner neuen Intervisionsgruppe direkt ausspreche – und damit die Erlaubnis gebe, dass mich die anderen danach fragen. Aber heute zum Glück nicht.

„Wir tragen alle unser Päckchen!“, sagt Inge und schenkt Tee nach.

Eine Zeit lang wird geschwiegen und Tee getrunken. Alle sind gedanklich bei sich und ihren Defiziten angelangt. Jeder der Anwesenden hat schon eine eigene Therapie hinter sich oder steckt noch mitten drin. Welche Störung würde man wählen, wenn man sich sein Leiden aussuchen könnte? Eine Depression sicher nicht, auch keine der psychotischen Erkrankungen. Eine Persönlichkeitsstörung schon eher, weil man sich da, wegen fehlender Einsicht, nicht krank fühlt. Aber natürlich leidet man, weil die Umwelt einen schlecht behandelt - glaubt man.

An diesem Punkt bin ich immer recht zufrieden. Zwänge, wenn man sie kaschieren und ins Leben gut einbauen kann, und psychosomatische Störungen, wenn sie sich nicht zu handfesten Erkrankungen auswachsen, lassen sich ertragen.

Meine Gedanken gehen aber noch einmal zurück zu meiner Mutter. Ich erinnere mich, wie ich als Kind an ihrem Grab stand, das ungewöhnlicherweise auf dem Stadtfriedhof lag – vermutlich, weil sie sich umgebracht hatte und die Großeltern der ländlichen katholischen Bevölkerung oder dem Pfarrer keinen Anlass für kritische Bemerkungen geben wollten. Ich waren selten dort. Und wenn jemand in die Nähe kam, verdrückte ich mich. So als trüge auch ich eine Schande in mir. Da half mir meine ganze Vernunft nichts. Und eigentlich war ich froh, als das Grab dann einmal aufgelöst wurde.

Meinen Vater habe ich nie gesucht. Ich wollte ihm auch nie begegnen. Als meine Großmutter das Zeitliche segnete, waren auch mein Opa und mein Vater für mich gestorben. Doch ab und zu besuche ich den Opa. Aber ich denke jetzt nur noch selten an die ganze Sippschaft. Allenfalls mal in meiner Therapie – oder wenn Patienten mit ähnlichen Kindheitserlebnissen kommen.

7. Meine Therapie: Warten

„Da sind Sie aber mal richtig heftig mit Ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert worden!“

„Ja. Man erlebt ja einiges an Parallelen, aber da hat es mich wirklich richtig erwischt.“

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