Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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2.5 Erkenntnisinteresse der Heritage-Language-Forschung

Losgelöst von der Relevanz der Zahlen zu Mehrsprachigkeit in Deutschland sowie von den oben diskutierten gesamtgesellschaftlichen und individualpsychologischen Vorteilen, die der Erhalt allochthoner Minderheitensprachen bietet, stellt die Beschäftigung mit Spracherhalt in der Migrationssituation auch für die Mehrsprachigkeitsforschung eine Chance dar. Anfängliche klassische Studien der Soziolinguistik beschäftigten sich mit Sprachverlust oder Sprachtod allein aus der Sicht autochthoner Minderheitensprachen in diglossischen Kontexten (vgl. bspw. Denison 1977; Dorian 1977; 1981; Dressler 1972; 1981). Wurden Studien zu Sprechern allochthoner Minderheitensprachen durchgeführt, so standen primär der Erwerb und die Beherrschung der Mehrheitssprache dieser Sprechergruppen im Zentrum des Interesses, während ihre Erstsprachen entweder als rein demographische Variable aufgenommen oder nur mitberücksichtigt wurden, wenn es darum ging, Fehler in der Zweitsprache zu erklären. Erst seit den 1990er Jahren rückte der Erhalt auch allochthoner Mehrsprachigkeit und mit ihr der HL-Sprecher1 vermehrt in den Fokus der Forschung (vgl. Cook 2003; Fase et al. 1992; Köpke et al. 2007; Krashen et al. 1998; Montrul 2008; Polinsky 2007; 2008a; 2008b; Schmid et al. 2004; Schmid & Köpke 2013).

Was sich als genuin neu an dieser Forschungsrichtung bestimmen lässt, ist nicht der Sprechertypus, den es so lange gibt wie Wanderungsbewegungen selbst: „There have been heritage speakers as long as immigration has moved families across language borders and as long as bilingual communities have been divided into dominant and minority language settings“ (Polinsky 2015a: 7; Hervorhebung i.O.). Vielmehr wandelte sich das Interesse an diesen Sprechern. Ebenso ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass es sich diese Sprachen ebenfalls zu bewahren und zu stärken lohnt: „Although heritage languages have been part of the linguistic landscape of many nations around the world for many years, what is new is the growing sense that minority languages are worth preserving and maintaining, rather than suppressing or ignoring“ (Montrul 2011a: 156).

Zusätzlich zu erfolgreichem Erwerb der Mehrheitssprache spielte infolge dieser Akzentverschiebungen in zahlreichen neueren Studien nicht zuletzt in Deutschland zunehmend die Erforschung derjenigen Bedingungen eine Rolle, die den Erhalt migrationsbedingter Mehrsprachigkeit im familiären und gleichsam im institutionellen Kontext fördern können (vgl. bspw. Anstatt 2011a; 2011b; 2013a; 2013b; Cantone et al. 2008; Meisel 2007a; 2007b; Müller et al. 2002). Diese jüngeren Arbeiten beschäftigen sich mit den Voraussetzungen, unter denen die HL in der Migrationssituation erhalten bleibt oder aber nicht mehr weitergegeben wird und abhandenkommt. Sie widmen sich also den Fragen nach Bedingungen und außer- wie innersprachlichen Umständen, die sich auf die Sprachkompetenz der HL-Sprecher auswirken und somit zur Sprachaufgabe oder zum Spracherhalt nicht-prestigeträchtiger allochthoner Minderheitensprachen beitragen können.

Die Erforschung von HLs verspricht zudem neue Erkenntnisse für die linguistische Theoriebildung, denn etablierte Hypothesen des Erstspracherwerbs gründen auf Erwerbsverläufen in einem monolingualen Kontext (vgl. Klann-Delius 2008; Szagun 2011). Erst unter Migrationsbedingungen lassen sich solche Verläufe für dieselben Sprachen auch unter nicht-monolingualen Bedingungen beobachten, sodass der Einfluss der Mehrheitssprache auf den Erwerb der Minderheitensprache sichtbar wird. Zudem kann für diese Sprechergruppe der ungesteuerte L1-Erwerb je nach Kontext ohne institutionelle Unterstützung, ohne Schutz durch den Staat oder ohne schriftsprachlichen Ausbau, Normierung und Standardisierung beschrieben werden. Da allochthone Minderheitensprachen oftmals gesetzlich nicht geschützt2 und Unterrichtsangebote in diesen häufig fakultativ sind, ist die Möglichkeit, ebenfalls die Standardvarietät der jeweiligen Sprache zu erlernen, in der Migrationssituation eingeschränkt. Die Erforschung von HL-Sprechern kann demzufolge aufgrund seiner Spracherwerbsbiographie neue Erkenntnisse über die Rolle der Umgebung und der äußeren Umstände beim Spracherwerb liefern.

Ferner wird die Bedeutung des Inputs bei der Beschäftigung mit HL-Sprechern in einem neuen Licht betrachtet. Denn sie erhalten im Vergleich zu Sprechern, die dieselbe Sprache unter monolingualen Bedingungen erwerben, nicht nur weniger Input in ihrer HL, sondern sie bekommen zudem einen qualitativ anderen Input, da alle HL-Sprecher von früher Kindheit an Kontakt zur Mehrheitssprache entweder in Betreuungseinrichtungen, durch Medien oder durch andere Familienmitglieder haben. Des Weiteren können alle Personen in der Umgebung des Kindes, mit denen es interagiert, bis zu einem gewissen Grad mit der Mehrheitssprache bilingual sein und ihr Herkunftsland unter Umständen selbst bereits als Kinder oder Jugendliche verlassen haben. Zusätzlich spielt zu einem späteren Zeitpunkt der oben genannte Aspekt des fehlenden Zugangs zu standardsprachlicher Varietät und zu Schriftlichkeit eine Rolle, der ebenfalls zu divergierendem Input während des Erwerbs einer HL führen kann.

Die Betrachtung von HLs ermöglicht es, den Zusammenhang zwischen Spracherwerb, Spracherhalt und den daran beteiligten Emotionen in einem neuen Kontext als bisher zu untersuchen. Während der Erwerb der Mehrheitssprache eines Landes für autochthone Sprecher nicht optional und emotionalen Einflüssen nicht zwingend unterworfen ist, erfährt die HL spätestens ab dem Eintritt des Sprechers in das Schulsystem fortdauernde Konkurrenz durch die Mehrheitssprache. Der Sprecher kann sich ab diesem Zeitpunkt einem gesellschaftlichen Druck zur Aufgabe seiner Sprache ausgesetzt sehen und erfährt durch den steten Kontakt zur Mehrheitssprache erstmals deutlich den geringen „Marktwert“ der HL. Dass HLs diese sensible Phase überstehen, ist sicherlich nicht zuletzt den ihnen seitens der Sprecher entgegengebrachten positiven Emotionen zuzusprechen.

All diese Besonderheiten der sprachlichen Sozialisation, des Inputs und der den Erwerb und Erhalt beeinflussenden Emotionen haben eine hohe Varianz in der Sprachkompetenz der HL-Sprecher zur Folge. Diese kann unter anderem für sprach- und bildungspolitische Schlussfolgerungen von großer Tragweite sein. Denn HL-Sprecher bilden zunehmend eine neue Zielgruppe als Lerner im Fremdsprachenklassenzimmer (vgl. Schroeder 2003; Tichomirowa 2011), nicht nur in der Schule, sondern vermehrt auch in tertiären Bildungsinstitutionen als sog. „re-learners“ (vgl. Montrul 2010a). Im Vergleich zum gängigen Fremdsprachenlerner stellen sie einen anderen Lernertypus dar, dessen Sprachkenntnisse eine völlig andere Herausforderung für die Lehrkraft bedeuten (vgl. Montrul 2011a: 159). Diese kommt zum einen durch die enorme Varianz in der Sprachkompetenz der Sprecher zustande. Zum anderen sind diese Sprachkenntnisse zusätzlich anders gelagert als die von Fremdsprachenlernern. Während letztere durch den Unterricht eher schriftsprachliche Strukturen erwerben und mit oraten Gebrauchsmustern weniger vertraut sind, bringen HL-Sprecher vergleichsweise gut ausgebaute mündliche Sprachkenntnisse von Zuhause mit.

Zusätzlich weisen HL-Sprecher andere Ansprüche an den Unterricht auf, denn sie fühlen sich der unterrichteten Sprache unter Umständen emotional und kulturell verbunden. Unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse könnte der Unterricht diese Zielgruppe in dem Erhalt ihrer HL stärken und sie mit wenig Aufwand zukünftig zu kompetenten und fortgeschrittenen Sprechern von selten gelehrten Sprachen werden lassen: „In order to better serve the needs of this immigrant population and help them reach their full linguistic potential in the heritage language, more needs to be unraveled about the nature of heritage language knowledge and its acquisition“ (Montrul 2008: 8). Um den Unterricht entsprechend gestalten zu können, ist es erforderlich, sowohl die von den Sprechern mitgebrachten Kompetenzen feststellen zu können als auch die Beweggründe Erwachsener für den Besuch entsprechender Kurse zu kennen, damit HL-Sprecher ihre sprachlichen Möglichkeiten im Sinne einer erfolgreichen Zweisprachigkeit voll ausschöpfen können.

Das Forschungsfeld der HL-Sprecher lässt sich zusammenfassend zu folgenden Themenschwerpunkten bündeln: Normal entwickelte Kinder erwerben ihre Erstsprache stets bis zu einer „muttersprachlichen“ Kompetenz, sodass es schließlich in ihrem sprachlichen Output als Erwachsene in Abhängigkeit vom Sozialisations- und Gebrauchskontext wenig Variation gibt (vgl. Klein 2000). Obwohl Kinder allochthoner Minderheiten ihrer HL ebenfalls von früher Kindheit an ausgesetzt waren, bilden HL-Sprecher jedoch keine homogene Gruppe als Erwachsene, da ihr Spracherwerb auf massive Weise durch externe Faktoren beeinflusst wird (vgl. Montrul 2011a: 158). Mithilfe von Analysen ihres sprachlichen Wissens lässt sich folglich ideal die Stabilität von in der Kindheit erworbenen Strukturen in unterschiedlichen Kontexten untersuchen. Somit kann anhand dieser Sprechergruppe der Einfluss sprachexterner Faktoren sowohl auf sprachlichen Output und die Entwicklung alternativer Sprachstrukturen betrachtet als auch der Erhalt dieser Sprache im Allgemeinen unter unterschiedlichen Bedingungen nachgezeichnet werden (vgl. Montrul 2011a: 159). Polinsky beschreibt als große Herausforderungen der HL-Forschung ebenfalls folgende vier Felder:

(i) describing precisely what it means to be a heritage speaker and identifying the range of variation among different heritage languages and their speakers, (ii) using patterns in the structure of heritage languages to inform our understanding of the uniquely human ability to create and use languages in general, (iii) testing the possibility of predicting the degree of heritage language maintenance or loss for a particular individual or community, and (iv) determining the particular pedagogical challenges presented and faced by heritage speakers in the classroom. (Polinsky 2015a: 9)

 

Die vorliegende Arbeit widmet sich dem dritten Punkt dieser Liste an Forschungsdesiderata und untersucht, zu welchem Ausmaß unterschiedliche außersprachliche Faktoren den Erhalt bzw. den Verlust der HL beeinflussen können und welche von ihnen dabei den größten Effekt aufweisen.

2.6 Zusammenfassung

Die Frage danach, ob eine Sprache auch nach der Migration in der Familie erhalten bleibt und an folgende Generationen weitergegeben wird, hängt stark mit dem Wert und Prestige zusammen, der ihr gesellschaftlich beigemessen wird. Dieses Sprachprestige ist dabei kein objektiv gesetztes Maß, sondern reflektiert gesellschaftliche Machtverhältnisse und wird durch alle Bildungseinrichtungen hindurch reproduziert. Sprachen in der Peripherie des nationalen Sprachgefüges unterliegen besonders großen Restriktionen bei ihrer Weitergabe an Folgegenerationen, sodass ihre Sprecher einem umso stärkeren Rechtfertigungsdruck im Falle eines Wunsches nach Spracherhalt ausgesetzt sind. Zahlreiche Forschungsbefunde stellen zudem migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als einen Sonderfall sprachlicher Sozialisation und als einen Risikofaktor im deutschen Bildungssystem dar. Ursachenforschung zu den festgestellten Disparitäten zeigt jedoch, dass es nicht zwingend die Mehrsprachigkeit an sich ist, die zu Bildungsbenachteiligung führt, sondern daran gekoppelte sozio-strukturelle Merkmale sowie Eigenschaften der Institution Schule selbst. Für den Erhalt der Minderheitensprache existiert wiederum eine Fülle an Argumenten aus unterschiedlichsten Disziplinen. Sie attestieren Mehrsprachigen u.a. kognitive Flexibilität, Vorteile beim Lernen von Fremdsprachen oder emotionale Stabilität. Zugleich deuten viele Studien darauf hin, dass diese Ressource nur von balanciert Mehrsprachigen ausgeschöpft werden kann, was ein weiteres Argument für die Förderung der Minderheitensprache ist. Dass migrationsbedingte Mehrsprachigkeit kein Randphänomen darstellt, verdeutlichen wiederum unterschiedliche Migrationsstatistiken und Spracherhebungen an Grundschulen. Sie zeigen, dass es sich unter den fünf am häufigsten in Deutschland gesprochenen Sprachen um zentrale bis superzentrale Sprachen handelt, die ihre Randomisierung erst in der Migrationssituation erfahren. Ihre Förderung ließe sich nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten rechtfertigen, sondern würde auch Anerkennung für die zahlreichen HL-Sprecher bedeuten. Nicht zuletzt verspricht die Beschäftigung mit HLs zum einen in Bezug auf die Theoriebildung, zum anderen hinsichtlich der unterrichtlichen Praxis zahlreiche Erkenntnisse für die Mehrsprachigkeitsforschung.

3 Forschungsstand zu Heritage-Language-Sprechern
3.1 Der Begriff „Heritage Language“ und seine Abgrenzung von anderen Termini

Der Begriff „Heritage Language“ (HL) ist in der deutschsprachigen Forschungslandschaft nicht weit verbreitet und findet nur begrenzt Anwendung in Studien mit Bezug zum Thema Mehrsprachigkeit. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird im folgenden Kapitel zunächst ausführlich auf seine Herleitung und definitorische Eingrenzung eingegangen. Gleichzeitig erfolgt eine Bestimmung anderer damit konkurrierender Ausdrücke, um die Notwendigkeit eines Rückgriffs ausschließlich auf diesen Terminus in der vorliegenden Studie zu begründen und hierdurch die Zielgruppe der Studie festzulegen und näher zu beschreiben.

3.1.1 Entstehung des Begriffs „Heritage Language“

„Heritage Language“ wurde als feststehender Fachausdruck laut Cummins (vgl. 2005: 585) zum ersten Mal in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Ontario Heritage Languages Program in Kanada verwendet. Das Programm diente der Initiierung und finanziellen Förderung von wöchentlichem HL-Unterricht und wirkte als Vermittler zwischen den einzelnen Communities und der Schule. Der Begriff selbst wurde im Rahmen dieser bildungspolitischen Maßnahme als „languages other than English or French“1 definiert. Diese nicht näher spezifizierte Definition lieferte keine weitere Beschreibung der Sprechermerkmale und fand folglich nur verzögert Eingang in die wissenschaftliche Diskussion. Erst im Laufe des sog. „Heritage Language Movement“ (Peyton et al. 2001: 4) in den 1990er Jahren wurde er in den USA von Pädagogen und Sprachlehrforschern weiter präzisiert.

Diese Bewegung verstand sich als eine bottom-up forcierte Abkehr von der monolingual orientierten Bildungspolitik der USA zu der damaligen Zeit und mündete in zahlreichen, von den Minderheiten selbst organisierten Schulen und Kursen vom Kindergarten bis zur universitären Ausbildung, die stufenweise in dem Bildungssystem verstetigt wurden (vgl. Fishman 2001: 89). Durch diese Entwicklungen fand der Begriff „Heritage Language“ und mit ihm der HL-Sprecher zunächst in den USA, Kanada und Australien immer mehr Beachtung durch die Forschung (vgl. Cho et al. 1997; Kondo 1997; Krashen et al. 1998). Inzwischen erlangten HLs – teilweise unter anderen Bezeichnungen – auch in Europa und in Deutschland immer mehr Aufmerksamkeit seitens der Forschungscommunity (vgl. Anstatt & Dieser 2007; Cantone et al. 2008; Cantone & Olfert 2015; Di Venanzio et al. 2012; Gagarina 2008; Kupisch et al. 2014).

Die in den ersten Publikationen verwendeten Definitionen beschreiben HLs als Minderheitensprachen (LOTEs – languages other than English), die ausschließlich innerhalb der Familie gesprochen sowie nicht schulisch vermittelt werden und zu denen der Sprecher eine persönliche, historisch bedingte Verbindung2 aufweist (vgl. Cho et al. 1997: 106; Krashen 1998: 3; Valdés 2001: 38), sie schließen also autochthone Minderheitensprachen ein. Fishman (2001) unterscheidet in a) indigene HLs von autochthonen Minderheiten in den USA, b) koloniale HLs wie Niederländisch, Schwedisch, Französisch und Deutsch, die bereits vor der Staatsgründung der USA durch erste Siedler eingeführt wurden, sowie c) migrationsbedingte HLs aktueller Einwanderer.

Diese Differenzierung begründet er zum einen mit der für ihren Erhalt verwendeten Rechtfertigungsstrategie, zum anderen mit den geschichtlich gewachsenen Gruppenmerkmalen, die sich auf die Weitergabe der HLs auswirken. So sei die Bewahrung indigener, autochthoner HLs nicht zuletzt von der Mehrheitsbevölkerung selbst erwünscht. Zurückzuführen sei dieser Wunsch auf den Ursprung indigener Bevölkerungsgruppen auf dem Territorium der USA, ihr Vorrecht darauf und auf eine ihnen gegenüber empfundene Kollektivschuld wegen der Zerstörung ihres kulturellen Erbes (vgl. ebd.: 83). Ähnliches lässt sich für den deutschen Kontext beschreiben, wo die autochthonen Minderheitensprachen Dänisch, Sorbisch und Friesisch als zu Deutschland zugehörig empfunden und durch die ECRM (vgl. Europarat 1992) offiziell geschützt werden. Ihr Erhalt wird in Deutschland auch durch die Mehrheitsgesellschaft stark begrüßt und gefordert (vgl. Gärtig et al. 2010: 227).3

Bei den im 17. Jahrhundert in den USA noch lebendigen kolonialen HLs fand laut Fishman kaum intergenerationale Sprachweitergabe statt, sodass die Nachkommen dieser ersten Einwanderer zum größten Teil inzwischen monolingual Englischsprachige sind (vgl. Fishman 2001: 84). Eine Ausnahme stelle das Deutsche dar, das in Form von Pennsylvania und Texas German aufgrund der Gruppengröße, des internationalen Kommunikationswerts der Sprache sowie der kulturellen und religiösen Abschottung seiner Sprecher bis in die heutige Zeit Bestand habe (ebd.). Neuere Studien zeigen indes, dass mit der voranschreitenden Öffnung beider Communities diese Sprachvarietäten ebenfalls nur noch von der älteren Generation gesprochen werden (vgl. Boas 2005: 82), sodass selbst in diesem Kontext Sprachverlust immer wahrscheinlicher wird. Eine vergleichbare sprachliche Konstellation ist im deutschen Kontext nicht gegeben.

Migrationsbedingte HLs hingegen verfügen über kein gesellschaftlich legitimes Argument, das ihren Erhalt rechtfertigen würde, und weisen gleichzeitig hinsichtlich der Gruppenmerkmale schlechtere Ausgangsbedingungen als die beiden erstgenannten Typen von HLs auf, weshalb ihre Förderung einer speziellen Beachtung bedarf. Obwohl Studien zu Spracherhalt aller drei genannten Gruppen vorliegen, befasst sich die heutige Forschung zu HLs primär mit dieser von Fishman hervorgehobenen dritten Gruppe, also mit allochthonen Minderheiten, deren Einwanderung zwei bis drei Generationen zurückreicht.4 Der Begriff „Heritage Language“ konnotiert heutzutage dementsprechend eine migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Diese Unterscheidung in allochthon und autochthon wird in Deutschland bei der Beschäftigung mit Minderheitensprachen ebenso grundsätzlich aufrechterhalten (vgl. De Bot & Gorter 2005: 612).

Der Terminus „Heritage Language“ wird jedoch von einigen Forschern auch kritisch betrachtet. Das Missliche an ihm sei die damit einhergehende Betonung der Vergangenheit, des sprachlichen „Erbes“ der Sprecher (vgl. Fishman 1991: 362). Dieser Fokus auf die geschichtliche, intergenerationale Herleitung einer HL versperre den Blick in die Zukunft und impliziere, dass sie keine vielversprechende Perspektive aufweise und eher auf Traditionen gründe denn auf der zeitgenössischen Beschäftigung mit Sprachen (vgl. Baker & Jones 1998: 509). Dieser Kritik ist grundsätzlich zuzustimmen, denn ein Erbe ist in der Tat ein Vermächtnis, das nicht selbst erarbeitet oder angeeignet, sondern von vorherigen Generationen in der Vergangenheit verfestigt und an eine Person übergeben wurde.

Dennoch stellt der Begriff „Heritage“ eine treffende Bezeichnung für Sprachen in dem geschilderten Zusammenhang dar, denn ein Erbe kann durchaus eine einträgliche Investition in die Zukunft bilden und einen Besitz, den man erhalten, ausbauen und an nachfolgende Generationen weitergeben möchte. Gleichzeitig lässt sich ein Erbe ausschlagen, sodass der Sprecher nicht gezwungen ist, die sprachliche Hinterlassenschaft seiner Vorfahren weiterhin mitzutragen. Als Gegenvorschlag lässt sich von denselben Autoren der Begriff „internationale Sprache“ finden, „[…] to give the impression of a modern, international language that is of value in a technological society“ (Baker & Jones 1998: 509). Jedoch ist diese Definition wiederum zu eng gefasst und lässt sich beispielsweise nicht auf diatopische Varietäten, Sprachen ohne schriftsprachlichen Ausbau oder regionale Minderheitensprachen anwenden. Hier bietet hingegen der Terminus „Heritage Language“ durchaus das nötige Fassungsvermögen, um all die erwähnten Kontexte abzudecken.