Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950

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Bald wurden wir wieder abgelenkt durch andere Vorkommnisse. Da waren doch noch einmal die Zigeuner ins Dorf gekommen und hatten auch am Errlicht mit ihrem Planwagen ihr Lager aufgeschlagen, und deren Frauen zogen bettelnd von Haus zu Haus. Oder das Manöver hatte wieder mal unser Dorf berührt, was uns sofort in Bewegung setzte, Kontakte zu den Soldaten zu knüpfen und Neues über Waffentechnik und Kampftaktik zu erkunden. Vielleicht war auch das „Lautsprecherauto“ von der Puddingfirma „Dr. Oetker“ mit lauter Musik durchs Dorf gefahren, um uns alle einzuladen zu einer Pudding-Filmvorführung im Saal von Hübners Gasthaus. Oder der Theaterwagen einer Puppenbühne war eingetroffen und kündigte lautstark die Aufführung eines Märchens am folgenden Tag an. Auch das „Kornfrank-Auto“ brachte Abwechslung; in einer Werbeveranstaltung verteilten die Reklameleute an uns Jungen leicht auffaltbare Pappflieger, die wir mit einem Spanngummi zum Gleitflug in die Luft schießen konnten. Alles dafür, dass unsere Mutter künftig nur noch von „Kathreiner“ und „Kornfrank“ Malzkaffe kaufen sollte, denn die Zeit, wo man die Körner selbst in einer drehbaren Trommel über einem Feuer zu Malzkaffee röstete, war mittlerweile auch im Dorf zu Ende gegangen. Nun kamen solche Spektakel nicht zuhauf über uns. Umso mehr zogen sie uns an als willkommene Abwechslungen … .

Darüber hinaus ergaben sich für uns Kinder auch besondere Höhepunkte durch Feste oder Veranstaltungen, die dem jahreszeitlichen oder dörflichen Brauchtum entsprachen, immer mehr jedoch von der „neuen Zeit“, von der „NS-Bewegung“, vereinnahmt wurden. Nur die Kirmes in der ersten Novemberwoche blieb immer noch das, was sie gewesen war, mehrtägig und mit großem Tanzfest für die Erwachsenen, wo wir höchstens mal durch die erleuchteten großen Saalfenster hineinschauen durften. Für uns war „der Bernern ihr Paschtisch“ das Wichtigste. An ihrem Verkaufsstand wurde gewürfelt, mit einem Einsatz von 5 oder 10 Pfennigen, um eine Tüte „Mehlweisen“ oder um eine Schokolade oder ähnliche begehrenswerte Süßigkeiten. Wer sicher gehen wollte oder höchstens 30 Pfennige von zu Hause mitbekam, musste genau überlegen, wie er seine Groschen anlegte. Wenn unsere Onkels oder Tanten aus Neuland zu unserer „Langvurbcher Kirms“ kamen, dann konnten wir mit deren Beigabe auf ein Kirmesgeld von 50 Pfennig kommen. Am spendabelsten war unser Großvater Albert Liebig. Zum „Blücherfest“ schenkte er jedem von uns, meinem Bruder und mir, sogar einen Fünfziger.

Interessanter für mich war das „Schissen“ im Frühsommer, das jährliche Schützenfest, das von Jahr zu Jahr militärischer und eben auch schon hakenkreuzgeschmückt vonstatten ging. Auf dem Schießplatz das große Festzelt interessierte uns weniger. Da saßen die biertrinkenden Erwachsenen, vor allem die uniformierten Schützen, die sich über ihre guten Treffer freuten oder ihren Ärger wegen schlechter Ergebnisse mit einem deftigen Korn hinunterspülten. Vor dem langen Hohlweg zum Wald hin, war der Schießstand aufgebaut. Da standen wir, wenn Vater dran war oder der Hilger Bruno. Und weit hinten, aus dem Unterstand vor den Schießscheiben, reichte man nach jedem Schuss eine gut sichtbare Tafel hoch hinaus, die über die Entfernung (von vielleicht 80 m) die Zahl des getroffenen Ringes bekannt gab. Vater meinte ja auch, es sei gar nicht so verwunderlich, dass die wohlhabenden Bauern bzw. die spendabelsten Vereinsmitglieder stets besser schossen als die armen Luder im Dorf. Die „besten Schützen“ wurden zum Schützenkönig und zum Marschall ausgerufen, entsprechend feuchtfröhlich gefeiert und mit je einer großartig bemalten Scheibe geehrt, die Tage danach sichtbar für jedermann an einer Außenwand des „königlichen“ Wohngebäudes aufgehängt wurde.

Und wir „jungen Schützen“ kamen auch auf unsere Kosten. Seitwärts und durch Absperrseile gesichert, war ein kleiner Schießstand mit Scheibe an einer 12 m entfernten Eiche eingerichtet. Hier wurde nur mit Bolzen geschossen. Man konnte das Luftgewehr auflegen beim Schießen. Das fand ich gut, denn so brachte ich es auf der 12-er-Scheibe mit 3 Schuss auf passable 30 Ringe. Irgendwann hatte ich auch einen der auf einem Tisch ausgestellten Preise zweiter Garnitur gewonnen. Neben der Schießscheibe, hinter einer hölzernen Schutzwand, verbarg sich der „Bolzenzieher“, wenn geschossen wurde. Diese Aufgabe übernahm ich gern. Ich musste nach dem Schuss den Bolzen mit einer Bolzenzange herausziehen und die Zahl des angeschossenen Ringes nach vorn laut und deutlich durchrufen. Mir war natürlich bewusst, dass nicht jeder, der wollte, als Bolzenzieher „genommen“ wurde! – Unter den Verkaufsbuden reizte mich die vom „Wehner-Flescher“ aus Kunzendorf am meisten. Weil hier unser Vater, wenn alles klappte oder wenn er gut geschossen hatte, für jeden von uns beiden ein „Viertel Warme“ für 20 Pf kaufte, mit Semmel und Senf. Hm, das schätzten wir mehr als die üblichen Süßigkeiten bei der „Bernern“ oder bei der „Rungen“ an deren Verkaufsständen unter der großen Linde. Bei denen mussten wir selber bezahlen, und mit den wenigen Groschen, die wir hatten, konnten wir keine großen Sprünge machen.

Das Beste beim Schissen war der große Umzug durchs Dorf am Sonnabend Nachmittag, mit Blaskapelle und Spielmannzug. Hinter der Kerntruppe, den marschierenden und mit Gewehren bewaffneten Uniformierten des Kriegervereins, zog alles mögliche Volk hinterher. Manche Frauen oder Kinder wollten sich mit altherkömmlichen Kleidungs- oder Uniformstücken ein undefinierbares historisches Aussehen geben. Einmal trug mein Bruder Helmut Vaters Soldatenhelm aus dem Weltkrieg, eine sogenannte Pickelhaube, unter deren Spitze wir wichtigtuerisch den Einschuß eines Schrapnellgeschosses nachweisen konnten. Und im Inneren des abgenommenen Helmes zeigten wir ebenso stolz auf das durch die Verwundung vom Blut dunkel gefärbte Leder, was wiederum bei den Staunenden weitere Fragen auslöste. So bot sich gleich die Gelegenheit, die uns geläufige Kampfszene von Vaters Kopfverwundung im Jahre 1915, zwischen Dnjestr und Pruth in der Nähe von Chernowitz und Kolomea, erzählen zu können … Doch viel Zeit zum Erzählen gab es wiederum nicht, der geblasene Militärmarsch war schon verstummt, der ganze Zug war am Kriegerdenkmal angelangt: „Abteilung halt!“ „Links um … “, und dann begann das übliche Zeremoniell mit kurzer Ansprache zu Ehren der im Krieg gefallenen Helden des Dorfes; danach ertönten die Kommandos zum Ehrensalut, worauf sechs herausgetretene Kriegsveteranen ihre Gewehre durchluden und drei Salven in die Luft schossen. Ohne viel Aufhebens ging es weiter durch das Vorderdorf, wo der König aus dem vergangenen Jahr abgeholt, nein, sagen wir besser freigekämpft werden mußte. Und das ging so vor sich: Der ganze Zug hielt – wie in diesem Fall – bei Jäckels an, sofort schwärmten angreifende Schützen aus, die den Hof von Jenke Karl umzingelten und nach heftigem Kampf erstürmten, in das Wohnhaus eindrangen und den gefundenen oder gefangenen König mit großem Siegesgeschrei herausführten. Und es wurde natürlich geschossen und geballert – mit Platzpatronen, wie wir wussten, die aber, aus der Nähe abgefeuert, auch empfindliche Verletzungen hervorrufen konnten. Deshalb hielten wir uns trotz großer Begeisterung in respektvollem Abstand zum Kampfgeschehen. Bevor der Zug sich neu formierte, gab es für die Kämpfer einen tüchtigen Zug aus der Flasche und auch einen kräftigen Bissen zu essen. Welcher Sinn hinter jenem militärischen Kampfspiel der „Kameraden vom Kriegerverein“ steckte, weiß ich nicht zu sagen. Als Jungen haben wir auch nicht danach gefragt. Wir fanden das Ganze interessant und spannend.

Auch das jährliche Erntedankfest war gekrönt von einem Umzug durch das ganze Dorf und endete dann, wenn ich mich recht erinnere, im Gasthof Mai im Ortsteil Stamnitzdorf. Festwagen mit schön dekorierten Früchten aus Feld und Garten fuhren im Mittelpunkt des Zuges, gefolgt oder begleitet von fröhlichen Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise aufgeputzt und maskiert hatten. Es gibt noch ein Foto, auf dem mein Vater mit dem Nachbar und uns Kindern in einer Gruppe abgebildet ist. Vater, als Frau verkleidet, schiebt einen uralten Kinderwagen, darin ein unartig plärrendes Kind, und um sich herum eine große Schar von lustig gekleideten Mädchen und Buben. Unser Vater spielte sich gern in eine solche komische und lustige Rolle hinein. Im Erntedankfest mussten zunehmend die nazistischen Ideen der „Blut und Boden Politik“ sichtbar gemacht werden. Abzeichen, Fahnen und Uniformen der NS-Organisationen färbten mehr und mehr solche dörflichen Veranstaltungen.

Die ausgesprochen christliche Sinngebung zum Fest von Christi Himmelfahrt blieb erhalten, nur die Teilnahme an dem Gottesdienst im Freien ließ nach. Es war üblich, des Mittags über die Harte bis zur Goldenen Aussicht zu wandern und dort dem Waldgottesdienst beizuwohnen. Bei schönem Himmelfahrtswetter versammelten sich auf der Waldwiese ein paar Hundert Leute aus den umliegenden Dörfern. Nach dem gemeinsamen Gottesdienst wurden Spiele veranstaltet, vor allem für Kinder. – Wir zwei Jungen genossen an diesem Tag die gemeinsame Wanderung mit Mutter und Vater. So gab es unter den großen Fichten interessante Ameisenhaufen zu bestaunen, im nahen Sandsteinbruch die Herstellung von Mühlsteinen zu erklären oder den Verlauf des geheimnisvollen unterirdischen Ganges zu untersuchen. Meist gingen wir auch weiter bis zum „Simonishaus“ nahe dem Neuländer Kloster, wo wir durch die an diesem Tag geöffnete Tür die figürlich gestaltete Szene der Abendmahlgesellschaft mit Jesus und seinen Jüngern an langem Tisch betrachten konnten.

Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass 10 Jahre später, im März 1945 hier oben auf der Harte und im Klosterbereich die Russen ihre Schützengräben und Artilleriestellungen ausbauen und in Richtung Neuland/​Kunzendorf die Deutschen unter Feuer nehmen würden, dann wäre dieser Jemand für verrückt erklärt worden. Vielleicht hätte man ihn sogar wegen Volksverhetzung oder Zweifel am Sieg der „Nationalsozialistischen Revolution“ ins KZ gesperrt.

 

Dann gab es im Frühjahr noch ein christliches Fest, das „Neuländer Bergfest“. Unterhalb des schon besagten Klosters, auf einer Bergwiese beim Gasthof Flegel, versammelte sich Jung und Alt aus der ganzen Umgebung. Ursprünglich war man hingepilgert, ich nehme an, um die Bergpredigt zu hören. Jetzt beließ man es bei einem katholischen Gottesdienst in der nahen Klosterkirche, und anschließend vergnügte man sich auf dem Rummelplatz der Bergfestwiese.

Wie weit das Vergnügen bei uns Kindern ging, hing auch hier von den von Eltern und Verwandten gestifteten Pfennigbeträgen ab. Mein Bruder und ich, wir meldeten uns ein–zweimal schon am Vortag bei dem Betreiber eines Kettenkarussells an. Er merkte uns vor zum Karussellschieben, oben auf dem Bretterboden, wo wir zu sechst in die Achsstreben greifen und in starkem Drücken und Laufen rundum das Karussell zum Drehen und natürlich auf entsprechende Touren und nach dem Klingeln wieder zum Stehen bringen mussten. Als Lohn bekamen wir zwei oder drei Freifahrten!

Das größte und bedeutendste Volksfest war das Löwenberger „Blücherfest“ in der letzten Augustwoche, draußen auf dem Festplatz im Buchholz. Die Leute kamen von weit her; und der Rummelplatz, sogar mit Rutschbahn, Berg- und Talbahn, Autoskooter, Riesenrad und Gruselkabinett ausgestattet, war für uns Kinder der größte und attraktivste seiner Art. Er wirkte auf uns wie ein grandioses Prater-Gastspiel aus ferner Welt, das für kurze Zeit in unsere kleine Provinzstadt gekommen war. Dieses ungewöhnlich umfangreiche, vielfältige und hochkarätige Angebot, das lustvolle Treiben und laute Vergnügen so vieler Menschen zog uns mächtig an. Als Auftakt zu dem großen Jubiläumsfest wurde in der Stadt ein großartiger historischer Festumzug veranstaltet. Da zogen die preußischen Soldaten der Blücherschen Armee (wie nach der siegreichen Schlacht an Katzbach und Bober im August 1813) mit ihren russischen Verbündeten an uns vorüber. Natürlich fehlten nicht der legendäre Marschall Blücher auf seinem Schimmel, sein Stabschef Gneisenau, die Lützowschen Jäger und sonstige Helden und historischen Größen aus den Befreiungskriegen. Und da ich mich in preußischer Kriegsgeschichte einigermaßen gut auskannte, vermochte ich die uniformierten vorbeiziehenden Gruppen sowie die voranreitenden Offiziere und Einzelpersonen ziemlich sicher zu identifizieren und daher stolz meine Erklärungen zum besten zu geben. So war für mich der große Festumzug ebenso wichtig wie der Rummelplatz. Hier, auf der obersten Stufe am Straßenrand des Marktes, brauchte ich nichts zu bezahlen für das „schöne“ Geschichtserlebnis; oben auf dem Rummelplatz musste ich meine Groschen dreimal in der Tasche rumdrehen. Na ja, aber das Achterbahnfahren und die große Rutschbahn, das wollten wir uns schon leisten.

Nun bin ich durch das Blücherfest etwas abgekommen von meiner Dorfbeschreibung, doch unsere Beziehung zur nahegelegenen Kreisstadt Löwenberg ist auch Teil unseres dörflichen Lebens. Nicht nur auf dortige Behörden und Einkaufsstätten, auf Kirche und Friedhof waren die Dorfbewohner angewiesen, da richtete sich unser Interesse auch auf das städtische kulturelle Leben, auf die Geschichte und Geographie unserer heimatlichen Kreisstadt. Was in Löwenberg passierte, nur 3 km entfernt, war für mich genauso wichtig wie das Geschehen in unserem Dorf.

In der Stadt erfuhr ich meine ersten Kinoerlebnisse, dort besuchten wir die Jahrmärkte, dorthin fuhren oder liefen wir über den Berg, wenn der Bober Hochwasser hatte, da nahmen wir an den Aufmärschen des Jungvolks und am Ersten Mai teil, dort kannten wir uns gut aus auf dem Hospitalberg, in der Löwenberger Schweiz, auf dem Popelberg (wo wir den Segelfliegern zusahen), auf dem Luftenberg und auf der Kuhwiese, wo wir den Wanderzirkus erlebten oder das erstemal aus der Nähe ein herbeigeschafftes aufgestelltes altes metallenes Junkersflugzeug besichtigen durften. Und nicht zu vergessen: In der Löwenberger „Badeanstalt“ habe ich mich mit 11 Jahren beim Schwimmmeister Hoffmann angemeldet, für 3 Mark am Schwimmunterricht teilgenommen und mich nach zwei Wochen „freigeschwommen“. Mein Bruder Helmut wie ich, wir meinten beide, einen heißen Sommer ohne „baden gehen“ nicht aushalten zu können. Das wollte unsere Mutter nie einsehen, vor allem deshalb, weil es ja jedesmal 10 Pf Eintritt kostete. So bettelten wir auch vergebens um die preisgünstigere Monatskarte. Da wir der Ertrunkenen wegen nicht im Bober baden durften, fuhren wir dann, wenn wir unbedingt ins Wasser mussten, mit dem Rad entweder nach Neuland in den Spittlerteich oder an eine Lache in Rackwitz. Wir lechzten nach Wasser, es war wie eine Leidenschaft. –

Später, mit 15 – 16 Jahren, während meiner Lehrzeit, sind wir „Stifter“ manchmal in der Mittagszeit doch flugs im Bober baden gewesen, aber immer mit entsprechendem Abstand zu den berüchtigten, gefährlichen Strudeln in tiefer Strömung.

Wenn wir Alten heute auf besondere Ereignisse in unserem Dorf zu sprechen kommen, dann vergessen wir nicht die „Feuer“, die Reihe von Bränden, zu erwähnen, die während meiner Kindheit um sich griffen und die wir teils an Ort und Stelle miterlebten. Ich weiß noch, wie es bei Altmanns brannte, eines Sonntags bei der Bernern im Hinterdorf und einmal auch in Neuland, als wir gerade bei meinen Großeltern zu Besuch weilten. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre hatte es mehrmals in unserem Dorf gebrannt, auch in Nachbardörfern. Meistens traf es sehr alte oder noch strohgedeckte Häuser, manchmal durch Blitzschlag. In einem der Fälle munkelte man von Brandstiftung. Man meinte, der verschuldete Besitzer habe sich durch eigenhändige Brandlegung die rettende Versicherungszahlung erschleichen wollen. Eine ganze Serie von Bränden innerhalb kurzer Zeit in unserem Dorf sowie in Neuland/​Kunzendorf war auf aufsehenerregende Weise aufgeklärt worden, indem man den Brandstifter, einen bekannten SA-Truppführer aus Kunzendorf, ergriffen und seiner Taten überführt hatte. Sein Geständnis, er habe durch das Abbrennen alter Häuser in der „neuen Zeit des nationalsozialistischen Aufbruchs zur Dorfverschönerung“ beitragen wollen, ging von Mund zu Mund, aber nicht durch die Zeitungen. Die an die Macht gekommenen Nazis übergingen diese fatale Wahrheit.

Apropos Gewitter: Wenn in der Nacht ein schweres Gewitter heranzog oder sich ausbreitete, drängten uns die Eltern eiligst aufzustehen. Wir zogen uns an, stiegen unter krachenden Donnerschlägen ängstlich hinab in die Stube, Vater mit Geld und Aktenmappe inklusive Versicherungspolice, und harrten dort aus bis zum Ende des Gewitters. (Ich meine, wir hätten damals furchtbar heftige Gewitter erlebt.)

Und wenn es eingeschlagen hatte oder aus anderen Gründen ein Feuer ausgebrochen war, dann tutete auch laut der Nachtwächter in sein Horn. Wobei ich beim Gruhn Gustav angelangt wäre, bei unserem Nachtwächter, der nachts mit der Lampe oder auch ohne Lampe durch das Dorf strich. Manchmal unauffällig, manchmal bei ausgedehnten Festlichkeiten, sich selbstverständlich den erleuchteten Fenstern sichtbar näherte, um einen guten Schluck und Bissen abzubekommen. Wir Kinder haben den ruhigen, etwas mürrisch wirkenden Gruhn Gustav für dümmlich gehalten und nicht ernst genommen. Sicher zu Unrecht, oder weil wir uns unter einem Nachtwächter einen treuen, starken, auffallend umsichtigen und tapfer auftretenden Hüter nächtlicher Ordnung vorstellten. Vielleicht maß man ihm unter den Erwachsenen mehr Respekt bei, als wir meinten, denn er muss ja neben detaillierten Ortskenntnissen auch eine ganze Menge über das dörfliche Nachtleben gewusst haben! Jedenfalls achtete unser Vater darauf, dass der Gruhn Gustav, wenn er bei uns auf eine fröhliche Nachtrunde stieß, stets ein reichliches Stück Kuchen in seine Tasche stecken und sich auch mindestens ein Glas Schnaps hinuntergießen durfte.

Selbstverständlich hatten wir nicht zu allen Zeiten immer reichlich Kuchen im Haus gehabt. So soll hier noch etwas über das Kuchenbacken gesagt sein: Generell wurde Kuchen in größerem Umfang nur zu den großen Feiertagen gebacken. Also zu Ostern, Pfingsten, zur Kirmes und zu Weihnachten. Das heißt, die Blechkuchen unterschiedlicher Art wurden zu Hause von unserer Mutter hergerichtet und dann zu vereinbarter Zeit zum Backen zum Bäcker getragen. Nie fehlte der schlesische Streuselkuchen mit den schönen, großen schmackhaften Butterstreuseln, wie es ihn anderswo nie gibt! Aber auch Apfelkuchen, Pflaumenkuchen und Mohnkuchen waren oberhalb mit einer Streuseldecke veredelt! Und es war für uns Jungen, wenn wir mit unserer „Raber“, der hölzernen Schubkarre, den frisch duftenden Kuchen nach Hause holen mussten, unerträglich schwer, uns nicht an den verlockenden Streuseln zu vergreifen. Nun dauerte so eine Raber-Fahrt mit den drei, vier Kuchen schon eine ganze Weile. Und das durchzuhalten bis nach Hause – ohne Versuchung, das gelang nie. Also klaubten wir da und dort doch einige der größten und schönsten Streusel herunter, möglichst geschickt bemüht, die betroffene Stelle unkenntlich zu machen. Aber Mutters sicherem Auge entging die Vertuschung der leeren Streuselstelle nicht. Beim Abendessen dann wurde unser Vergehen zum Thema gemacht.

Ich glaube, ich habe schon gesagt, dass wochentags jeden Abend Bratkartoffeln in der Pfanne auf den Tisch kamen. Dazu gab es Buttermilch, oder saure Gurken, irgendeinen Salat oder „Eingemachtes“, dann und wann einen halben Bückling. Freitags aber, an Vaters Lohntag, wenn Vater gewöhnlich einen Ring „Warme“ mitgebracht hatte, bekam jeder ein Viertel warme Wurst dazu.

Fleisch gab es nur Sonntag mittag, und Wurst-Aufschnitt am Abend. Was übrig blieb, bekam Vater am Montag auf seine Butterbrote. Manchmal wir auch. Aber ansonsten bestand unser Brotbelag für die Schule aus Butter, selbstgemachtem Quark oder Käse und vor allem aus Schmalz mit Grieben, was ich am liebsten aß.

Mittags kochte Mutter einfache Gerichte mit Kartoffeln und Gemüse oder von Milch und Eiern, alles mit Speck oder Butter zubereitet. Nudeln und Reis waren selten. Mindestens zweimal in der Woche gab es Eintopfessen., wovon mir Kartoffelsuppe und „Großkraut“ am besten schmeckten. Zeitweilig aßen wir auch unter der Woche etwas Fleisch, z. B. wenn wir ein Zickel, ein Huhn oder ein Karnickel geschlachtet hatten. Es kam auch vor, dass Vater einen billig gekauften Schweinskopf in seinem Rucksack heimbrachte. Daran war mir nicht gelegen. Das heraus gelöste Knorpelfleisch war mir ein Graus, und die daraus gefertigte Sülze nahm kein Ende. Ich aß dagegen viel lieber Hering, den Mutter sehr schmackhaft zu marinieren wusste, oder einfach nur Bratheringe, die wir im Henkeltopf beim Bäcker oder bei der „Rungen“ holten und zu Pellkartoffeln aßen. Insgesamt war unser Essen, wie unser gesamtes dörfliches Leben, einfach und anspruchslos. Natürlich hatten wir Jungen auch Hunger, aber wir hungerten nicht. Mutter und Vater sorgten für uns, so gut sie konnten, und wir kamen nicht auf den Gedanken, mehr zu wollen, als möglich war. Ringsum, bei den einfachen Leuten des Dorfes, war es nicht anders, fast überall schwere körperliche Arbeit und ein dürftiges Leben mit sparsamen Freuden.


Das Rathaus von Löwenberg. Foto: Herm. Rehnert, Sammlung Heinz Scholz (aus dem Heimatbuch des Kreises Löwenberg in Schlesien)


Blick auf Löwenberg um 1930, heute polnisch: Lwowek

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