Publizistik- und Kommunikationswissenschaft

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US-amerikanische Kommunikationsforschung: Diese wandte sich bereits ab den 1920er-Jahren Fragen der Medienwirkungen zu. Initialzündungen kamen aus der Medien- und Konsumindustrie sowie der Politik. Die Zeitungen und kommerziellen Rundfunkanstalten (damals nur Radio) sowie die Werbewirtschaft wollten über die Strukturen ihrer Publika (Leser, Hörer) Bescheid wissen – insbesondere über ihre Konsumvorlieben und Kaufgewohnheiten, um sie entsprechend mit Produkten bewerben zu können. Die Politik und politische Administration wiederum hatten Interesse an Kenntnissen über Wirkungen politischer Kommunikation und Beeinflussung in Presse und Rundfunk im Rahmen von Wahlkämpfen (vgl. Silbermann/Krüger 1973, S. 38). Auf vier Felder der empirischen Kommunikationsforschung ist in diesem Zusammenhang zu verweisen (vgl. Schramm 1969):


auf die Umfrageforschung (»Sample Survey Approach») mit Höreranalysen, Wahlkampfanalysen etc.; sie ist mit dem Namen Paul Lazarsfeld verbunden;
2)auf die Propaganda-Forschung (»Political Approach») mit Untersuchungen zum Einfluss politischer Kommunikation – einer ihrer wichtigsten Protagonisten war Harold D. Lasswell;
3)auf die experimentalpsychologische Forschung (»Experimental Approach») mit der Erforschung von Kommunikation und Gesinnungswandel und deren Bedeutung für die wissenschaftliche Rhetorik; an ihrer Spitze stand Carl I. Hovland; sowie
4)auf die Kleingruppenforschung (»Small Group Approach»), die die Erforschung von Kommunikation in Kleingruppen zum Gegenstand hatte; einer ihrer ersten Repräsentanten war Kurt Lewin.

Die wichtigsten empirischen Methoden dieser Forschungsrichtungen waren die Befragung, das Experiment und die Inhaltsanalyse. Relevante Literatur der US-amerikanischen Kommunikationsforschung wurde allmählich auch in Deutschland beachtet. Hinzu kam, dass auch die Nachbarwissenschaften, bzw. die Soziologie und die Politikwissenschaft, »ebenfalls auf US-amerikanische Ansätze, analytische Wissenschaftstheorie und quantitative Methoden [rekurrierten]« (Löblich 2010b, S. 550).

Medienwandel, Medienpolitik, Forschungswandel: Das Medienwesen unterlag spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland einem beachtlichen Wandel: Neben die bereits bestehenden Medien Presse und Hörfunk trat (ab 1952) das Fernsehen; die Mediennutzung stieg an. Ebenso wuchs der Bedarf an journalistischen Arbeitskräften (vgl. Löblich 2010b, S. 549). Daneben vollzog sich im Pressewesen ein beunruhigender Konzentrationsprozess. Dies und anderes mehr »veränderte[n] ab den 1950er Jahren den Forschungsstand der Publizistik- und Zeitungswissenschaft und beförderte[n] die Variation von Forschungsthemen und Methoden […]. Die Medien gewannen in den 1960er Jahren an Bedeutung für Politik und Zeitkritik, Themen wie intermediärer Wettbewerb, Vielfalt und Meinungsmacht wurden öffentlich debattiert […]. Medienorganisationen, Verbände und Medienpolitiker benötigten Forschungsergebnisse, um politische und unternehmerische Entscheidungen zu planen und zu rechtfertigen […]. Verleger und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten begannen verstärkt, Studien in Auftrag zu geben, um sich mit Reichweitenzahlen und Nutzeranalysen im Wettbewerb zu behaupten […]. Ebenso wuchs in der Medienpolitik »der Bedarf an Fakten zur Medienentwicklung« (Löblich 2010b, S. 549). Die publizistikwissenschaftlichen Institute der damaligen Zeit spielten – von Mainz abgesehen (vgl. w. u.) – »kaum eine Rolle als Auftragnehmer […], aber gerade deshalb beobachteten die Fachvertreter sehr genau, was auf dem ›Markt‹ der Medienforschung gefragt war« (ebd.). Löblich resultiert schließlich: »Bedingt durch Veränderungsprozesse bei Medienunternehmen und Medienpolitik, die die Produktion quantitativer Daten sowie sozialwissenschaftliche Fragestellungen förderten, verschoben sich die Selektionskriterien im Fach und begünstigten empirisch-sozialwissenschaftliche Forschungsgegenstände und Methoden« (Löblich 2010b, S. 550).

Generationenwechsel in der Publizistikwissenschaft: Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre vollzog sich im Fach ein Generationenwechsel, von dem wichtige Impulse für die sozialwissenschaftlich-empirische Wende ausgingen. In Münster folgte 1960 auf Walter Hagemann der Buchverleger und studierte niederländische Soziologe Henk Prakke. Er hatte sich Anfang der 60er-Jahre der USamerikanischen Kommunikationswissenschaft zugewandt und entwickelte ein Prozessmodell: die »funktionale Publizistik« (Prakke 1968; Pürer 1998, S. 145ff; Meyen/Löblich 2006, S. 239 ff; Klein 2006). Prakke warb auch »dafür, Kommunikation immer in ›Interdependenz‹ mit der gesellschaftlichen Umwelt zu sehen […]« (Löblich 2010a, S. 142). In Berlin folgte 1961 auf Emil Dovifat der langjährige Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Eberhard. Beide, Prakke und Eberhard, machten »soziologische Denk- und Arbeitsweisen für die Publizistik nutzbar« (Bohrmann 1997, S. 58). Im Mittelpunkt stand der publizistische Prozess. Es gelang Eberhard, den ausgewiesenen Kenner der USamerikanischen [44]Literatur und erfahrenen empirischen Medienforscher des Hamburger Hans-Bredow-Instituts, Gerhard Maletzke (vgl. w. u.) für das Berliner Institut als langjährigen Lehrbeauftragten zu gewinnen (Löblich 2010a, S. 172). Mit Otto B. Roegele wurde 1963 ein erfahrener Journalist und Quereinsteiger (Mediziner, Historiker) nach München berufen, der das Fach ebenfalls gegenüber anderen Disziplinen öffnete. Auf ihn geht u. a. die Anregung zurück, das Fach in »Kommunikationswissenschaft« umzubenennen. 1964 erhielt Franz Ronneberger, ein Jurist und Soziologe mit journalistischen und politischen Erfahrungen, das neu geschaffene Ordinariat für Publizistik und politische Wissenschaft in Nürnberg. Ronneberger profilierte sich nicht nur im Bereich Kommunikationspolitik (vgl. dazu seine– mittlerweile in weiten Teilen überholte – dreibändige Kommunikationspolitik: Ronneberger 1978ff), sondern erschloss auch die Felder Sozialisation durch Massenkommunikation (Ronneberger 1971) sowie Public Relations (Ronneberger/Rühl 1992). Schließlich wirkte ab 1965 Elisabeth Noelle-Neumann an dem neu geschaffenen Lehrstuhl für Publizistik der Universität Mainz. Sie war promovierte Zeitungswissenschaftlerin und hatte während eines Studienaufenthaltes in den USA die empirische Medien- und Kommunikationsforschung kennen gelernt. U. a. daraus resultierte das später von ihr verfasste Buch »Umfragen in der Massengesellschaft« (Noelle 1963). Als Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie war sie erfahrene empirische Medienforscherin. Ihr besonderes Interesse galt der Erforschung von Medienwirkungen, bzw. der öffentlichen Meinung. Es war dies ein Spezialgebiet, auf dem sie Pionierarbeit leistete. Ihre in diesem Kontext erarbeitete Theorie der »Schweigespirale» (Noelle-Neumann 1980) ist zwar nicht unumstritten (vgl. Scherer 1990 und Kap. 5.2.7), wurde aber auch außerhalb Europas, insbesondere in den USA, anerkennend rezipiert (vgl. Salmon/Glynn 1996). Nicht unerwähnt bleiben darf auch Günter Kieslich, Ordinarius von 1968 bis 1971 am Salzburger Publizistikinstitut. Obwohl ursprünglich selbst Historiker, wandte er sich in Salzburg unverzüglich der empirischen Forschung zu und hielt u. a. auch entsprechende Methodenvorlesungen (vgl. Pürer 1972). Kieslich hat vielfältig empirische Forschung angeregt und legte 1969 eine erste Strukturanalyse der österreichischen Tagespresse vor (Kieslich 1969). Aufgrund seines frühen Todes kam er selbst nicht mehr dazu, die danach erweiterte Forschungsarbeit zur Struktur der österreichischen Tagespresse (Vyslozil/Pürer/Roloff 1973) sowie seine wegweisende empirische Studie über die Ausbildung von Volontären an Tageszeitungen in der Bundesrepublik Deutschland (Kieslich 1974, Bearbeitung Eckart Klaus Roloff) selbst zu Ende zu führen.

Im Zusammenhang mit der sozialwissenschaftlichen Wende sei hier noch auf den empirischen Medienforscher Gerhard Maletzke verwiesen. Er trug Anfang der 1960er-Jahre »in einer gründlichen Auswertung der nordamerikanischen Fachliteratur« (Bohrmann 1997, S. 59) wichtige Ergebnisse der US-amerikanischen empirischen Kommunikationsforschung zusammen und entwickelte auf ihrer Basis ein in sich stimmiges Prozessmodell der Massenkommunikation mit den Faktoren Kommunikator, Aussage, Medium und Rezipient/Wirkung, die er in ihrem Zusammenwirken genau beschrieb (vgl. Bohrmann 1997, S. 60; vgl. Maletzke 1963). Seine 1963 erschiene »Psychologie der Massenkommunikation« (Maletzke 1963) war zweifellos eine herausragende fachliche Innovation. Maletzke hat damit (und auch durch seine empirischen Arbeiten am Hamburger Hans-Bredow-Institut für Rundfunkforschung) wesentlich mit dazu beigetragen, »die deutschsprachige Publizistikwissenschaft von einer vorwiegend normativen zu einer auch empirisch arbeitenden Wissenschaft weiterzuentwickeln« (Bentele/Beck 1994, S. 38). Universitäre Ehren erhielt Maletzke – nach zahlreichen anderen beruflichen Stationen vorwiegend in der Forschung – erst 1983 als Honorarprofessor für Kommunikationswissenschaft/Journalistik an der Universität Hohenheim (vgl. Fünfgeld/Mast 1997, S. 359–361; Maletzke 1997; Meyen/Löblich 2011 und 2006, S. 211ff).

Mit dem hier angesprochenen Wandel des Faches und den innerhalb des Faches damals zentral agierenden Protagonisten und deren Strategien befasst sich, wie erwähnt, Maria Löblich (2010a und 2010b). Ihre Analyse umfasst zwar den Zeitraum von 1945 bis 1980, um Veränderungen über einen [45]längeren Zeitraum in den Blick zu bekommen. Hier geht es jedoch vorwiegend um die 1960er-Jahre. Löblich unterscheidet bei ihrer Analyse zwischen dem »empirisch-sozialwissenschaftlichen« und dem »geisteswissenschaftlichen Lager«.

 

Im empirischen Lager verortet sie die Herausforderer, unter ihnen die bereits erwähnten Protagonisten Elisabeth Noelle-Neumann (Mainz), Fritz Eberhard (Berlin), Franz Ronneberger (Nürnberg), Henk Prakke (Münster) sowie Otto B. Roegele (München). »Die Kernvorstellungen im empirisch-sozialwissenschaftlichen Verständnis sind schnell aufgezählt: Orientierung an der USamerikanischen Kommunikationsforschung, am Kritischen Rationalismus oder Positivismus, starkes Methodenbewusstsein, Anwendung quantitativer Verfahren, Formulierung empirisch überprüfbarer Aussagen sowie Gegenwarts- und Anwendungsbezug« (Löblich 2010a, S. 151). Obwohl bei detaillierter Analyse infolge unterschiedlicher persönlicher Auffassungen der Protagonisten »ein explizites, gemeinsames Fachverständnis nicht formuliert wurde […], weil es zu viele persönliche Auffassungsunterschiede gab, bestand das Ergebnis der Fachdebatte im impliziten Konsens, dass die analytischquantitative sozialwissenschaftliche Ausrichtung angesichts der schwierigen Situation des Faches der einzige richtige Weg war. Das empirisch-sozialwissenschaftliche Lager hat sich in der disziplinären Kontroverse durchgesetzt« (Löblich 2010a, S. 151). Die rasche Umsetzung wurde jedoch von Faktoren wie mangelnder Ausstattung der Institute, fehlendem Geld und Stellen für Mitarbeiter sowie Räumen verzögert (Löblich 2010a, S. 152).

Als Herausgeforderte sieht Löblich primär Emil Dovifat (Berlin) und Wilmont Haacke, der 1963 auf einen Lehrstuhl für Publizistik in Göttingen berufen wurde, davor jedoch auch schon im Fach wissenschaftlich tätig war. Beide mussten sich in ihrem Fachverständnis durch jenes der Herausforderer angegriffen fühlen, »zuvorderst der ›Nestor‹ des Fachs, Emil Dovifat, aber auch sein Göttinger Kollege Wilmont Haacke. Beide hatten ihre Position der bisherigen geisteswissenschaftlichen Ausrichtung des Faches zu verdanken und diese stand nun auf dem Spiel. Sie versuchten, den gegen ihr Fachverständnis wirkenden Selektionsdruck abzuwehren« (Löblich 2010b, S. 552). Beide seien sich weitgehend einig darüber gewesen, »dass Wirkungsforschung abzulehnen und das Fach als normative Disziplin zu erhalten war« (ebd.). Haacke habe »Ressentiments gegenüber der Umfrageforschung gehabt, Dovifat habe vor einem Rückfall in die ›Werturteilsfreiheit‹ gewarnt: »Normativ musste das Fach aus seiner Sicht nicht zuletzt auch sein, weil es Journalisten Gesinnung und Ethik vermitteln sollte. Die für diese Aufgabe notwendige allgemein verständliche Sprache sah Dovifat von der um sich greifenden Terminologie der analytischen Wissenschaftstheorie bedroht« (Löblich 2010b, S. 552f). Beide, Dovifat und Haacke, hätten mit »Widerstand und Verweigerung auf die Veränderungen im Fach reagiert« (Löblich 2010b, S. 555). Anders sieht dies mit Blick auf Wilmont Haacke der Göttinger Kommunikationswissenschaftler Wilfried Scharf. Haacke habe in seinem Werk »Publizistik und Gesellschaft« (1970) den empirisch-analytischen Ansatz innerhalb der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft verbunden; dieser Ansatz habe sich »seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgesetzt« (Scharf 2001, S. 69).

Der empirische Neuansatz in der Publizistikwissenschaft »wurde auch in der sich langsam entwickelnden Sphäre der Wissenschaftsplanung von Bund und Ländern wahrgenommen« (Bohrmann 1997, S. 60). So empfahl der Wissenschaftsrat 1965, Einrichtungen zu schaffen, die mit universitären Instituten kooperieren sollten: das Institut für den Wissenschaftlichen Film (Göttingen), das Institut für Zeitungsforschung Dortmund, das Hans-Bredow-Institut für Rundfunkforschung sowie die Deutsche Presseforschung Bremen (vgl. Bohrmann 1997, S. 60). Generell darf man sagen, dass die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende »als Markstein in der Entwicklung des Fachs, als Fundament des heutigen Selbstverständnisses« und »Voraussetzung für Konsolidierung und Ausbau seit den 1970er Jahren« gilt (Löblich 2010a, S. 13). Der Neuansatz führte zu vielfältiger empirischer Forschung in den Bereichen Kommunikator-/Journalismusforschung, Medieninhaltsforschung, Medienstrukturforschung, [46]Rezipienten- und Wirkungsforschung. Politologische, soziologische sowie (sozial-) psychologische Denkansätze wurden dabei berücksichtigt. Die zunehmend (und heute vorwiegend) empirisch betriebene Publizistikwissenschaft mutierte allmählich zur Kommunikationswissenschaft (vgl. Kutsch/Pöttker 1997).

Dass sich die Inhalte des Faches infolge der empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende tatsächlich gewandelt haben, ist einer Inhaltsanalyse der 1956 gegründeten Fachzeitschrift Publizistik für die Zeiträume 1956 bis 1969 (Zeitraum 1) sowie 1970 bis 1980 (Zeitraum 2) zu entnehmen (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009). In Form einer Vollerhebung flossen 767 Beiträge in die Analyse ein. Vergleicht man die Entwicklung der fünf wichtigsten Forschungsthemen, so fällt das Forschungsthema »Mediengeschichte« im zweiten Zeitraum gegenüber dem ersten von 24 Prozent der Beiträge auf elf Prozent zurück. Die Forschungsthemen »Fachdiskussion/-geschichte« steigen von Zeitraum 1 mit zehn Prozent der Beiträge auf 23 Prozent im Zeitraum 2 an. »Journalismus«-Forschung nimmt vom ersten zum zweiten Zeitraum um acht Prozent zu. Dagegen gibt es bei den Themen »Medieninhalte« und »Kommunikationspolitik« wenig Veränderung (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 57). Bezüglich der Methodenverwendung fallen »Geisteswissenschaftliche Methoden« im Zeitverlauf von 71 Prozent auf 51 Prozent zurück, »Sozialwissenschaftliche Methoden« steigen von acht auf 22 Prozent an (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 59). Die Autorinnen resümieren: Die geisteswissenschaftliche Forschung überwog zwar weiterhin, allerdings war deren Dominanz 1980 »viel weniger ausgeprägt als zu Beginn des Untersuchungszeitraums.« Dagegen hat eine »dramatische Veränderung […] in der Mediengeschichte stattgefunden. Das vormals stärkste Forschungsthema schrumpfte zu einem Randgebiet. Außerdem hat sich gezeigt, dass die Fachvertreter bei der Wahl ihrer Themen sich sehr viel stärker an aktuellen Problemen orientierten, an Themen, zu denen gesellschaftlicher Wissensbedarf bestand. […] Die Jahre 1968/69 markierten die Trendwende im Untersuchungszeitraum« (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 61).

Der Aufbruch des Faches von einer (primär) geisteswissenschaftlichen Disziplin zu einer sozialwissenschaftlichen wird, wie hier dargelegt, allgemein in den 1960er-Jahren verortet. Dies ist uneingeschränkt so nicht richtig. Sozialwissenschaftliches Denken hat es (in Ansätzen zumindest) bereits vor der empirischen Wende gegeben. Es hatte aber im Fach keine mittel- bis langfristigen Konsequenzen. Auf folgende Aspekte ist hinzuweisen:

Zum einen, dass es bereits in der Zeitungswissenschaft der Weimarer Republik Berührungen mit der (empirischen) Soziologie und soziologischen Perspektiven gab (vgl. Averbeck 1999, 2001; auch Koszyk 1997, S. 38ff). Stefanie Averbeck spricht von immerhin zwanzig Wissenschaftlern, die dem interdisziplinären Milieu zuzurechnen waren, von denen aber viele emigrierten bzw. emigrieren mussten (vgl. Averbeck 2001, S. 7ff). Neben vielen anderen verweist sie insbesondere auf Protagonisten wie Kurt Baschwitz, Karl Mannheim, Gerhard Münzer, Ernst Manheim und Emil Willems. Sie alle hatten nach 1945 jedoch Professuren außerhalb Deutschlands und in anderen Fächern inne, so dass es »keine personelle Kontinuität zwischen dem interdisziplinären Milieu der Weimarer Zeit und der Publizistikwissenschaft der Bundesrepublik [gab]« (Averbeck 2001, S. 16; Hervorhebung i. Orig.). »Der Anknüpfungspunkt der deutschen Kommunikationswissenschaft nach 1945«, so Averbeck weiter »war die angloamerikanische Literatur« (ebd.).

Zum Zweiten soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hans Amandus Münster, der von 1934 bis 1945 Ordinarius für Zeitungswissenschaft in Leipzig war und sich in dieser Zeit, wie erwähnt, der nationalsozialistischen Ideologie verschrieb, durch seine früheren Studien bei Leopold von Wiese und Ferdinand Tönnies einen soziologischen und psychologischen Hintergrund hatte. Er interessierte sich besonders für die Erforschung des Verhältnisses von Presse und öffentlicher Meinung. 1931 erarbeitete er – damals noch als Mitarbeiter bei Emil Dovifat in Berlin – eine umfangreiche empirische Studie über »Jugend und Zeitung« mit in Deutschland reichsweit mehreren tausend befragten [47]Jugendlichen zwischen zwölf und zwanzig Jahren. Die Studie, geprägt durch die volkspädagogische Aufgabenstellung des Faches dieser Zeit (Straetz 1984), war v. a. bei Kollegen anderer Disziplinen umstritten. Gleichwohl war sie »die erste und lange Zeit umfangreichste Studie dieser Art« (Straetz 1984, S. 79). Dieser Ansatz der empirischen Rezipientenforschung wurde durch die politischen Ereignisse ab 1933, durch die Berufung Münsters an das Leipziger Institut sowie infolge unterschiedlicher Auffassungen über die Aufgabenstellung der Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft im Nationalsozialismus nicht mehr fortgeführt.

Zum Dritten entstanden bereits in den 1950er-Jahren unter Walter Hagemann am Institut für Publizistik der Universität Münster (methodisch-statistisch noch relativ wenig elaborierte) Inhaltsanalysen von Zeitungen und Zeitschriften, ebenso Zeitungs- und Zeitschriftenstatistiken, Befragungen von Zeitungslesern, Film- und Wochenschaubesuchern sowie auch eine Untersuchung zur sozialen Lage des deutschen Journalistenstandes (vgl. Löblich 2009, 2010a, S. 118ff; Hagemann 1956). Auch die von Hagemann-Schüler Günter Kieslich angefertigte Fallstudie »Freizeitgestaltung in einer Industriestadt« (Kieslich 1956) ist z. B. zu erwähnen. Dass Hagemanns Rolle »bei der Umorientierung der Publizistikwissenschaft von einer Geisteswissenschaft zu einer empirischen Sozialwissenschaft bislang nicht wahrgenommen worden [ist]« und weitgehend in Vergessenheit geriet, hat u. a. mit dessen Ausscheiden aus der Universität 1959, mit der Flucht 1961 in die DDR zur Zeit des Kalten Krieges sowie mit dessen Auftreten dort als »Nestbeschmutzer« zu tun (Löblich 2010a, S. 128 mit Bezugnahme auf Schütz 2007, S. 41). Keiner seiner ehemaligen Mitarbeiter und Absolventen »habe da öffentlich als Hagemann-Schüler auftreten und sich selbst gefährden wollen« (ebd.). Mit Leben und Werk Walter Hagemanns befasst sich ausführlich Thomas Wiedemann (2012).

Schließlich viertens: Zwei prominente Protagonisten der US-amerikanischen Kommunikationsforschung, nämlich Paul Lazarsfeld und Kurt Lewin, stammten aus Europa. Die beiden Österreicher entzogen sich wegen ihrer jüdischen Herkunft der Verfolgung durch den Nationalsozialismus, indem sie in die USA emigrierten. So ist es durchaus nicht illegitim festzuhalten, dass die empirische Kommunikationsforschung (zum Teil zumindest) gleichsam über Umwege aus dem angloamerikanischen Raum in der deutschsprachigen Publizistikwissenschaft wieder Fuß fasste (vgl. Reimann 1989; Wagner 1997, S. 109).

2.10 Studentenrevolte und Kritische Kommunikationswissenschaft

Noch in den 1960er-Jahren stiegen die Studentenzahlen in der Publizistik bzw. Kommunikationswissenschaft an – ein »Ergebnis der neuen Attraktivität des Faches« (Bohrmann 1997, S. 60). Infolge der schlechten Ausstattungen der bestehenden Institute mit zu wenig Lehrenden und zu vielen Studierenden führte dies zu Spannungen, in denen Bohrmann Vorbedingungen für die ab 1968 offen ausbrechende Studentenrevolte sieht (ebd.). Die Publizistikwissenschaft war folglich auch Ziel studentischer Aktionen mit Polemik gegen das Fach, mit Institutsbesetzungen in Mainz, Berlin, Münster und München, mit »Gegenvorlesungen« und anderen Aktionen und Agitationen (vgl. Bohrmann 1997).

Die Studentenrevolte basierte, was ihren geistigen bzw. gesellschaftspolitischen Hintergrund betraf, auf Gedankengut der »Kritischen Theorie«. Diese entstand Ende der 1920er-Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Sie ist eine ursprünglich von Friedrich Hegel, Karl Marx und Sigmund Freud inspirierte Gesellschaftstheorie und v. a. mit den Namen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse verbunden (später auch mit Jürgen Habermas, Oskar Negt und anderen). Ihre Bezeichnung »Kritische Theorie» geht auf eine 1937 veröffentliche Aufsatzsammlung Max Horkheimers mit dem Titel »Traditionelle und kritische Theorie« zurück (Horkheimer 1937). [48]»Der Philosoph Max Horkheimer fokussierte das Forschungsprogramm der Kritischen Theorie in den dreißiger Jahren auf das Projekt einer interdisziplinär zu erschließenden materialistischen Gesellschaftstheorie, die neben der ökonomischen Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auch eine sozialpsychologische Untersuchung mit Blick auf kulturtheoretische Betrachtungen der Wirkungsweise der Massenkultur umfasste« (Schicha 2010, S. 104). (Da Vertreter der Frankfurter Schule marxistisches Ideengut aufgriffen und neu diskutierten, ist bei Ansätzen der Kritischen Theorie von verschiedenen ihrer Repräsentanten auch von ›neomarxistischen‹ Theorien bzw. Ansätzen die Rede.)

 

Auch die Ende der 1960er-Jahre entstehende »Kritische Kommunikationsforschung« steht in der Tradition der Frankfurter Schule. Ihre Akteure (wie Horst Holzer, Franz Dröge, Dieter Prokop und andere) versuchten, diese Denkrichtung in der deutschen Kommunikationswissenschaft zu etablieren; sie hatte jedoch nicht sonderlich lange Bestand. Eine Ausnahme stellt Jürgen Habermas dar (der übrigens nicht der Kommunikationswissenschaft entstammt, dessen Publikationen für sie jedoch von Bedeutung sind): Seine 1962 erstmals erschienene Publikation »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Habermas 1962) sowie seine »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) finden nach wie vor große Aufmerksamkeit. Um weitere Repräsentanten wie etwa Franz Dröge (u. a. 1973) oder Horst Holzer (u. a. 1971) und andere ist es dagegen sehr still geworden. Mit ihnen befasst sich Andreas Scheu in seiner 2012 publizierten Dissertation »Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft« (Scheu 2012).

Die »Kritische Kommunikationsforschung« der 1970er- und 1980er-Jahre verstand sich v. a. als Gegenpol zur empirisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive (vgl. Scheu 2012, S. 13). »Die empirischsozialwissenschaftliche Kommunikationswissenschaft […] ist der Perspektive des ›Kritischen Rationalismus‹ und dem Ideal der Werturteilsfreiheit verpflichtet. ›Kritische Kommunikationsforschung‹ hingegen steht in der Tradition […] der ›Kritischen Theorie‹ und sieht sich in der Pflicht, Gesellschaft, Medien und Wissenschaft auf theoretischer Basis herrschaftskritisch zu hinterfragen, normativ zu beurteilen und so aktiv an der Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen mitzuwirken. Deutungshoheit im Feld Kommunikationswissenschaft haben die empirisch-sozialwissenschaftlichen Akteure erlangt« (ebd.). Der hinter diesen beiden wissenschaftlichen Positionen stehende Konflikt wurde bereits in den 1960er-Jahren durch Karl R. Popper (Kritischer Rationalismus) und Theodor W. Adorno (Kritische Theorie) ausgetragen.

Scheu widmet sich auf der Basis der Theorie sozialer Felder und individueller Akteure nach Pierre Bourdieu Repräsentanten der »Kritischen Kommunikationsforschung«. Dazu beschreibt er die Entwicklung der »Kritischen Kommunikationswissenschaft« der 1970er- und 1980er-Jahre. Er versucht v. a. herauszufinden, »warum die Perspektive und die Akteure, die sie vertreten, aus dem heutigen kommunikationswissenschaftlichen Feld verschwunden zu sein scheinen« (Scheu 2012, S. 14). Exemplarisch führt Scheu dies mit Hilfe von Einzelfallanalysen an den ausgewählten Fachvertretern Horst Holzer, Franz Dröge, Manfred Knoche, Siegfried Weischenberg und Hanno Hardt aus. Er gelangt zu dem Befund, dass die Geschichte der Kritischen Kommunikationsforschung keine reine Verdrängungsgeschichte ist. Vielmehr handelte es sich um einen vielschichtigen Prozess mit unterschiedlichen Einflussfaktoren (vgl. Scheu 2012, S. 269ff, S. 294ff). So hätten es die Protagonisten z. B. versäumt, sich zu vernetzen oder Nachwuchs auszubilden, es habe Abgrenzungen gegenüber »einer ›positivistischen‹, affirmativen empirischen Forschung« gegeben (Scheu 2012, S. 295). Politische Einflüsse hätten z. B. im »Radikalenerlass« (vgl. Scheu 2012, S. 270ff, S. 295) oder in der versuchten Einflussnahme auf Berufungsverfahren gelegen (vgl. ebd.), aber auch im Bedarf nach handlungsrelevantem Wissen und empirischen Daten über Massenkommunikation und Medienwirkungen vonseiten der Politik, Wirtschaft und Medien (Scheu 2012, S. 282, S. 296), den die Vertreter einer Kritischen Kommunikationsforschung »nicht erfüllen wollten« (S. 282, S. 295).

[49]2.11 Die Einrichtung von Diplomstudiengängen für Journalistik

Ab Mitte der 1970er-Jahre erfolgte an mehreren deutschen Universitäten die Errichtung von Diplomstudiengängen für Journalistik. Ursache und Anlass der Gründungen war auch die von Teilen der Berufspraxis mitgetragene Erkenntnis, dass die traditionellen Wege der Ausbildung von Journalisten vorwiegend in Form eines zweijährigen Volontariats in Zeitungs-, Hörfunk- oder Fernsehredaktionen den gewachsenen Anforderungen an diesen verantwortungsvollen Beruf nicht mehr entsprachen (und übrigens weder davor noch danach jemals auch nur annähernd entsprochen haben bzw. hätten). Eine intensiv von allen Betroffenen – Journalisten, Verleger, Rundfunkanstalten, Berufsverbände, Publizistikwissenschaft – geführte Ausbildungsdebatte machte sich breit (vgl. Aufermann/Elitz 1975; Publizistik 3–4/1974 sowie 1–2/1975). Den Anstoß zur Errichtung berufsbezogener Diplomstudiengänge gab schließlich u. a. auch das aus 1971 stammende Memorandum des Deutschen Presserates für einen Rahmenplan zur Journalistenausbildung, an dessen Erarbeitung auch Publizistikwissenschaftler mitwirkten. Darin waren mehrere Möglichkeiten und Wege der Ausbildung von Journalisten festgehalten, zumal der Beruf des Journalisten weiterhin ein prinzipiell frei zugänglicher Beruf bleiben sollte. Wenige Jahre später entstanden Grundstudiengänge für Diplom-Journalistik zunächst in Dortmund (1976) und München (1978), in Eichstätt (1983) und – nach der Wiedervereinigung – auch in Leipzig (1993). Sie boten eine sowohl kommunikationstheoretische wie auch mehrmediale praktisch-handwerkliche Ausbildung und qualifizierten durch verpflichtend zu absolvierende Nebenfächer auch für eine Tätigkeit in einem Ressort. Ausbildungsziel war eine berufsqualifizierende Ausbildung für den Journalismus in Zeitung, Zeitschrift, Radio und Fernsehen (sowie ab Mitte der 1990er-Jahre auch für den Onlinejournalismus). Aufbau- oder Nebenfachstudiengänge wurden errichtet in Stuttgart-Hohenheim (1974), Mainz (1978), Hamburg (1982), Bamberg (1983) und Hannover (1985). Diese Studiengänge vermittelten in aller Regel eine kommunikationswissenschaftliche und praktisch-handwerkliche Ausbildung im Anschluss an ein bereits ganz oder teilweise abgeschlossenes Fachstudium (vgl. Hömberg 1978; Wilke 1987). Neben den an Universitäten eingerichteten Grund-, Aufbau und Nebenfachstudiengängen Journalistik gesellten sich ab Ende der 1990er-Jahre auch Fachhochschulstudiengänge, so z. B. 1997/98 der Internationale Studiengang Fachjournalistik an der Hochschule Bremen (Dernbach 2002), die 1999 geschaffenen Studiengänge Journalistik und PR/Öffentlichkeitsarbeit an der Fachhochschule Hannover (Gröttrup/Werner 2002) oder der ebenfalls 1999 etablierte Studiengang Technikjournalismus an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg (Deussen 2002). Weitere Fachhochschulstudiengänge, etwa jene an der Fachhochschule Darmstadt für Onlinejournalismus und für Wissenschaftsjournalismus folgten. Die universitären Studiengänge Journalistik wurden im Zuge der sog. Bologna-Reform in Bachelor- und/oder Masterstudiengänge Journalismus/Journalistik umgestaltet. 2010 gab es solche Studiengänge an den Universitäten Eichstätt und Dortmund (Bachelor) sowie an den Universitäten München und Leipzig (Master). Nähere Informationen über diese Studiengänge sind den jeweiligen Onlineauftritten der sie durchführenden Institute oder Lehrstühle zu entnehmen. Ähnliche praxisorientierte Studiengänge gibt es in modifizierter Weise auch an anderen Universitäten, etwa jenen für »Medien und Kommunikation« an der Universität Passau. Einen anschaulichen Überblick über die Entwicklung der hochschulgebundenen Journalistenausbildung im deutschen Sprachraum aus den zurückliegenden 40 Jahren vermittelte zuletzt in Form einer Textcollage Walter Hömberg (2010).