Richtig leben, länger leben

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Die Antwort des Sohnes fiel aus, wie erwartet. »Ich fahre morgen in den Urlaub«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann.« Als ich meinem Patienten die Nachricht überbrachte und mit ihm darüber sprach, stellte sich heraus, dass der Sohn nur zurückgab, was er von seinem Vater bekommen hatte. Auch der war nie für ihn da gewesen. Und sein Bedauern darüber kam zu spät.

Solche Menschen haben dann manchmal nicht nur einen schwierigen Lebensabend, sie können am Ende auch noch besondere Schwierigkeiten dabei haben, loszulassen, bevor Unaufgearbeitetes und Belastendes ausgesprochen oder geregelt wurde. Das ist übrigens das Positive an einer längeren Sterbephase. Sie ermöglicht und legt es uns nahe, Versäumtes nachzuholen und aufzuarbeiten, was noch ansteht. Es ist schon schwer genug, allein zu sein, wenn wir gehen. Aber es ist noch schwerer, wenn wir dabei emotionale Baustellen hinterlassen müssen.

Manchmal ist uns gar nicht bewusst, dass es diese emotionalen Baustellen gibt. Mir fällt dazu ein Patient ein, der an Dickdarmkrebs in fortgeschrittenem Stadium litt, als ich ihn kennenlernte. Er musste immer wieder für ein paar Tage zu uns ins Spital und bei jedem seiner Aufenthalte besuchte ihn seine Frau. Stets kam sie pünktlich um 14 Uhr und setzte sich an sein Bett, um ihm angesichts seines nahenden Todes beizustehen.

Bei einer meiner Visiten war ich noch da, als seine Frau hereinkam. Ich wollte mich zurückziehen, damit die Beiden ungestört waren. Deshalb beendete ich die Visite mit der abschließenden Frage, ob es noch etwas gäbe, das er mit mir besprechen wolle.

Da schweifte sein Blick ab. Die geballte Faust presste er sich auf den Mund. Sein Gesicht verzerrte sich und er konnte die Tränen kaum noch unterdrücken. Es brach so richtig aus ihm heraus. »Es geht mir so schlecht, Herr Doktor«, sagte er. »Das Einzige, das ich in meinem Leben noch habe, ist mein Hund.«

Ich sah zu seiner Frau und versuchte, mir meine Erschütterung nicht anmerken zu lassen. Sie schwieg und wandte ihren Blick ab. Ich wusste im ersten Moment nicht, wie ich reagieren sollte. Nachdem mir dieses Erlebnis keine Ruhe ließ, habe ich den Patienten bei einer Gelegenheit auf das Verhältnis zu seiner Frau angesprochen und auch anklingen lassen, dass sie seine Aussage bezüglich des Hundes möglicherweise als Herabsetzung empfunden hat und ob er das wirklich so sagen wollte. Worauf der Mann antwortete, das sei ihm gar nicht bewusst gewesen, weil seine Frau den Hund doch auch liebe. Dennoch bedankte er sich dafür, dass ich ihn darauf hingewiesen hatte.

Bei seinem nächsten Spitalsaufenthalt drei Wochen später hat mich der Patient darauf angesprochen. Er hatte unser Gespräch zum Anlass genommen, seine Frau zu fragen, wie sie seine Aussage verstanden habe. Er war überrascht zu hören, dass sie tatsächlich gekränkt war, und noch mehr erschrocken, als er im Zuge dieses Gespräches von ihr darauf hingewiesen wurde, wie oft er sie schon mit solch unbedachten Äußerungen zutiefst getroffen hatte. So als wäre sie nichts in seinem Leben. Er erzählte mir, dass sie an diesem Abend lange zusammengesessen waren und viel gelacht und geweint hatten, weil sie über die schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens gesprochen und einander zum ersten Mal in all den Jahren ihrer Beziehung erklärt hatten, was sie sich bedeuten. An einem einzigen Abend hat er viel vom Schaden wieder gutgemacht, den er über die Jahre angerichtet hat. Ich habe seine Frau noch ein paarmal an seinem Bett sitzen gesehen. Und jedes Mal war es dieselbe Szene. Mit leuchtenden Augen saßen die Beiden da und sie zeigte ihm die neuesten Fotos, die sie von ihrem Hund gemacht hatte.

Der ungesunde Egoismus

Manche gesellschaftlichen Entwicklungen stehen unserem natürlichen Bedürfnis nach gesund erhaltenden, stärkenden und heilenden Sozialkontakten im Weg. So betraf der Zerfall traditioneller familiärer und kommunaler Strukturen nicht nur die Bewohner des Dorfes Roseto. Schon seit Beginn der Industrialisierung vor rund 150 Jahren kommen uns durch die zunehmende Individualisierung Regeln des Zusammenlebens abhanden, die in früheren Zeiten natürlich gewachsen und unseren sozialen Bedürfnissen entgegengekommen sind.

Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Urbanisierung des Lebens. Die Flucht vom Land, wo solche Regeln eher Bestand haben können, in die anonymeren Städte ist so groß wie nie. In der Stadt versprechen wir uns Chancen, die wir auf dem Land nicht haben. Das eng aneinandergedrängte Leben in den Städten fördert aber paradoxerweise nicht den Zusammenhalt innerhalb der Familie oder zwischen den Städtern. Vielmehr steigen mit der großen Zahl an Menschen tendenziell Entfremdung, Abgrenzung und Vereinsamung. Die große Zahl von Menschen, denen Städter auf engem Raum begegnen, scheint gegen das Interesse an ihnen zu immunisieren und eher Abwehrreflexe als Gemeinschaftsdenken auszulösen.

Die Kinder bewegen sich in Städten weniger und bleiben kürzer im elterlichen Umfeld. Sie besuchen früher Kindergärten und ziehen, wenn sie können, früher aus. Geschwister verlieren einander im Streben nach beruflichem Erfolg leichter aus den Augen. Die Pflege verwandtschaftlicher Kontakte wird, wenn überhaupt, auf ein mehr oder weniger attraktives Ereignis an Feiertagen reduziert, das während der Osterfeiertage mit Städte- und während der Weihnachtsfeiertage mit Fernreisen konkurriert.

Auch außerfamiliäre Beziehungen verlieren an Bedeutung. Wohin das führt, zeigt Japan mit einer Entwicklung, die auch in Europa und den USA zunehmend Platz greifen wird. In Japan hat die traditionelle Partnerschaft und die Gründung einer Familie als Grundkonzept der Gesellschaft weitgehend ausgedient8. Gleichzeitig hat das Dasein als Single an Status gewonnen, worauf sich zum Beispiel die japanische Gastronomie mit Einzeltischen und die japanische Dienstleistungsindustrie mit Kuschelangeboten für Fremde mit Fremden einstellen. Menschen leben alleine, schlafen alleine, essen alleine und finden alleine Ersatz für körperliche Nähe. Das Riesenrad in Tokio hat, singlegerecht, Gondeln mit nur einem Sitzplatz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Europa noch eine Selbstverständlichkeit, auf engem Raum mit anderen zu leben. Eine andere Möglichkeit gab es nur für wenige Privilegierte. Für die Meisten ging es vor allem darum, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Frage, wie viele Familienangehörige oder auch Fremde sonst noch darunter lebten, war zweitrangig.

Als der Wirtschaftsaufschwung kam, regte sich in vielen Menschen umso mehr das Bedürfnis nach Freiraum. Dies aus gutem Grund. Wenn zu viele Menschen auf zu engem Raum leben müssen, führt dies unweigerlich zu Stress. Mehr Freiraum dagegen hat viele Vorteile. Er erlaubt uns, unsere Individualität und unseren Egoismus ungehemmter auszuleben. Platz für sich zu haben, gehörte fortan zu den neuen Statussymbolen. Besonders für junge Menschen ist das attraktiv. Was ihnen dabei entgeht, der Halt und die Sicherheit eines aufmerksamen sozialen Umfelds, vergessen sie leicht, und was das für ein gesundes Leben bedeutet, wissen viele gar nicht.

Ich habe viele Patienten kennengelernt, die ihr Leben lang ihre Sozialkontakte vernachlässigt haben. Die wenigsten von ihnen haben das mit dem gleichen Realismus getan wie Robert Thuch. Die meisten haben es wie der eben beschriebene Patient bereut, als sie in eine Notlage gerieten. Manchmal lassen sich die Dinge noch einigermaßen reparieren. Einer Patientin von mir, Francesca Deledda, einer gebildeten und charmanten Italienerin, scheint dies im Alter von 66 Jahren gelungen zu sein. Eines ihrer Gene, das die Entstehung von Tumorzellen verhindern sollte, ist erblich bedingt defekt. In einem solchen Fall übernimmt zunächst das korrespondierende Gen die Aufgabe des defekten. Da Gene im Rahmen dieses natürlichen Sicherungssystems doppelt angelegt sind, kann das für den Rest des Lebens gut gehen. Wird jedoch auch das verbleibende Gen defekt, führt das zum Ausbrechen der Katastrophe, zum Entstehen einer Krebserkrankung. Mit steigendem Alter kommt es vermehrt dazu, dass das verbleibende Gen schwächelt und schließlich versagt.

So war es auch bei Francesca Deledda. Sie erkrankte an Eierstockkrebs. Nach wie vor sind die Möglichkeiten der Frühdiagnose für diese Art von Krebs beschränkt, weshalb auch bei ihr die Erkrankung erst im fortgeschrittenen Stadium erkannt wurde.

Als Francesca Deledda mit der Diagnose konfrontiert wurde, erkannte sie, dass ihr in ihrem Leben einiges abhanden gekommen war, ohne dass sie es richtig bemerkt hatte. Sie hatte sich mit ihren beiden Brüdern zerstritten und pflegte selbst mit ihrer einzigen Tochter seit mehr als 18 Jahren keinen Kontakt mehr.

Ich weiß nicht genau, was vorgefallen war. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie einmal ausgesprochen hübsch war, was sich meiner Erfahrung nach für ein gelungenes Leben häufig als hinderlich erweist. Denn fällt uns im Leben – etwa aufgrund unserer Attraktivität – zu viel in den Schoß, so kann es leicht passieren, dass wir uns zu wenig – in diesem Fall um unsere Mitmenschen – bemühen. Wir verlernen nicht nur, um etwas zu kämpfen, sondern auch, es zu schätzen. Und wir verlernen, die in uns schlummernden Talente zur vollen Entfaltung zu bringen. Hier kann eine schwere Erkrankung paradoxerweise auch heilsame Wirkungen entfalten, weil sie den Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen verändern kann.

In dieser Phase reflektieren viele Betroffene ihren bisherigen Lebensweg und eruieren, was ihnen wirklich wichtig ist in ihrem Leben. Dieser Verarbeitungsprozess erlaubt ihnen, ihre verbleibende Lebenszeit bewusster und erfüllender zu gestalten. Sie gehen mit ihrer Zeit selektiver um, trennen Wichtiges von Unwichtigem und widmen sich, wo immer möglich, Dingen, die ihnen Sinn und Erfüllung geben. Die Erkrankten spüren die Bedeutung der anderen stärker und die anderen bekommen angesichts der Erkrankung ein Gefühl für die Endlichkeit des eigenen Lebens. Beides lädt eine zwischenmenschliche Situation emotional neu auf und schärft den Blick für das Wesentliche.

 

Manchmal kommt es deshalb zwischen meinen Patienten und ihren im Streit gegangenen Angehörigen zu Aussprachen. Dies war auch bei Francesca Deledda der Fall. Sie hat ihre Tochter und ihre beiden Brüdern kontaktiert in dem Willen, die Verbindung wieder herzustellen. Tatsächlich bekam sie in der Klinik einen Anruf von ihrer Tochter, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch ihre Brüder sich melden. Solch späte positive Entwicklungen sind jedoch keineswegs garantiert, und so, wie die Dinge hätten sein können, werden sie wohl auch nie wieder. Denn es lässt sich nun einmal nicht in wenigen Monaten nachholen, was wir in Jahrzehnten versäumt haben.

Der Trend geht weiter in Richtung Egoismus. Warnende Stimmen sprechen bereits von zunehmendem Narzissmus, der als Fehlentwicklung einer Persönlichkeit schwere pathologische Züge aufweist. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit können der Gesellschaft schweren Schaden zufügen. Sie sind nicht willens und auch nicht in der Lage, sich in eine Gemeinschaft einzuordnen, was eine wesentliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander darstellt.

Die Werbung, der wir täglich ausgesetzt sind, scheint narzisstische Persönlichkeitsmodelle zu unterstützen. Sie suggeriert uns eine Welt, in der wir uns hemmungslos immer und überall nehmen können, was wir wollen, ohne etwas dafür geben zu müssen. Diesen Trend unterstützt eine fragwürdige Politik, die Bürger mit Leistungen für sich einzunehmen versucht, ohne darauf zu verweisen, dass andere Bürger dafür bezahlen müssen. Breite Bevölkerungsschichten vergessen auf diese Weise, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn alle entsprechend ihren Möglichkeiten etwas zu ihr beitragen.

Diesem gesellschaftlichen Trend entspricht auch die besondere Stellung, die Kinder heute in einer Familie einnehmen. Früher waren Kinder ein Teil der Familie, der sich eher an das Leben der Erwachsenen anpassen musste als umgekehrt. Heute dreht sich alles um die Kinder. Ich kann in meinem eigenen Freundeskreis immer wieder beobachten, wie Kinder jeden Wunsch erfüllt bekommen. Das gesamte Leben ihrer Familien richtet sich nach ihnen aus. Wir ziehen auf diese Weise Generationen von Menschen heran, die es gewohnt sind, alles zu bekommen und die mit dem Bewusstsein durchs Leben gehen, darauf einen selbstverständlichen Anspruch zu haben. Zu der Erkenntnis, dass jedes gedeihliche Zusammenleben wesentlich darauf beruht, nicht nur nehmen, sondern auch geben zu können, gelangen diese Kinder oft nicht, geschweige denn wird dies automatisch ein integraler Teil ihrer Persönlichkeit.

Aus sozialer und damit letztlich auch aus gesundheitspolitischer Sicht kann solchen Generationen wohl nur eine schwierige Zukunft vorausgesagt werden. Entweder schaffen es die Menschen in Zukunft tatsächlich, sich jeder für sich durchs Leben zu schlagen. Wenn dies wie in Japan mit gesellschaftlicher Infrastruktur und entsprechenden Angeboten gefördert wird, dann ist in zwanzig Jahren endgültig jeder auf sich gestellt. Oder die Kinder aus diesen Generationen stoßen irgendwann an ihre Grenzen, was zu dramatischen persönlichen Erfahrungen führen wird. Denn wer in den prägenden Kindheits- und Jugendjahren so im Mittelpunkt stand, wird es schwer haben, sich an die Realitäten des Gemeinschaftslebens einer 7,5 Milliarden zählenden Bevölkerung anzupassen.

Im Extremfall löst sich eine egoistische Gesellschaft dann von selbst auf. Denn Egoismus lässt sich schwer mit Fortpflanzung vereinbaren. Dass sich zwei verheiratete Menschen überlegen, ob sie überhaupt Kinder wollen, war vor gar nicht allzu langer Zeit noch völlig undenkbar. Aus den Großfamilien von einst sind Paare mit durchschnittlich 1,5 Kindern geworden, was bedeutet, dass die Bevölkerung in Europa ohne Zuwanderung rasant schrumpfen würde. Um die Bevölkerungszahlen konstant zu halten, benötigt es mehr als eine Million Zuwanderer pro Jahr9.

Wobei der in der Familienplanung so hemmungslos ausgelebte Egoismus inzwischen auch verständliche ökonomische Aspekte hat.

In einer Welt, in der jedes Kind mangels Großfamilie einen Kindergartenplatz braucht, Windeln nicht mehr gewaschen und wiederverwendet, sondern weggeworfen werden und ein Kind in den abgelegten Sachen eines Bruders oder einer Schwester in der Schule ausgegrenzt würde, sind die Folgen der Fortpflanzung teuer. Laut verschiedenen Berechnungen kostet ein Kind bis zum 18. Lebensjahr zwischen 110.000 und 130.000 Euro. Diese Summe erhöht sich je nach sozialem Status der Familie. Besonders teuer ist der Wettbewerb zwischen den Kindern bezüglich ihrer Kleidung, ihrer Ausrüstung und Technik.

Während Fortpflanzung für die Menschen einst gleichbedeutend war mit ökonomischer Absicherung im Alter, ist Fortpflanzung heute zu etwas geworden, das sich viele Menschen nicht mehr leisten wollen. Die wachsende Kinderarmut wiederum verstärkt umso mehr den Trend zu einer egoistischen Gesellschaft, die der allgemeinen Gesundheit abträglich ist.

Gesundheitliche Auswirkungen der digitalen Revolution

Auch die digitale Revolution steht der Entwicklung unserer sozialen Kontakte eher im Wege, mit einer Ausnahme, auf die ich noch eingehen werde.

Zwar hat die Digitalisierung unserer Beziehungen den Vorteil, dass wir leichter Gruppenzugehörigkeit empfinden und uns mit anderen Menschen solidarisieren können, selbst dann, wenn sie am anderen Ende der Welt leben. Das Internet hat die Zahl der uns zur Verfügung stehenden Kontaktmöglichkeiten dramatisch erhöht, während sich gleichzeitig die durchschnittliche Intensität unserer sozialen Kontakte deutlich reduziert hat.

Eine Rechnung, die zu unseren Ungunsten ausgeht, denn durch die physische Distanz kann eine digitale Begegnung niemals so intim und vielschichtig sein wie eine persönliche. Wenn wir einander gegenüber sitzen und uns das Lachen eines Freundes ansteckt, ist das etwas Besonderes, und diese Unmittelbarkeit fällt bei der digitalen Kommunikation weg.

Hände schütteln, Wangen küssen, Umarmungen, all diese Gesten können selbst die kreativsten Emojis nicht ersetzen. Soziale Interaktionen, die über die technisch-effiziente Verkürzung der Kommunikation hinausgehen, machen uns erst zu richtigen Menschen. Diese Interaktionen fehlen uns, je mehr wir selbst digitalisieren und zu Kommunikationsrobotern werden.

Dass das auch im Hinblick auf die Gesundheit zu unseren Ungunsten ausgeht, liegt auf der Hand. Eine Mutter würde ihrem Baby schließlich auch keine SMS mit dem Inhalt »Mama ist bei dir und hat dich lieb« schicken, und dazu ein Baby-, ein Blumen- und ein Sonnen-Emoji, statt es in die Arme zu nehmen und es damit in einer alle Sinne erfassenden Geborgenheit zu wiegen, die durch nichts auf der Welt zu ersetzen ist.

Die vielen digitalen Bekanntschaften, die wir heute statt intensiver, inniger Kontakte pflegen, haben neben ihrer Oberflächlichkeit noch einen zweiten Nachteil. Obwohl ihre Qualität tendenziell immer weiter abnimmt, brauchen wir für ihre Pflege immer mehr Zeit. Die Stunden, die wir dafür aufwenden, könnten wir auf viel bessere und unserer seelischen, geistigen und körperlichen Gesundheit viel dienlichere Weise nutzen. Zum Beispiel, indem wir uns mit guten Freunden auf ein Bier oder auf einen Kaffee treffen.

Die gesunde Liebe zwischen zwei Menschen

Es gibt viele Möglichkeiten, das Thema Liebe, so wie es in diesem Kapitel gemeint ist, ins Leben zu integrieren. Die meisten Menschen denken dabei zuallererst an den einen Partner oder die eine Partnerin, den oder die es zu finden gilt. Zum L-Begriff »Liebe« fällt ihnen jene wunderbare Euphorie ein, die frisch Verliebte spüren.

Diese hält kurzfristig unglaubliche Beglückungen bereit. Der Reiz des Unbekannten spielt dabei eine Rolle. Dennoch, wenn überhaupt, ist diese Phase der Euphorie nicht mehr als der erste Schritt. Erst, wenn das Neue zum Alltag geworden ist, zeigt sich, ob aus dem Nukleus einer schönen Begegnung eine erfüllende Beziehung werden kann, der die Partner über die Euphorie hinaus Wert und Bedeutung geben.

Vieles weist darauf hin, dass vor allem die von Hollywood und seinen Märchen, Illusionen und Träumen geprägten Kulturkreise diese Euphorie im Hinblick auf eine glückliche und erfüllte Beziehung überbewerten. Etwa das im asiatischen Raum oder in einigen jüdischen Gemeinden übliche Arrangieren von Ehen. Dabei vereinbaren Familien untereinander, wer gut zu wem passt. Auch wenn diese Tradition, in ihrer ursprünglichen Form zu Unrecht, einen Beigeschmack von Zwangsehe hat, sind so entstandene Ehen überraschenderweise oft erfüllter als jene, die auf spontanem Kennenlernen und einer ersten Euphorie gründen. So verwunderlich ist das gar nicht. Die auf diese Weise zusammengeführten Menschen kommen meist aus dem gleichen sozialen Umfeld, haben eine ähnliche Erziehung genossen und ihre Erwartungen an das Leben ähneln einander ebenfalls.

Die Gabe, die vor allem ältere Menschen haben, zusammenpassende Paare zu erkennen, ist nicht zu unterschätzen. Auch meine eigene Ehe ist auf gewisse Weise eine arrangierte.

Ich lernte meine Frau kennen, als ich gerade als Oberarzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus arbeitete. In der Krankenstation, die ich dort leitete, wurden vorwiegend Patienten mit Krebs- und Bluterkrankungen betreut.

In einem der Zimmer lag eine Patientin, die an einer schwer zu diagnostizierenden Form von Knochenkrebs litt. Sie ist nur anhand von Blut- und Knochenmarkproben zu erkennen, und auch dann nur für Ärzte, die wissen, wonach sie suchen müssen. Deshalb erfolgt die Diagnose dieser Krebsart oft erst in einem Stadium, in dem die Erkrankung schon weit fortgeschritten ist.

Auch bei dieser Patientin war die richtige Diagnose erst spät erfolgt. Doch sie hatte gegenüber anderen Patienten einen Vorteil. Ihre Tochter engagierte sich enorm für sie, auf eine Art, die mich beeindruckte.

So etwa führte der Krebs bei dieser Patientin zu Blutarmut, wodurch sie regelmäßig Bluttransfusionen brauchte. Dazu musste sie ins Spital kommen und zumindest für eine Nacht bleiben. Doch ihre Tochter ersparte ihr diese Strapazen und organisierte Blutlieferungen zu ihrem Elternhaus in Baden bei Wien. Sie ließ das Spender-Blut im Badner Spital auf seine Verträglichkeit mit dem ihrer Mutter überprüfen und trieb danach einen Arzt auf, der die Transfusionen in ihrem Elternhaus vornahm, was bestimmt nicht einfach war. Ich zumindest kenne bis heute keinen anderen, der das gemacht hätte.

Zuletzt hatte sich der Zustand dieser Patientin so weit verschlechtert, dass ihr nichts mehr anderes als eine stationäre Aufnahme und Betreuung im Krankenhaus übrig blieb. Mit den damals zur Verfügung stehenden Medikamenten gelang es mir nur in bescheidenem Maß, ihre Situation zu verbessern, sodass ich mir gelegentlich Gedanken darüber machte, wie lange wir diesen Zustand noch würden aufrechterhalten können.

Ich ertappte mich dabei, dass ich mir über das Berufliche hinausgehende Sorgen um sie machte. Ihre Tochter hatte mich offenbar mit ihrer Fürsorge angesteckt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir angewöhnt, zusätzlich zur im größeren Kreis von Ärzten und Pflegepersonen stattfindenden Vormittagsvisite am späteren Nachmittag nochmal alleine durch die Station zu gehen. Allein deshalb, weil es für Patienten naturgemäß schwierig ist, sich bei der Visite gegenüber einer ganzen Gruppe von Menschen in weißen Mänteln zu öffnen und sehr Persönliches mitzuteilen. Die gleichsam private Kontaktaufnahme mit den Patienten ermöglichte es mir, mehr über Gefühle, Hintergründe, Erwartungen, Befürchtungen und Ängste der Patienten zu erfahren.

Die besagte Patientin lag in einem Einzelzimmer. Ich setzte mich auf einen Stuhl an ihrem Bett, um auf gleicher Augenhöhe mit ihr sprechen zu können. Nachdem wir einige Worte über ihre körperlichen Beschwerden ausgetauscht hatten, ergriff sie, für mich unvermittelt und überraschend, meine rechte Hand und sagte: »Ich habe so ein starkes Gefühl, dass Sie und meine Tochter gut zusammenpassen würden. Ich muss Ihnen das einfach sagen.«

Ich war sprachlos. Ich fand ihre Tochter überaus attraktiv und fühlte mich zu ihr hingezogen, aber dass es andersherum auch so sein könnte, war mir noch nicht in den Sinn gekommen. Nun, die Frau, die wenig später verstarb, behielt recht und die Ehe zwischen ihrer Tochter und mir wuchs von Anfang an auf liebevollem Grund.

 

Was das Zustandekommen glücklicher Ehen betrifft, entfaltet die digitale Revolution auch positive Wirkungen. Ihretwegen haben wir jetzt bessere Möglichkeiten denn je, einen Partner zu finden, der wirklich zu uns passt. Dies einfach deshalb, weil die Auswahl größer geworden ist.

Früher haben wir in unserem sozialen Umfeld, etwa an unserem Arbeitsplatz, vielleicht fünf Menschen vorgefunden, die als Partner infrage kamen. Deswegen war es sinnvoll, Vereinen, Organisationen und anderen Netzwerken beizutreten, egal, ob das nun die Pfadfinder, die freiwillige Feuerwehr, ein Bücherklub, die Katholische Jungschar oder die Parteijugend waren. Damit erhöhte sich die Zahl der für uns als Partner infrage kommenden Menschen vielleicht von fünf auf zehn bis zwanzig.

Heute haben wir Zugang zu webbasierten Partnervermittlungsagenturen, die über eine große Anzahl an Profilen potentieller Partner aus Nah und Fern verfügen, was das Auffinden eines idealen Partners beträchtlich vereinfachen kann. Gleichzeitig sind wir mit den oben beschriebenen gesellschaftlichen Tendenzen konfrontiert. Der zunehmende Egoismus widerspricht dem Konzept Beziehung und Partnerschaft. Mit diesem Widerspruch müssen wir heute umgehen.

Je besser zwei Menschen zueinander passen, sei es nun dank der Einschätzung erfahrener Verwandter oder dank des Abgleiches detaillierter digitaler Persönlichkeitsprofile, desto weniger Reibungsflächen gibt es innerhalb einer Beziehung, desto beständiger ist sie, desto weniger kontinuierlichen Stress produziert sie für beide Beteiligten und desto besser wirkt sich das nicht zuletzt auf deren Gesundheit aus.

Denn auch wenn eine gute Beziehung uns seelisch, geistig und körperlich stärkt, bedeutet das nicht, dass das jede Beziehung tut. Nicht jede Beziehungen hat zwangsläufig eine harmonisierende und heilsame Wirkung auf uns. Schlechte Beziehungen können selbst zu Stressfaktoren werden und uns damit in letzter Konsequenz nicht nur sprichwörtlich, sondern auch ganz real krank machen.

Traurige Geschichten von Paaren, die sich gegenseitig im wahrsten Sinne des Wortes das Leben zur Hölle machen, weil sie sich in unerfüllbare Erwartungen verstrickt haben und nicht voneinander lassen können, kennen wir alle. Oft jedoch merken wir nicht, dass auch in an sich guten Beziehungen immer wieder dieser Fehler passiert. Enttäuschungen wegen falscher Erwartungen können uns auf die Dauer krank machen. Jeder von uns sollte sich deshalb regelmäßig fragen, ob die eigenen Erwartungen und die des Partners realitätsnah oder unrealistisch sind. Außerdem braucht es eine Kompromissfähigkeit von beiden Seiten, eine gegenseitige Wertschätzung und wünschenswerterweise auch gemeinsame Interessen. Eine Beziehung sollte uns wirklich rundherum gut tun. Tut sie das nicht, sollten wir überlegen, was daran verbessert werden kann.

Wertschätzung in Bezugsgruppen

Liebe spielt sich nicht nur in privaten Zweierbeziehungen ab. Auch die gesellschaftlichen Kreise, in denen wir alle tagtäglich verkehren, sind sehr wichtig für unsere Gesundheit. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich mit großem Unbehagen an die Schilderungen eines jungen Sarkom-Patienten aus der Steiermark, dem man den linken Unterschenkel amputiert hatte und der sich anschließend bei uns einer aggressiven Chemotherapie unterziehen musste. Dabei verlor er naturgemäß seine Haare. Dieser junge Mann war Mitglied eines Fußballklubs. Nach dem Training haben sich die Burschen regelmäßig zusammengesetzt, gescherzt und getrunken. Er hat diese Gruppe nach Beendigung seiner Chemotherapie aufgesucht und sich schon auf das Wiedersehen mit seinen Freunden gefreut. Nachdem am Stammtisch die ersten Worte gewechselt wurden, erdreistet sich einer der sogenannten Freunde, ein emotionaler Schwerverbrecher, zu dem Ausruf: »Hearst Franz, wenn ich so ausschauen würde wie du, würd ich mich umbringen!«

Es macht mich zutiefst betroffen, miterleben zu müssen, was Menschen anderen Menschen antun, häufig bewusst, manchmal unbewusst. Welche Schuld sie damit auf ihre Schultern laden, registrieren sie oft gar nicht und verspüren auch nicht den Wunsch, es wieder gut zu machen.

Die Chance, die die Freunde gehabt hätten, haben sie vertan, nämlich ihn zu stärken und zu stützen und ihre Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass er überlebt hat. Sie hätten ihn als Unterstützer haben können, auch wenn er nie wieder mitspielen kann. Damit hätten sie auch sich selbst geholfen. Aber nein! Dieses Unverständnis überrascht mich immer wieder, bleibt mir unverständlich und betrübt mich zutiefst.

Anpassungsfähigkeit in der Partnerschaft

Wie lassen sich Beziehungen erfolgreich führen? Ich habe einmal folgende Geschichte gehört: Im Central Park in New York spielten querschnittgelähmte Kinder im Rollstuhl mit einem Ball neben einem Basketballplatz, wo nicht-behinderte Kinder spielten. Ein Mann, der des Weges kam, sah diese Situation und wandte sich an den erwachsenen Betreuer der behinderten Kinder mit der Frage, warum er diese ausgerechnet hier spielen lasse, wo doch der Anblick der herumlaufenden für die querschnittgelähmten Kinder sehr belastend sein müsse.

Daraufhin meinte der Betreuer, der Mann solle einmal genauer hinschauen.

Die Kinder im Rollstuhl strahlten einander beim Spielen an, während die übrigen Kinder verbissen konkurrierten.

Als der Mann angesichts dieser Beobachtung stutzig geworden war, erklärte ihm der Betreuer das, was so augenfällig war: Die Kinder im Rollstuhl seien zufriedener als die anderen, die da herumliefen, weil sie aufgrund ihrer besonderen Situation bereits lernen mussten, nichts anzustreben, was sie nicht erreichen konnten. Sie haben die Fähigkeit entwickelt, loszulassen und sich nicht an eine fixe Vorstellung zu klammern.

Aus dieser Geschichte ist folgender Schluss abzuleiten: Menschen, die etwas, das nicht erreichbar ist, nicht loslassen können, sind lebenslang Gefangene ihrer Situation. Wer hingegen fähig ist, sich den Umständen anzupassen, macht sich frei und kann Zufriedenheit finden.

Diese Weisheit gilt auch für Beziehungen. In Beziehungen binden wir uns. Entweder an eine geliebte Person oder an unsere Vorstellung, wie die geliebte Person sein sollte. Letzteres führt unter Garantie in ein selbstverschuldetes Unglück. Ersteres, die Bindung an eine geliebte Person, ist auch kein einfaches Unterfangen. Damit diese Bindung die Zeit und diverse Krisen, die beinahe unausweichlich sind, überdauern kann, bedarf es einer Fähigkeit, die wohl wie keine andere das Überleben des Homo sapiens in den mindestens 300.000 Jahren seiner Existenz geprägt hat. Unsere Spezies hat von der Natur eine ganz ungewöhnlich ausgeprägte Anpassungsfähigkeit mitbekommen, mit der wir unerwartete, herausfordernde oder unseren bisherigen Lebensgewohnheiten widersprechende Situationen meistern können.

In einer Beziehung ist unsere Anpassungsfähigkeit in hohem Maß gefragt. Wir müssen lernen, einen anderen Menschen mit seinen Bedürfnissen, Wünschen, persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten und täglichen Verhaltensweisen achtsam und offen wahrzunehmen und uns mit ihm zu arrangieren, um das Leben mit ihm teilen zu können, in dem bis dahin wir selbst die zentrale Rolle eingenommen haben.

Wie schwierig sich diese wechselseitigen Anpassungsprozesse gestalten, belegen unsere Scheidungsraten, ganz zu schweigen von den vielen Beziehungen, die es gar nicht bis in den Ehestand (oder ein weniger formelles Äquivalent) schaffen. Viele Menschen fristen ihr Dasein in Beziehungen, die nicht gut für sie sind. Entweder weil die Voraussetzungen für eine gute Partnerschaft von Haus aus nicht gegeben sind oder weil ihre Anpassungsfähigkeit nicht ausreicht, um sich mit ihrem Partner zu arrangieren. Dann führen sie ein Leben in fortgesetztem ungesundem Stress. Das ist eine Verschwendung von Lebenszeit und mit einem Risiko für unerwünschte gesundheitliche Folgen verbunden.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?