Aufstand in Berlin

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„Er sagte mir, dass du Dummheiten machst und dass ich dich davor bewahren könne. Sag einmal, stimmt das? Du provozierst Breitschmidt eventuell zu einem Rauswurf?“

„Das ist seine Version.“

Er erzählte ihr, was der Aufsichtsratsvorsitzende von ihm verlangt und wie er darauf reagiert hatte. Er verschwieg ihr auch nicht, wie ungeheuer erleichtert er sich durch seine Entscheidung fühlte. Er rechnete nicht damit, dass sie seine Haltung verstand, seinen Entschluss, für seine Überzeugung ein Ende seiner Karriere in Kauf zu nehmen. Vor dem Adlon angekommen, kam der Portier eilig die Treppe herunter.

„Ihren Wagen, Herr Singer?“, fragte er eifrig. Singer nickte.

„Manchmal bist du wirklich seltsam!“ sagte Helen, ohne den Portier zu beachten, der zurück ins Hotel eilte, um die Garage anzurufen.

„Seltsam?“

„Ja, um nicht verrückt zu sagen. Was heißt das, der Job macht dir keine Freude mehr?“

„Ich will nicht mehr. Jedenfalls nicht unter diesen Bedingungen. Ich werfe nicht fünfzigtausend Leute hinaus.“

„Es machen doch alle. Auch Vater hat dies bereits tun müssen. Du wirst die Welt nicht verändern. Wir haben in den guten Zeiten zu viel Fett angesetzt. Nun gilt es den Gürtel enger zu schnallen.“

„Wir?“, fragte er süffisant.

„Midlife crisis“, stieß sie ärgerlich hervor. „Ein typischer Fall von verspäteter Midlife crisis.“

„Unsinn. Musst du immer alles in deine Chi–chi–Kästchen tun?“

„Sei nicht unhöflich“, antwortete sie bestimmt, als spräche sie mit einem ungeduldigen kleinen Jungen. „Eigentlich passiert nichts Ungewöhnliches. Du bist jetzt über fünfzig. Da fragt man sich schon, was das Leben einem noch zu bieten hat. Klar, du suchst nach neuen Zielen und willst nicht bis an dein Lebensende Vorstandsvorsitzender von Michael Singers Gnaden sein.“

„Breitschmidt glaubt, dass dein Vater mich als Kronprinzen auserkoren hat“, antwortete er lachend.

„Nein. Das hat er nicht. Du bist ihm zu weich.“

„Ach so? Hat er sich so über mich geäußert?“

„Nein. Aber ich kenne meinen Vater und weiß, wie er sich seinen Nachfolger vorstellt.“

„Da wird er noch lange suchen müssen. Solche Kotzbrocken gibt es nicht mehr häufig.“

„Du bist ungerecht. Wir verdanken ihm so viel.“

„Du verdankst ihm viel.“

„Eugen, was ist mit dir? Du bist so aggressiv.“

„Das versuche ich selbst gerade herauszubekommen.“

Ihr Wagen kam nun angerauscht und Singer gab dem Wagenmeister ein anständiges Trinkgeld und dieser lüftete seine Mütze. „Immer zu Diensten, Herr Singer.“

Helen wollte sich hinter das Steuer setzen. Ohne dass sie darüber sprechen mussten, war zwischen ihnen ausgemacht, dass sie auf dem Rückweg nach einer Feier oder in diesem Fall der Vernissage den Wagen steuerte.

„Ich habe noch eine Verabredung“, gestand er verlegen.

„Du hast was?“ Ihre Augen waren nun sehr schmal und funkelten erbost.

„Ja. Mit Schneider vom Marketing“, log er und wusste, dass er dabei nicht sehr überzeugend wirkte. Er konnte nie gut lügen.

„Ich muss herausbekommen, ob Breitschmidt mit ihm bereits gesprochen hat und eine Veränderung der Ziele angekündigt hat“, machte er mit den Lügen weiter.

„Muss das wirklich sein?“, fragte sie. Es blieb unklar, ob sie das Treffen mit Schneider meinte oder seine allzu offensichtliche Lüge. Mit einer resignierenden Bewegung warf sie ihre Handtasche ins Wageninnere.

„Bei der Preminger hast du noch von einem schweren Tag gesprochen. Es ist halb elf.“

„Ich treffe ihn im Borchardt“, erwiderte er, ohne auf ihre Feststellung einzugehen. Aber die klare Ortsangabe schien sie zu beruhigen.

„Wann bist du zu Hause? Du weißt doch, ich kann nicht einschlafen, wenn du nicht da bist.“

„Es kann zwei Stunden dauern. Du kennst doch Schneider. Ehe der zum Thema kommt, vergeht einige Zeit“, log er verzweifelt. Er konnte ihr nicht sagen, dass er mit ein paar Stadtstreichern verabredet war. So weit war er noch nicht.

„Die Preminger“, sagte sie plötzlich. „Triffst du dich etwa mit ihr? Habt ihr deswegen so aneinander geklebt? Du, ich warne dich! Ich lasse mir das nicht bieten.“

„Hör auf, Helen! Du weißt genau, dass sie nicht mein Typ ist. Ich habe keine Lust mich in die endlose Reihe ihrer Geliebten einzureihen.“

„Na gut, wann kommst du nach Hause?“ Sie war jetzt bereits milder gestimmt und zeigte, dass sie entschlossen war ihm zu glauben.

„Spätestens um zwei bin ich zurück. Spätestens.“

„Na gut. Und morgen reden wir über die Geschichte mit Breitschmidt. Kommt nicht infrage, dass du dich von ihm ausmanövrieren lässt.“

„Das will er gar nicht. Es geht ihm nur darum, dass ich mitmache. Er würde froh sein, wenn ich auf die Forderung des Aufsichtsrats eingehen würde. Vor ein paar Wochen hätte ich es getan.“

„Und warum kannst du es heute nicht tun?“, fragte sie mit einer Stimme, die erkennen ließ, dass sie bereits ungeduldig wurde und ihn für einen trotzigen kleinen Jungen hielt, der partout ein anderes Spielzeug wollte.

„Ich weiß es nicht.“

Aber das war nicht ganz die Wahrheit. Er wusste bereits, was anders war: Er war nicht mehr bereit, alles um jeden Preis mitzumachen.

„Gemeinsam werden wir auch das überstehen.“

Ihre Loyalität rührte ihn. Doch dieses Gefühl währte nur kurz. Als sie ihm sagte, dass ihr Vater ihnen schon helfen würde, wurde Singer wütend.

„Lass deinen Vater aus dem Spiel! Er würde mir nur einen ähnlichen Job besorgen wie den, den ich bereits habe. Ab einer bestimmten Stellung sind die Spielregeln überall die gleichen.“

„Du bist wirklich etwas durcheinander! Wenigstens darin hatte Breitschmidt recht. Vielleicht würde dir ein kurzer Urlaub helfen. Fliegen wir doch nächste Woche nach Nizza. Ein paar Tage im Colombe d’Or in St. Paul de Vence haben dir noch jedesmal gut getan.“

„Diesmal ist es nicht das.“

„Ich werde trotzdem mit Vater reden“, beharrte sie.

„Auch er wird mich nicht umstimmen.“

„Aber Eugen, was willst du denn machen?“

Sie machte sich Sorgen um ihn. Nicht deshalb, weil materielle Sorgen auf sie zukommen könnten. Dies lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Sie machte sich Sorgen, weil er sich anders benahm als die Leute, die sie sonst kannte, anders als er sich jahrelang verhalten hatte und natürlich darüber, was all die Bekannten und ihre Freundinnen sagen würden.

„Es wird mir schon etwas einfallen“, antwortete er.

Es klang nicht sehr überzeugend. Er hatte keine Ahnung was er tun würde, wenn er nicht mehr Vorsitzender der Singerwerke war.

„Hoffentlich das Richtige“, sagte sie kühl und stieg in den Mercedes, schlug kräftig die Tür zu und ließ den Wagen an. Sie fuhr vorsichtig den Wagen vom Straßenrand und reihte sich in den nächtlichen Verkehr auf dem Boulevard ein. Selbst jetzt um diese Zeit waren noch viele Autos unterwegs.

Sie war eine gute Fahrerin. Er erinnerte sich an ihre erste Zeit, an ihre Ausflüge an den Nikolassee und daran, wie sie an lauen Juniabenden in ihrem roten Porsche den Kurfürstendamm heruntergefahren waren, um dann später im Baronet, einer kleinen Bar in der Schlüterstraße, Cocktails zu trinken und noch später im „Big Apple“ nach ‚Twist and shout‘ zu tanzen. Sie hatten eine gute Zeit gehabt, aber die war lange her.

Langsam ging er den Boulevard hoch und auf den Alexanderplatz zu. Tief in Gedanken, in der Vergangenheit verstrickt, achtete er nicht auf die Passanten, die ihn überholten. Er dachte an den jungen Mann, der er einmal gewesen war und der, vom Sonnenlicht beschienen, der Welt ein herausforderndes Lächeln geboten hatte. Vom Bahnhof Friedrichstraße hörte er das Rauschen der S–Bahn.

5

Als er das Georgsbräu betrat, beschlug seine Brille. Er musste stehenbleiben und sie abnehmen. Eine Weile stand er blinzelnd im Eingang. Es roch nach Bier. Hinter der Theke sah er kupferne Kessel. Das Georgsbräu braute sein eigenes Bier. Hinter einer Nebelwand sah er jemanden herankommen.

„Du bist also gekommen!“, begrüßte ihn der Weißbärtige. Aus seiner Stimme war Freude und Genugtuung herauszuhören.

„Hast es dir lange überlegen müssen?“

„Nein. Keine Minute.“ Singer war selbst überrascht darüber. Er hatte die Absicht seit der Vernissage keinen Augenblick infrage gestellt.

„Dann bist du schon sehr weit“, lobte ihn Jonas und Singer fühlte sich stolz wie damals, als er in die Jazzband aufgenommen wurde, weil der lange Theisen, den alle nur Ketzek nannten, Singer als echten Jazzer empfahl. Das war ein Lob, das mehr wert war als eine Reihe königlicher Ahnen. Dass er einer der mächtigsten und reichsten Familien des Landes angehörte, zählte unter Jazzern nichts. Wichtiger war es, die richtigen Platten zu haben und zu wissen, was Charly Parker wann gespielt hatte und wer Gerry Mulligan oder Dizzy Gillespie war.

„Komm“, forderte Jonas ihn auf. „Wir sitzen dort hinten in der Ecke. Friedel erzählt gerade aus seiner Legionärszeit. Wir können die Geschichte bereits singen. Aber es ist die einzige Zeit seines Lebens, auf die er wirklich stolz ist. Deswegen hören wir ihm zu.“

Singer setzte die Brille wieder auf. Jonas‘ Freunde saßen in der Ecke der Schankstube gegenüber den kupfernen Kesseln und sahen ihm erwartungsvoll entgegen.

Er sah unter den Freunden auch ihm unbekannte Gesichter und Jonas stellte sie ihm vor.

„Das hier ist Robert. Unser Anarchist. Er war in seiner Jugend Mitglied der Kommune, die den amerikanischen Vize–präsidenten mit Backpulver beworfen hat. Er ist immer noch ein treuer Anhänger Bakunins, dem großen Verneiner.“

 

Robert sah unwillig hoch. Ein missbilligender Blick auf Singers Kleidung. Der Mann war so alt wie Singer und wirkte dennoch jugendlich und immer noch nicht ganz ausgebacken. Lange schwarze Haare wie in den guten alten Zeiten der Apo, ein bleiches, pickliges Gesicht und dunkle, sich ständig bewegende Augen.

„Aber abgesehen davon, dass er dauernd die Weltrevolution ausruft, ist er ganz in Ordnung“, erklärte Jonas, als befürchte er, dass die Anwesenheit des Anarchisten Singer unangenehm sein könne.

„Er ist auch nur einer der Verzweifelten. Bei dem einen äußert sich dies in Tränen und Resignation, bei ihm eben in Wut und Zorn über die Zustände auf das System, das es zulässt, dass man schon mit Fünfzig weggeworfen wird. Du kennst doch den Spruch von damals? Macht kaputt, was euch kaputt macht! Genau so fühlt er immer noch. Einmal Revolutionär, immer Revolutionär. Mit solcher Einstellung ist man heute ganz schön allein.“

„Für solch ein Gelaber sollte man dich an die Wand stellen!“ sagte Robert und knallte mit scheelem Blick sein Bierglas auf den Tisch.

„So ist er nun einmal“, entschuldigte ihn Jonas. „Er gibt vor, die ganze Menschheit zu lieben und redet doch nur von Bomben, dem großen Knall und vom Knattern der Maschinenpistolen.“

„Bourgeoises Geschwätz“, brummte Robert verächtlich.

„Und das hier ist Giulio“, fuhr Jonas ungerührt fort. „Ein Florentiner. Hauptberuflich ist er im Sommer Kellner in Positano oder Amalfi. Nebenberuflich ist er der letzte Rotgardist. Manchmal, wenn er nicht gerade mal wieder hoffnungslos verliebt ist.“

Der Italiener schien dem Gemälde des Piero de la Francesco entstiegen zu sein. Er sah aus wie einer der Renaissancefürsten, die Macchiavelli beschrieb und die den großen Leonardo abends zur Tafel baten. Der Italiener reichte Singer über den Tisch die Hand. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er Singer für sich ein.

„Jonas muss immer übertreiben. Rote Garden findet man nicht mehr, weder in Mailand noch in Bologna, und Fetrinelli ist schon lange tot.“

„Ein wenig. Zugegeben“, gab Jonas unumwunden zu.

Es lag viel Wärme und Zuneigung in seiner Stimme, so dass sich Singer ihm wieder zuwandte. Was hatte den Alten wohl dazu gebracht, ein Berber zu werden? Er wirkte dabei nicht unglücklich. Im Gegenteil. Nie zuvor war Singer jemandem begegnet, der so viel Verständnis und Liebe und Würde ausstrahlte. Er schien Singer wie ein Mensch aus einer vergangenen Welt. Aus einer Zeit, in der Ehre, Anstand und Würde wichtig waren. Und natürlich die Freundschaft.

In das Gesicht des Alten traten nun Freude und Stolz. Als Singer sich umdrehte, verstand er dies. Auch er hatte den Eindruck, dass er etwas Außergewöhnliches, etwas Kostbares sah. Wenn er noch Jahre später an diesen unwiederbringlichen Augenblick ihrer ersten Begegnung zurück dachte, hatte er stets Mühe mit Worten den Grad der Betroffenheit zu beschreiben, den er empfand, als er Maja das erste Mal sah. Er glaubte, ihr schon einmal begegnet zu sein. In einem früheren Leben, und sie ließ in ihm Gefühle wach werden, die er längst abgeschlossen zu haben glaubte. Lange, glatte schwarze Haare, die bis in den Rücken reichten, eine klassische, etwas zu lange Nase und große geheimnisvolle dunkle Augen. Ein Lächeln, das traurig und lockend und wissend zugleich war, als wäre sie die Hüterin eines großen Geheimnisses.

Maja umarmte den Alten und der Weißbärtige drückte sie wie ein liebender stolzer Vater an sich. Sie lehnte einen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter und sah Singer dabei an. Ihr fein geschwungener Mund war leicht geöffnet, als wolle sie ihn ansprechen. Sie war so schön, dass Singer krampfhaft schlucken musste.

Als sie ihm die Hand reichte, zitterte seine eigene und sie berührte, von den anderen unbemerkt, seinen Arm. Sie hatte also registriert, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte und schien sich darüber zu freuen. Er war sich dessen sofort sicher.

Jonas beobachtete sie zustimmend und strich ihr über das Haar, als wollte er damit ausdrücken, dass er Singer verstand und dessen offen gezeigte Verwirrung gut hieß.

„Maja studiert Kunst. Sie malt uns manchmal. Zeig doch einmal, was du heute gemalt hast“, bat der Alte und seine Stimme ließ erkennen, dass Singer nun etwas Außergewöhnliches sehen würde. Das Mädchen nickte und entnahm ihrer Umhängetasche einen Block. Ohne sich zu zieren, reichte sie ihn Singer, als habe er ein Anrecht darauf. Obwohl Singer nicht viel von Malerei verstand, erkannte er, dass sie Talent hatte.

Es waren Skizzen von Straßenszenen, nur mit wenigen flüchtigen Strichen hingeworfen, und doch wurde der Charakter der Menschen sichtbar. Gesichter, die satt aussahen und doch ängstliche Augen zeigten oder von Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit entstellt waren. Er blätterte weiter und fand schließlich Jonas und seine Freunde. Auch sie waren treffend gezeichnet. Besonders Jonas fand er sehr beeindruckend. Ein Leuchten war in dessen Gesicht, genau so wie er es selbst schon festgestellt hatte. Er sah Skizzen von Friedel, Hermann, Fränzchen und Giulio. Auch von Luischen. wie sie mit ihrem Kosmetikköfferchen an einer Straßenecke stand und auf Freier wartete. Aber es war nichts Rohes oder Gemeines in dem Bild. Sie stand mit frohem Gesicht an der Ecke und vielleicht auch mit ein wenig Ungeduld, weil sie Liebe zu vergeben hatte und niemand kam. Liebe für Geld, gewiss, aber immerhin war es Liebe. Dann kam ein Bild von Robert. Seine Hände hatte sie wie gichtige Klauen gezeichnet, als würde er sie vor Schmerzen krümmen.

„Sie zeigt uns unsere kleinen Geheimnisse“, flüsterte Jonas ehrfürchtig. „Doch sie geht dabei recht liebevoll mit uns um.“

„Sie ist eine große Künstlerin“, bestätigte Hermann.

Maja zuckte mit den Achseln. „Ach was. Ich habe euch schon tausendmal gesagt, dass ich nur durchschnittlich bin. Ich möchte so zeichnen können wie Goya oder so zärtlich–traurig wie Janssen oder wie Picasso, wenn er die Menschen als Götter zeichnete. Aber mir fehlt der Zorn oder das Selbstbewusstsein.“

Singer fiel Goyas nackte und bekleidete Maja ein. Lag in der Namensgleichheit ein Zusammenhang, etwas Bedeutsames, eine Verbindung, die etwas erklärte?

„Jeder große Künstler zweifelt an sich selbst“, widersprach Jonas begütigend.

„Picasso hat nie gezweifelt“, sagte sie und nahm Singer den Block aus der Hand und steckte ihn in ihre Umhängetasche.

„Was hätte er erst leisten können, wenn er es getan hätte“, erwiderte Jonas, als wäre er auch ein Schüler der Kunstakademie, mehr noch, einer der Professoren.

„Er hat viel geleistet“, verteidigte ihn Maja.

„Zweifellos“, stimmte ihr Jonas zu. „Doch ich glaube, er war manchmal zu schnell mit sich zufrieden. Aber ich gebe gern zu, dass wir nichts wissen von der Verzweiflung und der Einsamkeit anderer Menschen.“

Es gab wohl niemanden, für den Jonas kein Verständnis hatte.

„Kunst ist zum Produkt verkommen. Beliebige Ware“, warf Giulio ein und lächelte so kummervoll, wie Leonardo im Palast der Medici gelächelt haben mochte.

„Kunst entsteht oft auf dem Misthaufen. Letztendlich geht es ums Geld.“

„Seht doch nur an, was aus Dalí geworden ist! Das größte Talent unseres Jahrhunderts hat sich für Geld und Ruhm ruiniert“, stimmte ihm Maja zu.

„Eines Tages verkaufen sich alle“, polterte Hermann plötzlich los. „Keiner entgeht dem Geld. Die ganze Gesellschaft hat sich verkauft.“

„Sind wir anders?“, beschwichtigte ihn Jonas. „Gut, wir sind darüber hinweg. Jedenfalls meistens. Aber auch jeder von uns ist schon einmal rückfällig geworden. Zumal wenn der Bauch knurrt.“

„Die Versuchung ist einfach zu groß“, sagte Singer, der sich an das Gespräch mit Schanek und der Preminger erinnerte. „Für die Skulptur auf dem Pariser Platz zahlen sie dem Künstler Zweihunderttausend.“

„Die Hand Gottes?“

Maja schien das Kunstwerk zu kennen.

„Ja. Was hältst du von dem Kunstwerk?“, fragte er interessiert. Das Mädchen strich sich das lange Haar aus dem Gesicht und lachte. Sie ist einfach vollkommen, dachte Singer, als er ihre blitzenden Zähne sah.

„Ein Happening, mehr nicht.“

„Dafür haben sie Geld, und die Wärmestuben wollen sie schließen!“, donnerte Robert und sprang auf. Er stieß dabei fast den Tisch um.

In vielen Großstädten gab es sogenannte Wärmestuben, wo sich die Berber, Stadtstreicher, Trinker und Obdachlosen tagsüber aufhalten konnten. Diese sozialen Einrichtungen stammten noch aus den Tagen, als man Deutschland das Wirtschaftswunderland nannte.

Jonas drückte ihn auf den Stuhl zurück.

„Beruhige dich, Robert. Schlimmer ist, dass sie auch die Suppenküchen schließen wollen.“

„Suppenküchen?“, fragte Singer begriffsstutzig.

„Wir nennen sie so. Unterstehen der Stadt. Wenn du dich dort meldest, bekommst du kostenlos eine Mahlzeit. Sehr oft Eintopf. Deshalb der Name.“

„Stell dir vor, du hast nichts schnorren können und es gibt keine Suppenküchen mehr“, flüsterte Fränzchen entsetzt.

Singer erinnerte sich nun. Die Zeitungen hatten darüber berichtet. Die Stadt war hoffnungslos verschuldet und überall wurde nach Einsparungsmöglichkeiten gesucht, und so war man unter anderem auf die Idee verfallen, die kostenlose Essensvergabe zu streichen. Noch war dies nicht endgültig entschieden, jedoch wurde die Öffentlichkeit bereits durch entsprechende Verlautbarungen darauf und auf die Streichung anderer sozialer Maßnahmen vorbereitet.

„Mit dem Geld für diese Skulptur auf dem Pariser Platz könnten sie ein Jahr lang Suppen austeilen und jedem außerdem noch einen warmen Mantel für den Winter schenken“, grollte Fränzchen.

„Ihr bringt keine Stimmen“, sagte Maja traurig.

„Wir haben keinen Wert für die Gesellschaft“, stimmte Jonas zu.

„Und dieses sogenannte Kunstwerk?“, fragte Hermann bitter.

„Welchen Wert hat die Hand?“

„Damit setzt sich der Regierende ein Denkmal“, antwortete Giulio. „Die Hand wird noch nach Jahren an die Regierungszeit unseres Bürgermeisters erinnern. Zu allen Zeiten haben sich die Mächtigen Denkmäler gesetzt.“

„Dagegen ist auch nichts zu sagen“, erklärte Jonas. „Solange sie die Menschen nicht vergessen.“

Doch er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Es war offensichtlich, dass er über irgendetwas angestrengt nachdachte.

Das Gespräch versickerte. Alle starrten düster vor sich hin, wütend über ihre Ohnmacht und mit ein wenig Angst, was im Winter aus ihnen werden würde. Auch Singer machte sich Sorgen um seine Zukunft. Ihre Probleme erschienen ihm aber unendlich größer als seine eigenen. Maja ergriff unter dem Tisch seine Hand; er sah sie überrascht an und sie neigte zustimmend den Kopf und bestätigte so, dass sie seine Gedanken kannte. Trotz der Sorgen fühlte er sich jetzt wie zu der Zeit, als er mit rotem Pullover am Fehrbelliner Platz darauf wartete, dass das River Boat öffnete. Die Rolling Stones sangen: „You can never get what you want …“

Du hast viel Glück, dass dir dies noch einmal widerfährt, dachte er dankbar. Er hatte sich verliebt. Ohne Jonas hätte er sie nie kennen gelernt.

„Wir werden Gottes Hand dafür benutzen und mit ihr um die Suppenküchen kämpfen“, sagte der Weißbärtige plötzlich.

„Schanek versteht die Hand mit dem Finger ja als eine Mahnung“, erinnerte sich Singer.

„Na also. Wir werden mit der Hand an die Menschlichkeit mahnen. Wir werden die Öffentlichkeit daran erinnern, dass man nicht einerseits Geld für Kunstwerke, für Subventionen der Opernhäuser ausgeben und andererseits die Suppenküchen schließen darf. Du wirst sehen, die Menschen werden uns verstehen. Man wird uns helfen.“

„Versprich dir nicht zuviel davon. Sie sind nicht so wie du“, sagte Maja traurig. „Es ist ihnen gleichgültig, was mit euch geschieht. Ihr lebt nicht wie sie. Es mangelt ihnen an Empathie. Für die guten Bürger seid ihr nur Tagediebe und Schmarotzer. Sie werden euch nicht helfen.“

Doch Jonas widersprach energisch: „Oft sind die Menschen gleichgültig, habgierig und dumm. Und doch gibt es die Bibel, den Koran und die Lehren Buddhas. Erinnert euch, wie viel Spenden zusammenkamen, als es darum ging, den Tsunamiopfern zu helfen. Wir sollten es versuchen.“

„Was müssen wir tun?“, fragte Hermann und beugte sich eifrig über den Tisch. Seine Hand lag offen und fordernd vor Jonas, als wolle er das, was dieser nun sagen würde, ergreifen und sich dadurch retten.

„Wir sollten die Hand oder noch besser das Rote Rathaus in die Luft sprengen“, fuhr Robert dazwischen.

 

„Lass den Unsinn“, wies ihn der Weißbärtige zurecht.

Zum erstenmal erlebte Singer, dass Jonas auch ungehalten und barsch reagieren konnte.

„Damit würden wir uns nur so verhalten, wie sie es von uns erwarten. Nein, wir sollten bei der Einweihung dabei sein und darauf hinweisen, was die Hand bedeutet.“

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte Maja, noch immer nicht überzeugt.

„Darüber muss ich noch nachdenken. Aber morgen werde ich es wissen.“

„Gut. Wir werden hingehen. Vielleicht wird die Hand dadurch doch noch zu etwas Bedeutsamem.“

Sie redeten noch lange darüber, wie sie die Einweihung der Hand zu einer Demonstration für die Berber nutzen konnten. Und je später es wurde, desto phantasievoller wurden die Vorschläge. Robert wollte Stinkbomben und Feuerwerkskörper hochgehen lassen, Luischen mit Kolleginnen vor das Adlon ziehen. Friedel wollte den Herren vom Senat Brieftaschen stehlen und Hermann schlug vor, statt mit Hüten nun mit Suppenschüsseln Unter den Linden zu schnorren. Es war Giulio, dessen beweglichen Geist die Idee entsprang, die auch Jonas zusagte.

„Wir hängen an dem ausgestreckten Finger einen großen Kessel auf. Mit der Inschrift: Vergesst die Armen nicht. Finger weg von den Suppenküchen.“

„Oha, Nachfahre des göttlichen Leonardo, des begnadeten Michelangelo Buonarotti, das ist die Lösung“, rief Jonas und drückte Giulio an sich. „Das werden wir tun. Die ganze Welt wird darüber reden. Eugen, was meinst du? Wird sie das aufregen?“

„Zweifellos. So etwas bringt Schlagzeilen.“

„Und Maja, was meint unsere schöne Maja?“

„Ich bin dafür.“

„Aber wie wollen wir es anstellen?“, fragte Hermann mit seinem Sinn für das Praktische.

„Ganz einfach. Wir nageln den Kessel auf die Fingerspitze! Wenn er nicht aus massiver Bronze besteht, wird es gehen“, schlug Fränzchen vor.

„Ist er nicht“, bestätigte Singer.

„Der Finger soll einige Meter hoch sein“, gab Maja zu bedenken.

„Ich bin schon ganz andere Mauern hochgestiegen“, sagte Friedel schmunzelnd.

„Nicht mit einem Kessel.“

„Nein. Aber Fränzchen wird mir helfen. Wir werden gemeinsam den Finger hochklettern.“

Singer bestellte noch eine Runde vom Dunklen und der Weißbärtige nickte ihm zu.

„Du hast heute einen guten Grund dein Geld auszugeben. Du erlebst den Anfang einer neuen Bewegung. Die Berber, die Weggeworfenen wehren sich.“

„Wir werden aus der Hand ein Kunstwerk machen, das etwas bewirkt. Der Traum jedes Künstlers. Ich weiß nur nicht, ob sich Schanek darüber freuen wird“, sagte Maja lachend.

Eine Runde wurde von der nächsten abgelöst und das Bewusstsein etwas Großes gedacht und eingeleitet zu haben, sprach aus ihren Gesichtern. Singer war froh, dass er zu ihnen gehörte.

Es war nach zwei, als Maja sagte, dass sie gehen müsse, da sie am nächsten Tag schon am frühen Morgen eine Vorlesung habe. Singer stand wie selbstverständlich ebenfalls auf und verabschiedete sich von den Freunden. Niemand gab darüber seiner Verwunderung Ausdruck. Als er Jonas die Hand gab, zog ihn dieser an sich und flüsterte ihm zu, wie sehr er sich freue, dass ihm Maja gefalle.

„Mache sie glücklich, Eugen. Du bist vielleicht ihre Rettung.“

Diese Worte verstörten Singer ein wenig. Er fragte sich, wovor er Maja retten sollte. Sie sah so schön, so absolut selbstsicher und strahlend aus und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie gerade ihn als Retter nötig hatte. Doch Singer wusste bereits, dass Jonas jemand war, der in die Menschen hineinsehen konnte. Angst befiel ihn und er legte schützend seinen Arm um Majas Schultern.

Sie traten aus dem Georgsbräu. Vor dem Lokal kämpfte der heilige St. Georg auf dem Denkmal gegen einen furcht–erregenden Drachen. Sieht so aus, als wenn jetzt auch die Berber eine Rüstung angelegt haben.

Maja legte ihren Kopf an seine Schulter und nun schien sie ihm gar nicht mehr so selbstsicher und sieghaft und strahlend, sondern zart und verletzlich. Er merkte, dass auch in ihr Angst war und es tat ihm weh.

„Wohin gehen wir?“

„Zu mir, Eugen“, sagte sie und sah zu ihm hoch. „Wenn du willst, gehen wir zu mir.“

Wie sich herausstellte, wohnte sie gar nicht weit von seinem Büro am Gendarmenmarkt entfernt, in einem alten Haus in der Markgrafenstraße. Sie musste eine schwere Holztür mit einem altertümlich großen Schlüssel öffnen. Neben dem steinernen Tor wachten Riesen, die wohl Atlas und Herkules darstellen sollten und sich mit der Last der Erde abmühten. Es ging durch einen Flur auf einen kleinen Hof, in dem Autos standen, zu einer Tür, die wieder den altertümlichen Schlüssel verlangte. Im Treppenhaus roch es nach Nüssen, was den geheimnisvollen Eindruck in dem flackernden Licht verstärkte. Im vierten Stock öffnete Maja die Tür zu ihrer Wohnung und sie fiel ihm in die Arme und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihre Schenkel an seinem Geschlecht und ihre Lippen berührten sich wieder und wieder.

Die Wohnung war klein. Ein Zimmer mit Küche. In dem Zimmer waren ein Bett, ein kleiner Tisch und zwei Stühle mit verschlissenen Polstern. Für eine Frau sehr spartanisch. Drucke hingen an den Wänden, und er wunderte sich nicht darüber, dass es Stiche von Goya und Janssen waren. Daneben hatte sie eigene Zeichnungen geheftet. Natürlich von Jonas und seinen Freunden. Auch eine schöne Rötelzeichnung von Luischen war dabei.

Schweigend und etwas verlegen zogen sie sich aus und legten sich in das breite Bett. Einen Augenblick lang waren sie sich fremd. Doch dann berührte er ihre Brust und die Verbindung zwischen ihnen, der Strom, war wieder da. Ihr Mund berührte seinen Hals und seine Brust und seinen Bauch und dort, von seinem Nabel her, flüsterte sie, dass sie gleich gewusst habe, dass sie sich lieben würden.

Er erfuhr in den folgenden Stunden, dass es goldene Täler gab, dass Funken einen emportragen und man mit ihnen in eine blaue Unendlichkeit fallen konnte. Und der Fall, der endlos zärtliche Fall, hörte lange Zeit nicht auf.

Und nun erinnerte er sich, glaubte sie schon einmal vor Salomons Tempel gesehen zu haben, sah sie lächelnd in der Halle zu Mykene und Atreus lächelte ihnen zu, und tausend Jahre später traf er sie in Florenz an der Brücke, und Dante zeigte auf sie. Beatrice. Ihre Münder aneinander gepresst durchzogen sie die Zeit. Immer neue Sonnen grüßten und sanken hinter ihnen auflodernd zusammen.

„Das war schöner als der beste Schuss. So schön wie Narzissen im Schneefeld“, sagte sie schließlich und erst verstand er den Sinn nicht; und als er begriff, als er sich an Jonas‘ Worte erinnerte, stürzte er ab und war Ikarus.

So bitter erfuhr er nun, dass es keine Vollkommenheit gab und Glück nur kurz währt, und ihm fiel ein, was er über Sucht gelesen hatte. Und wenn er auch keine Vorstellung davon hatte, wie es wirklich war süchtig zu sein, so wusste er doch, dass es ihre Liebe gefährdete.

„Seit wann?“, hörte er sich fragen. Eine kalte sachliche Stimme.

„Schon seit zwei Jahren“, flüsterte sie aus dem Dunkel. So fern war sie ihm nun und weiter, immer weiter schien sie von ihm fort zu treiben.

„Warum?“

„Es gibt viele Gründe und keinen richtigen.“

Er fühlte ihren Atem an seinem Hals.

„Du kannst …“

„Nein. Das habe ich schon hinter mir.“

„Wenn man will …“, begann er. Ein Allgemeinplatz.

„Nein. Vielleicht …“, sagte sie zögernd. „Wenn du mir hilfst. Was glaubst du, wie oft ich es schon versucht habe. Es war … die Hölle.“

„Du schaffst es. Ich helfe dir.“ Er stand auf und ging ans Fenster und öffnete es. Unten ging ein Schatten über den Hof. Der Mann pfiff vor sich hin. Maja sah vom Bett zu ihm herüber. Er konnte nur die Umrisse ihres Körpers sehen.

„Vielleicht begegnen wir uns das nächste Mal früher.“

Es tröstete ihn, dass auch sie daran glaubte, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Es war schön sich das vorzustellen.

„Noch ist Jetzt, und ich werde bei dir bleiben, solange du mich bei dir bleiben lässt.“

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