Aufstand in Berlin

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Am gleichen Tag sah Singer Jonas zum zweiten Mal. Er kam gerade aus dem Adlon und verabschiedete sich von Kretschmann. Zufrieden schüttelten sie sich vor dem Hotel die Hände. Beide glaubten ein gutes Geschäft gemacht zu haben und dies ließ sie noch einen Augenblick vor dem Adlon entspannt zusammen stehen und zufrieden auf den Pariser Platz blicken, wo man dabei war, den hässlichen Fußball der Fußballweltmeisterschaft abzubauen. Kretschmann bedankte sich überschwänglich für das gute Essen und Singer fand, dass er allen Grund dazu hatte. Sie hatten ‚Dorade in Salzkruste‘ gegessen und Henkel hatte ihnen dazu einen trockenen kühlen Pouilly Fumé serviert. Genau der richtige Wein zu einem Fischgericht.

Aber der Dank galt nicht allein dem vorzüglichen Essen, mehr noch den Zuwendungen zur Pflege der Geschäftsbeziehungen, die sich auf einige hunderttausend Euro belief zuzüglich dem Urlaub auf der Seemöwe, der selbst die verwöhntesten Gäste zufriedenstellen konnte.

„Sie werden mit Ihrer Gattin traumhafte Tage in der Karibik verbringen,“ sagte Singer und sah dabei über den Pariser Platz zu dem Brandenburger Tor hin, dessen klare Linien ihn immer wieder aufs Neue begeisterte und das er genauso liebte wie den Gendarmenmarkt.

„Wie viele Gäste werden auf dem Schiff sein?“

„Meistens so um die zwanzig. Alles Leute aus der Wirtschaft. Sie werden sich wohlfühlen.“

„Meine Frau wird leider nicht teilnehmen können. Sie hasst die See.“

„Ach ja? Nun, an weiblicher Gesellschaft wird es nicht fehlen. Sie brauchen nur ein Wort zu dem Skipper sagen. Die Seemöwe schippert schließlich durch die Karibik. Sie wissen doch, Rum, Reggae und kaffeebraune Mädchen …“

„Nicht, dass ich ….“

„Nein. Was kann jemand gegen einen kleinen Spaß haben? Sie haben es das ganze Jahr schwer genug.“

Kretschmann war nun sehr erleichtert und verabschiedete sich schnell.

„Sie erhalten die Vertragspapiere noch in dieser Woche.“

„Fein. Und lassen Sie mich wissen, wenn Sie irgendwelche Wünsche haben.“

Sie winkten sich gegenseitig zu und Kretschmann verschwand in dem Gedränge auf dem Boulevard.

Es war später Nachmittag und Singer hätte noch einmal ins Büro gehen können, und normalerweise hätte er es auch getan. Aber dies hätte ihn wieder mit Manitus Forderung konfrontiert, und nach der Einigung mit Kretschmann, die nicht einfach gewesen war und ein gutes Stück Geld gekostet hatte und ihm erst gelang, als er die Seemöwe mit ihren weißen Segeln unter karibischer Sonne in die Schlacht geworfen hatte, war er nun erschöpft und müde. Er ging den Boulevard hinunter und wechselte an der Ecke Friedrichstraße die Straßenseite und lief am Schweizer Haus vorbei zu Dussmann. Ihm fiel ein, dass er sich mit Helen am Abend auf einer Vernissage verabredet hatte.

„Aber nicht, dass du mich wieder versetzt, wie schon so oft!“, hatte sie gesagt.

Er seufzte bei dem Gedanken an die Menschen, die er dort vorfinden würde und die ihm so gleichgültig waren, wie Helen sie für geistreich, interessant und aufregend hielt. Sie hatte andere Ansprüche. Es war erst vier Uhr. Er hatte noch Zeit.

Eugen Singer liebte Bücher und infolgedessen auch Buchhandlungen, wenn er auch jedes Mal bedauerte, dass es fast nur noch Buchhandlungsketten gab, die mit amerikanischen Thrillern vollgestopft waren und wohlfeilen

Seelenmassagen. Als er jung und voller Illusionen gewesen war, hatte er davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Er hatte sogar einige Kurzgeschichten geschrieben und sie an die Zeitungen geschickt, aber niemand hatte sie angenommen. Von diesen jugendlichen Träumen war die Leidenschaft für gute Bücher geblieben. Diese Buchhandlungssupermärkte hatten den Vorteil, dass man ungestört stöbern konnte. Er fand eine neue Fitzgerald–Ausgabe vom Diogenes Verlag und kaufte sie erfreut. Neben Faulkner war Fitzgerald sein Lieblingsautor. Niemand konnte die Atmosphäre eines Abends oder die Stimmung einer Gesellschaft so romantisch schildern wie der Autor des Jazz Age. Den Schluss vom „Großen Gatsby“ hielt er für den Höhepunkt der amerikanischen Literatur. Er wünschte sich, dass man auch Faulkner wieder einmal neu auflegen würde, denn seine Bücher aus den achtziger Jahren waren bereits reichlich zerfleddert.

Als er mit seinem Päckchen Bücher aus dem Laden trat, sah er den Alten neben einem Akkordeonspieler stehen und er erinnerte sich sofort, dass er ihm schon einmal begegnet war. Es war vierzehn Tage her. An einem Samstag. Er war mit Helen am Kurfürstendamm einkaufen gewesen. Der Samstagvormittag gehörte ihr. An jedem Samstagvormittag fuhren sie früh in die Stadt, um im KaDeWe einzukaufen. Er konnte sich erinnern, wieviel Spaß ihm das früher gemacht hatte. Doch in den letzten Jahren war daraus mehr und mehr eine Gewohnheit geworden, eine Verpflichtung. So war er jedesmal froh, wenn sie im Regent, im Restaurant „Fischer’s Fritz“ den Vormittag ausklingen lassen konnten. Meistens aßen sie dort einen leichten Fisch, Hechtröllchen in Weißweinsoße oder Loup de mer und tranken dazu ein Glas Taittinger. Er war gern im Regent, mochte die Atmosphäre, die Holztäfelung des Restaurants und den Ausblick auf den Gendarmenmarkt. Das Essen war stets hervorragend, genau so wie der Champagner. Vor dem Hotel hatte er sich gerade von Wilfried verabschiedet, dem hochgewachsenen Portier, der ihn wegen seiner gestelzten würdevollen Haltung an eine Figur aus einem Dickensroman erinnerte. Sie kannten sich seit Jahren, da er oft auch an Arbeitstagen im Regent aß und dort auch gern seine Geschäftspartner unterbrachte. Es war nicht so groß wie das Adlon und ganz in der Nähe seines Büros, und seine Gäste hatten sich immer wohlwollend über den Service geäußert.

Singer wartete auf Helen, die ihren Porsche aus der Garage in der Friedrichstraße holen wollte, als ein Mann auf ihn zukam, der in einem Historienfilm gut einen Propheten abgegeben hätte.

„Man kann nicht gerade sagen, dass du glücklich aussiehst, obwohl du doch eigentlich glücklich sein müsstest, wenn du in solch einem Haus schläfst.“

Mit diesen Worten hatte der Alte ihn angesprochen. Singer erinnerte sich noch, wie betroffen er darüber gewesen war. Es stimmte, was der Alte gesagt hatte. Der eigenartige Mensch war nicht so alt wie er schien. Bei genauer Betrachtung mochte er nicht viel älter als Singer sein. Nur der weiße Bart und das silbern schimmernde Haar, das ihm in Locken auf die Schulter fiel, vermittelten diesen Eindruck.

Es waren die Augen, die das Gesicht sympathisch machten. Braune, intensive Augen, die verständnisvoll, fast liebevoll blickten. Ein breiter Mund mit kräftigen weißen Zähnen, umrahmt von Lachfalten, verstärkte den freundlichen Eindruck. Die kühn gebogene Nase und der dunkle Hautteint gaben dem Alten etwas Fremdländisches. Er erinnerte ihn ein wenig an Georges Moustaki. Der Alte trug einen dunklen Mantel mit einer Kapuze, einen Dufflecoat, wie er in England bei den Studenten üblich und auch in Deutschland in den sechziger Jahren einmal Mode gewesen war. Vielleicht lag es an der Kapuze, dass Singer bei dieser Begegnung den Eindruck hatte, dass der Alte in diesem Aufzug einem Mönch glich.

„Warum sollte ich unglücklich sein?“, hatte Singer unwillig gefragt.

„Ja. Warum? Du bist gut gekleidet und dieses Hotel ist sicher nicht billig. Du hast bestimmt eine schöne Frau, ein Haus und die Sonne scheint. Warum solltest du unglücklich sein? Aber du siehst so aus.“

„Glück ist immer relativ!“, hatte Singer hilflos geantwortet.

„Richtig!“, hatte der Alte ihm beigepflichtet. „Aber wenn du nicht glücklich bist, wer sollte es dann sein? Es liegt an dir. Ändere dein Leben, ändere alles, denn es ist zu kurz, um unglücklich zu leben.“

„Bist du denn glücklich?“, hatte Singer gefragt.

Erst später wurde ihm bewusst, wie absurd die Situation gewesen war. Er im dunklen Anzug und mit Helens Einkaufstüten vor dem Luxushotel und ihm gegenüber der seltsame Alte, der wie ein Mönch aussah. Wilfried hatte ihm einen fragenden Blick zugeworfen, ob er den Alten verscheuchen sollte und Singer hatte den Kopf geschüttelt.

„Oh ja!“, war die Antwort des Alten gewesen. „Ich habe in der Suppenküche in Friedrichshain einen guten Eintopf bekommen. Es ist ein wunderschöner Tag, und die Frauen sehen heute aus wie Melodien in einem Violinkonzert oder wie Gemälden von Chagall entsprungen. Oben am Kronprinzenpalais spielen zwei Russen Vivaldi und Mozart. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Frauen wie Melodien durch die Straßen schweben sehe. Warte mal, vielleicht gefällt dir das Lied.“

Der Alte spitzte den Mund und fing an zu pfeifen. Eine Melodie aus „Vier Jahreszeiten“. Singer war kein großer Musikkenner, aber diese Melodie kannte er.

„Was kann einem Schöneres passieren als an einem Samstag dieses Lied zu hören und die Sonne scheint und die Frauen lachen glücklich“, fuhr der Alte fröhlich fort.

„Deswegen bist du glücklich“, stellte Singer spöttisch fest.

„Ja. Das Wichtigste sind natürlich die Frauen, die wie Melodien durch die Straßen schweben“, ergänzte der Alte schmunzelnd.

„Frauen, die wie Melodien durch die Stadt schweben. Auf so etwas muss man erst einmal kommen“, erwiderte Singer amüsiert. Der Weißbärtige lächelte zurück.

„Wenn man aufpasst, sieht man jeden Tag etwas, was einen glücklich machen kann. Man muss nur den Willen haben, es zu sehen, zu hören und zu riechen. Ja, riech doch einmal!“

Der alte Mann schloss die Augen und zog hörbar die Luft ein.

„Ah, wie gut das tut. Es riecht nach französischem Parfum, nach Menschen, die alles haben, die eigentlich glücklich sein müssten. Dieses Hotel ist wohl sehr teuer.“

„Es ist ein Fünfsternehaus“, erwiderte Singer. Er fand, dass es hier in der Charlottenstraße, dicht am Gendarmenmarkt, allenfalls nach Benzin roch, und war ein wenig traurig darüber, dass er nicht die gleichen Sinneseindrücke hatte wie der Alte.

 

„Eine Insel der Reichen, ein Camelot, nicht wahr?“

„Du hast wirklich eine lebhafte Phantasie!“, staunte Singer und war beeindruckt, welches Wissen und welchen Wortschatz der Alte hatte.

„Natürlich, Phantasie gehört zum Leben. Was würden wir ohne sie tun? Die Menschen hätten keine Häuser, keine Kleider und nicht einmal Gebete. Sie würden noch in Höhlen leben. Schade, dass du dein Glück nicht erkennen kannst. Aber es ist verständlich. Ein unglücklicher Mensch ist allein und lebt in einer dunklen Kammer. Ich hoffe, dass du sie eines Tages verlässt und glücklich wirst.“

Helen war mit dem Wagen erschienen und Singer hatte die Einkaufstüten aufgenommen.

„Ein schönes Auto“, sagte der Weißbärtige noch. „Du bist noch ärmer dran als ich dachte. So reich zu sein und dann nicht glücklich. Was muss denn noch geschehen, damit deine Augen wieder leben?“

Singer hatte die Frage nicht beantworten können, da Helen hupte, und er hatte dem Alten noch kurz zugenickt und war in den Wagen gestiegen. Aber diese Frage hatte ihn die ganze Zeit während der Fahrt nach Hause beschäftigt. Auch die Tatsache, dass er keine Antwort gewusst hätte. Helen hatte ihn gefragt, ob der Alte ihn angebettelt habe. Singer hatte dies verneint und nur ganz allgemein von einer interessanten Begegnung gesprochen. Seine Frau hatte ihn daraufhin erstaunt angesehen. Noch einige Tage war die Frage des Alten durch seine Gedanken gegeistert. ‚Was muss denn noch geschehen, damit deine Augen wieder leben?‘ Diese Frage tauchte immer wieder zwischen anderen Gedanken auf. Doch schließlich hatte er den Alten vergessen.

Nun, zwei Wochen später, war ihm bewusst, dass der Alte etwas mit dem zu tun hatte, was mit ihm passiert war und noch immer passierte. Und er freute sich über diese Wiederbegegnung und ging auf den Weißbärtigen zu, der ihm lächelnd entgegensah. Vor ihm auf der Erde lag ein verbeulter Hut, in dem einige Geldstücke lagen.

„Erinnerst du dich noch?“, fragte Singer den Alten.

„Durchaus. Du bist der reiche Mensch, der nicht glücklich ist.“

„Ist denn für dich heute wieder ein glücklicher Tag?“, fragte Singer und wies auf den Hut mit den wenigen Geldstücken. Sein Gesicht drückte aus, dass er das Glück des Alten nicht hoch einschätzte.

„Aber gewiss“, antwortete der Weißbärtige. „Es sind fast acht Euro in meinem Hut. Es gibt schlechtere Tage. Ich werde mir nachher ein Hühnchen leisten können, und zu einem Glas Wein wird es auch noch reichen. Es ist durchaus ein glücklicher Tag. Sieh dort drüben nur das Pärchen an. Wie sie sich glücklich zulachen und der Akkordeonspieler hier vor dem Buchladen spielt einen Walzer nach dem anderen.“

Auf einmal erschien es Singer, als wäre der Tag wirklich außergewöhnlich schön, als sei er anders als alle vorangegangenen Tage und seine Bedrückung, seine Unzufriedenheit war verflogen. Es war ihm schon lange nicht mehr aufgefallen, dass die Stadt voller glücklicher Menschen war.

„Dein Blick klärt sich auf!“, sagte der Weißbärtige zufrieden und musterte Singer wohlwollend.

„Deine Stimmung färbt ab.“

„Man sieht es dir an!“ bestätigte der Alte. „Du musst daran arbeiten. Nur noch eine kleine Anstrengung und du wirst die Welt mit anderen Augen sehen.“

„Es scheint tatsächlich so, dass man Glück nur mit Anstrengungen erreichen kann.“

„Alles will gelernt sein“, bestätigte der Weißbärtige ernst; er bückte sich und hob seinen Hut auf, nahm das Geld heraus und steckte es in die Manteltasche.

„Wenn du nichts vorhast, laß uns ein Glas Wein trinken. Ich lade dich ein.“

Singer war über diese Einladung zwar überrascht, doch dann dachte er daran, wieviel sich an diesem Tag bereits ereignet und für ihn verändert hatte, und weil er bisher mit niemandem darüber gesprochen und den Eindruck hatte, dass der Alte viel über das Glück wusste, sagte er zu.

„Gut. Aber ich lade dich ein.“

„Einverstanden. Du hast schließlich mehr Geld als ich, „ sagte der Alte schlicht und hakte sich bei Singer ein.

„Komm. Wir gehen zu Szandors Altdeutscher Bierstube, einer guten Kneipe am Alexanderplatz, unter den Arkaden, die noch aus der DDR–Zeit stammen. Dort bekommt man einen anständigen Wein, der nicht zu teuer ist.“

Singer sah wohl die Blicke, die ihnen zugeworfen wurden. Vor Tagen hätte er sich noch geniert, mit dem Alten gesehen zu werden. Doch jetzt waren ihm die verwunderten Blicke gleichgültig.

Es passiert immer noch. Alles wird anders, dachte er, staunend darüber, was in ihm vorging.

Szandors Bierstube entpuppte sich als schmuckloses Lokal mit sauber gescheuerten Tischen und einigen verblassten Fotos von Budapest und Spielautomaten an den Wänden. Die kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Dafür brannten einige Neonlampen an der Decke, die die Gesichter der wenigen Gäste klar, hart und schonungslos hervortreten ließen. Singers Begleiter wurde mit großem Hallo begrüßt. Drei Männer und eine Frau verließen den Tresen und umarmten den Weiß–bärtigen und küssten seine Wangen. Es war etwas Würdevolles in den Umarmungen. Man konnte den Eindruck haben, sie würden einen Kundschafter, den sie vor langer Zeit in ein unbekanntes Land entsandt hatten, wieder zu Hause willkommen heißen.

Der Alte stellte mit einer leichten Verbeugung und mit einer bewusst karikierenden Weltläufigkeit seine Freunde vor: „Die Dame zuerst. Das ist Luischen. Sie hat am Lustgarten ihr Revier. Wir kennen uns seit Jahren.“

Die Frau reichte ihm nach einem scheuen Blick auf Singers dunklen Anzug die Hand und errötete dabei. Ihr tief dekolletiertes rotes Kleid verriet genug von ihrer Profession. In der Hand hielt sie einen kleinen Kosmetikkoffer, als habe sie eine weite Reise vor sich. Es sah nicht aus, als wäre ihre Kundschaft wohlhabend. Sie wirkte alltäglich, trotz ihrer freizügig gezeigten Brüste weder sinnlich noch verworfen. Eigentlich eher wie eine Frau vom Land, die in die Stadt gekommen war und sich nicht zurechtfand und tapfer zu überspielen versuchte, dass sie sich unsicher fühlte. Das Gesicht wurde nur durch grellrot geschminkte Lippen belebt. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte dreißig, aber auch bereits vierzig sein. Das Lächeln, das sie Singer schenkte, hatte etwas Schwesterliches.

„Hui, Jonas!“, sagte sie mit einer rauen Stimme, die so gar nicht zu ihrer Erscheinung passte. „Du hast jetzt aber vornehme Freunde.“

„Was sagen schon Kleider, Luischen. Er ist ein Freund!“, antwortete der Alte, von dem Singer nun wusste, dass er Jonas hieß. Auf seinen fragenden Blick antwortete dieser:

„Ja. So wie dieser Prophet in der Bibel, der vom Walfisch verschlungen wurde. Meine Mutter war eine sehr gläubige Frau. Sie glaubte, der Name würde mir Glück bringen, weil der Walfisch Jonas wieder ausspuckte und er den Weg des Herrn gehen konnte.“

„Der Name passt zu dir. Du siehst auch so ein bisschen wie ein Prophet aus.“

„Geh mir weg mit den Propheten, die hatten alle viel durchzustehen!“, sagte Jonas und warf abwehrend die Arme hoch und fuhr fort mit der Vorstellung.

„Und das ist Fränzchen. Mit ihm war ich in der Provence, in Lourdes und in Pamplona. Wir sind beide weit herum–gekommen. Der Hellste ist er gerade nicht, aber der Geschäftstüchtigste von uns allen. Er bringt stets die dickste Kollekte nach Hause.“

Fränzchen hatte dazu gelächelt, als empfände er diese Vorstellung als Kompliment. Nachdem er Singers Hand kräftig gedrückt hatte, wies er auf den Anzug und fragte respektvoll: „Heiße Ware? Gut eingekauft, was?“

„Nein. Zu denen gehört er nicht“, wies ihn Jonas kurz zurecht.

„Und das ist Hermann. Ein Frankfurter. Wirst es gleich hören. Ein waschechter Hesse. Hatte früher mal eine Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel. Aber die Bulgaren haben ihn fertig gemacht. Ein guter Kerl, wenn er nicht gerade besoffen ist.“

Hermann hatte die typischen roten Augen des Trinkers. Seine Hand zitterte.

„Willkommen bei den Berbern“, begrüßte er Singer.

Dieser sah Jonas fragend an. Der Alte nickte zustimmend.

„So nennen wir uns. Klingt doch besser als Penner, Stadtstreicher oder Asozialer, nicht wahr? Unser dritter Freund hier ist Friedel. War früher mal ein schwerer Junge, hat sich in Hamburg bei einer Bank bedient. Natürlich haben sie ihn erwischt. Er war so dumm, auf der Reeperbahn mit Tausendern um sich zu werfen. Viel hat die Bank nicht zurückbekommen. Die Mädchen haben ihn ordentlich gerupft. Zur Zeit hält er sich mit kleinen Ladendiebstählen über Wasser. Du kannst ihm vertrauen. Freunden würde er nie etwas klauen.“

„Und ich bin Eugen“, stellte sich Singer vor und fügte fast verschämt hinzu: „Ich verkaufe Stahl.“

„Du bist Jonas‘ Freund“, antwortete Friedel.

Damit schien alles gesagt und Singer in ihren Kreis aufgenommen zu sein.

„Darf ich euch einladen?“, fragte er.

„Aber immer!“, krächzte Fränzchen begeistert.

Singer ging zur Theke und der Wirt musterte misstrauisch seine für diese Umgebung viel zu elegante Kleidung. Doch als er fünf Brathähnchen und eine Flasche Roten bestellte, hellte sich die Miene des Wirts auf. Hermann pfiff durch die Zähne und lobte Singers Großzügigkeit.

„Er ist wirklich bei Kasse!“, bestätigte Jonas. „Er fährt ein Auto, das gut seine Hunderttausend gekostet hat. Doch wir sollten seine Großzügigkeit nicht zu sehr ausnutzen. Nachher denkt er noch schlecht von den Berbern.“

Mit Behagen aßen sie die Hähnchen, die nach Singers Geschmack zu salzig waren. Nachdem sie von dem Wein getrunken hatten, wurde Singer mit einem andächtigen anerkennenden Rülpsen belohnt. Es schien dazu zu gehören.

„Richtig gemütlich heute!“, stellte Luischen fest.

„Es ist wie in Avignon unter den Platanen auf dem Platz neben dem Papstpalast“, sagte Fränzchen. Er faltete die Hände hinter dem Kopf zusammen und starrte nachdenklich an die Decke, auf das kalte Licht der Neonlampen.

„Eher wie in Saintes Maries de la Mer“, fing nun Jonas an zu träumen. Er setzte das Weinglas ab und summte eine Melodie, die nach ‚Luna de Fuego’ von den Gipsy Kings klang. Singer wunderte sich nicht mehr darüber, er hatte ja schon erlebt, wie musikalisch der Alte war.

„Wegen mir auch Les Saintes Maries de la Mer. Auch da war es schön“, sagte Fränzchen friedlich. „Aber nur im Mai zum Wallfahrtsfest, wenn sie die Heiligenfiguren aus der Kirchen holen und mit ihnen zum Meer ziehen. Vorher und nachher ist es auch in der Camargue so wie in Deutschland.“

„Ja. An den Wallfahrtstagen sind dort alle Brüder, „ begeisterte sich Jonas. „Die Zigeuner, die Gardiens, die Touristen und wir. Niemand sieht dich scheel an. Alle Menschen sind aus einem Königreich. Dann werden die Kneipen zu Kathedralen und der Strand zu einem mit Teppichen ausgelegten Tanzboden. Die ganze Nacht durch spielen die Zigeuner und ihre Frauen tanzen dazu. Erst wenn es hell wird, verstummen die Instrumente. Dann hört man nur noch das Rauschen des Meeres, und du legst dich in den Sand und siehst zur Kirche hinüber, die trotzig wie eine Festung aus der Dämmerung wächst.“

Jonas kam nun mächtig in Fahrt. Seine Augen blitzten noch lebendiger als sonst. Mit ebenso leuchtenden Augen hingen die Freunde an seinen Lippen und erwarteten nun mehr von ihm zu hören und Jonas enttäuschte sie nicht.

„An St. Firmin ist auch Pamplona eine gute Stadt. Genau so wie Nizza oder Köln zur Karnevalszeit. Oder wie jeder Ort am Silvestertag, ganz kurz vor und nach Zwölf. Ein wenig davon ist jeden Tag in Paris. Nicht so ausgelassen, nicht so trunken wie an einem Silvesterabend, aber dafür ist eine Ahnung davon ständig da. Natürlich nur rund um den Montmartre oder ganz dicht am Seineufer gegenüber dem Quartier Latin.“

„Auch Berlin ist kein schlechter Platz!“, warf Hermann ein.

Jonas stimmte ihm zu.

„Ja, in Kreuzberg und im Wedding oder am Hackeschen Markt. Aber dort nicht immer.“

„In Frankfurt war es das ganze Bahnhofsviertel!“ trumpfte Hermann auf. „Bevor die Bulgaren alles übernahmen.“

„Was ist das schon? In Hamburg ist es ganz St. Pauli und die Gegend hinter dem Hauptbahnhof!“, überbot ihn Friedel.

In seinem Gesicht leuchtete ein Widerschein der Nächte, in denen er seine Beute aus dem Banküberfall durchgebracht hatte. Singer fragte den Alten, was es mit den Ortsbezeichnungen auf sich habe.

„Das Königreich der Berber!“, antwortete er ernst und würdevoll und die anderen nickten gewichtig dazu.

 

Als Singer ihn verständnislos ansah, legte ihm Jonas den Arm um die Schulter und zeigte ihm das Königreich, dessen Existenz wohl den meisten Menschen unbekannt war.

„Das Königreich der Berber ist überall dort, wo die Menschen frei sind. Wo jeder den anderen leben lässt wie er leben will. Das Königreich ist in unseren Köpfen, und wir nehmen es überall hin mit und rufen es dort aus, wo man es uns ausrufen lässt. In jeder Großstadt gibt es einen Platz, wo man uns in Ruhe lässt, und schon fünfhundert Meter weiter rückt uns die Polizei auf den Hals. Aber die Orte sind nicht so wichtig. Wichtiger ist, was wir in uns tragen. Wir haben Paris in unseren Köpfen.“

Singer bestellte eine weitere Flasche und war nun genau so zufrieden und glücklich wie Jonas und seine Freunde. Als sie die zweite Flasche geleert hatten, verstand er, was Jonas gemeint hatte, als er von den Kathedralen sprach. Auch ihm schien Szandors Bierstube nicht mehr trostlos und das Neonlicht nicht mehr kalt. Selbst den miesen Kalender mit dem Pin–up–Girl neben ihnen an der Wand hielt er nun für schön und passend, wie ein kostbares Bild in einem Museum. Sie saßen nicht in einer kargen Kneipe mit billigen Fotos von Budapest, sondern in einer marmornen Halle, deren Wände sich hoch oben unter den Sternen vereinigten. Um ihn herum saßen würdige Männer, in kostbares Tuch gehüllt, die darüber sprachen, wie sie den Menschen zum Glück verhelfen könnten. Mit ihren zerfurchten Gesichtern, so fand Singer, hätten sie auch gut in Raffaels Bild von der Philosophenschule zu Athen gepasst.

Es war warm in der Kneipe und Singer zog sein Jackett aus. Luise strich respektvoll über das Tuch.

„Von einem wie du würde ich glatt einen Hunderter verlangen. Glatt. Du verdienst mit deinem Stahl sicher viel Geld.“

„Es geht mir nicht schlecht“, antwortete Singer lapidar.

„Und was macht man damit, mit dem Stahl?“

„Man macht Turbinen daraus, Autos, Füße für Bürodrehstühle, und manchmal auch Kanonen.“

„Das ist nicht gut“, sagte Jonas mit sorgenvoller Stirn.

„Ich habe keinen Einfluss darauf.“

„Es müsste ein Gesetz geben, das es verbietet, aus deinem Stahl Kanonen zu machen“, sagte Hermann und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Gläser ins Wanken kamen.

„Ich habe gehört, dass es sogar ein Gesetz gibt, nach dem alle Stühle in einem Büro fünf Füße haben müssen“, warf Friedel ein.

„Tatsächlich?“, staunte Jonas. „Gibt es wirklich ein Gesetz, wie ein Stuhl beschaffen sein muss?“

„Es gibt Normen dafür“, erklärte Singer. „DIN–Normen. Alles ist geregelt. Bis auf die Kleinigkeit, was mit meinem Stahl geschieht.“

„Was müssen die Menschen für Angst haben!“, sagte der Weißbärtige. „Man muss sich das vorstellen, da sitzen sie in ihren Bürohochhäusern und denken darüber nach, wie viele Beine ein Stuhl haben soll. Demnächst schaffen sie noch eine Norm dafür, wie ein Gesicht auszusehen hat.“

Alle lachten. Doch nun klang es nicht mehr so fröhlich, und die ausgelassene Stimmung begann sich zu verflüchtigen.

„Du solltest an niemanden verkaufen, der Kanonen aus deinem Stahl macht.“

„Du hast recht. Aber wenn ich dann vielleicht nicht genug Gewinne mache, bin ich schnell meinen Posten los.“

„Du bist ein armes Schwein. Ich finde, du bist ein richtig armes Schwein“, stellte Luischen fest.

„Das mit den Stühlen interessiert mich. Ich habe doch genug Stühle beim Sozialamt gesehen, die nur vier Beine haben, „ meldete sich Friedel hartnäckig.

„Die sollten eigentlich längst umgerüstet oder ausgetauscht sein.“

„Und was geschieht mit den …. ausgetauschten Stühlen?“

„Man wirft sie weg.“

„Alles werfen sie weg!“, klagte der Weißbärtige. „Kleider, Autos, Möbel, Brot und auch Menschen. Wer über Fünfzig ist und seinen Arbeitsplatz verliert, gehört zu denen, die weggeworfen werden.“

„Nicht einmal den Jungen gibt man eine Chance!“, ergänzte Luischen. „Eine Kollegin von mir hat einen achtzehnjährigen Sohn. Sie war so stolz, dass er sogar das Abitur geschafft hat. Er hat hunderte von Bewerbungen geschrieben und dennoch keinen Ausbildungsplatz bekommen.“

„Die Jungen sind besonders übel dran. So viele bekommen nicht einmal die Chance auf eine Zukunft“, sagte Jonas, bekümmert den Kopf schüttelnd.

„Es gibt sogar viele mit Studienabschluss, die keine Festanstellung bekommen und sich nur mit Praktika durchs Leben schlagen“, berichtete Singer von den Bewerbungen, die in seiner Personalabteilung eintrafen.

„Aber du hilfst ihnen doch?“, sagte Luischen und lächelte hoffnungsfroh.

„So gut es geht. Auch ich habe einen Aufsichtsrat im Nacken, der kontrolliert, ob ich genug Geld für die Aktionäre erwirtschafte.“

„Wir haben alle jemanden im Nacken!“ stellte Friedel fest. „Die einen die Polente, die anderen ihren Chef. Aber wir sind die Schaumkrone auf dem großen Haufen der Weggeworfenen.“

„Dabei machen sich die guten Bürger etwas vor!“ sagte Jonas energisch. „Sie haben sich verkauft. Für Autos, Häuser, Kleider und Ansehen. Dafür schuften sie. Jeden Tag haben sie Frondienst und sind sogar stolz darauf, unfrei zu sein. Glücklich sind sie dabei auch nicht.“

„Unsere Gesellschaft zerfällt in viele Klassen“, brummte Hermann. Da oben sind die Reichen, darunter die mit einem Arbeitsplatz, dann kommt die Masse der Hartz–IV–Empfänger, das Heer der Arbeitslosen und …“

„Und am Schluss der Pyramide stehen wir, der Abschaum, die Ausgestoßenen, die Penner und Obdachlosen“, ergänzte Jonas.

„Nach dem Scheitern des Kommunismus gibt es keine Alternative mehr für eine andere Welt. Der Kommunismus hat zu den fürchterlichsten Verbrechen der Menschheit geführt. Seitdem sind die Philosophen ratlos und verweisen darauf, dass unser System das beste von allen schlechten ist“, entgegnete Singer. Er musste doch das Leben verteidigen, das er führte.

„Es gibt eine Alternative, Eugen!“ sagte Jonas energisch und donnerte mit erhobenem Zeigefinger: „Es müsste eine Demokratie sein, die ihren Bürgern ein Mindesteinkommen sichert. Die die Gewinne der Konzerne beschneidet und dafür sorgt, dass keiner auf der Straße landet und betteln muss.“

„Dann würden die Konzerne dahin gehen, wo sie nicht so hohe Steuern zahlen müssen. Auch darüber wurde schon viel nachgedacht, aber es scheint eine Sackgasse zu sein“, entgegnete Singer. „Die Konsequenz wäre, dass noch mehr Menschen ohne Arbeit sind.“

Er dachte an den Aufsichtsratsvorsitzenden. Was würde der lachen, wenn er ihn in einer solchen Diskussion wüsste.

„Natürlich müssten alle Länder mitmachen. Wofür gibt es denn eine UNO?“, fuhr Jonas unbekümmert fort. „Es wären die Vereinigten Staaten der Erde, und sie müssten sich um den Inder am Ganges genauso so kümmern wie um uns Berber hier an der Spree. Überall wäre Arkadien.“

„Ach, wäre das schön. Ich bräuchte nicht mehr auf den Strich zu gehen. Hermann hätte seine Kneipe noch. Fränzchen wäre so eine Art Reiseführer. Nur Friedel, der wäre ein Problem. Er ist eigentlich Schlosser, und in einer glücklichen Welt braucht man nun einmal keine Schlösser.“

„Und, Jonas, was würdest du in Arkadien tun?“, fragte Singer gespannt.

„Ich wäre Geschichtenerzähler. Ich würde auf dem Alexanderplatz stehen und den Leuten die Nachrichten erzählen, und sicher würde ich dies besser machen als die im Fernsehen. Nicht nur Schlechtes würde ich berichten, sondern auch die guten Seiten einer schlimmen Nachricht. Wenn in einem Bergwerk ein Unglück war, würde ich nicht nur über Tote und Verstümmelte erzählen, sondern auch von dem Wunder, dass der Kumpel Anton mit dem Leben davongekommen ist. Ich würde schildern, wie er dort unten im Dunkeln gelegen hat und wie er betete und hoffte und sich diese Gebete erfüllten. Ich würde nicht nur von den großen Ereignissen berichten, sondern auch von den alltäglichen Begegnungen, die oft viel aufregender sind. Was alles passiert, wenn man den ganzen Tag hinter einer Ladenkasse sitzt. Was man erlebt, wenn man