Das Mädchen im Moor

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Sonnabend, 15. September 2007, Walsrode

Mathias Mahnke lag lange wach in dieser Nacht. Das Bild tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf – das Bild von Annika. Wie sie in diesem Moortümpel gelegen und ihn mit ihren toten Augen angestarrt hatte. Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, nach Walsrode zurückzukehren. Vielleicht hätte er lieber an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen sollen. Neues Leben? War das überhaupt möglich? Wäre es nicht für alle Beteiligten besser gewesen, er wäre tot? Auch für Sören? Dies war schließlich auch die Version gewesen, die Sibylle ihm geliefert hatte, eine abschließende, befriedende Version …

Aber dafür war es zu spät. Sören wusste, dass sein Vater wegen Mordes im Gefängnis gesessen hatte – und er musste alles tun, seine Unschuld zu beweisen. Seinen Sohn von der Schande befreien, ein Mörderkind zu sein.

Aber wie? Nach dem anonymen Anruf war das Gespräch mit der Reporterin am Abend ins Stocken geraten. Immer wieder hatte diese Frau einen neuen Anlauf unternommen, den Stand ihrer Recherchen zu referieren, Fragen zu Beteiligten zu stellen, aber nach dem Anruf war plötzlich ein Gefühl der Vergeblichkeit über ihn gekommen. Er musste sich zwingen, zuzuhören, zum Reden fehlte ihm jede Lust.

Nebenan knarrte das Bett. Ob sich auch Sören schlaflos im Bett wälzte? Sören. Der Gedanke, dass sein Sohn nebenan im Bett lag, erfüllte ihn mit Wärme. Wie lange hatte er sich danach gesehnt! Ja, er musste alles tun, das Vertrauen, das dieser prächtige Junge in ihn setzte, nicht zu enttäuschen. Er musste kämpfen.

Am Sonnabendvormittag zeigte Mahnke seinem Sohn die Umgebung von Walsrode. Seine Schwester hatte ihm einen alten VW-Passat gekauft. Er steuerte das Auto vorbei am Vogelpark in Richtung Hünzingen, fuhr weiter nach Benefeld und Bomlitz, wo Fabrikschornsteine in den Himmel ragten und die Anlagen eines Chemiewerks in das Ortsbild drängten. Mahnke fiel auf, dass es in Bomlitz gar nicht mehr wie früher nach Chlor oder Schwefel roch. Vermutlich war das schon ein Zeichen dafür, dass die Produktion heruntergefahren worden war, wie Sabine ihm berichtet hatte. Auch sonst hatte sich einiges geändert. Die Verkehrsführung war modernisiert worden, überall Kreisel, er musste sich konzentrieren, um die richtige Abfahrt zu erwischen. Von Bomlitz fuhr er mit Sören über einen Schleichweg vorbei an Heideflächen und Fischteichen weiter nach Fallingbostel und wanderte hier mit seinem Sohn durch das hügelige Waldgebiet der Lieth. Nach dem Spaziergang ging es weiter zum benachbarten Truppenübungsplatz. Obwohl es Wochenende war, schleppte sich bei Oerbke eine niederländische Militärkolonne über die Panzerringstraße – mit rasselnden Panzern und schweren Lastwagen. Mahnke erklärte seinem Sohn, dass man von hier aus zu den Sieben Steinhäusern komme, einer viele tausend Jahre alten Grabanlage. Aufgrund des Militärverkehrs zog er es dann aber vor, auf ziviles Gebiet zurückzukehren. Er fuhr am Lönsgrab in Uetzingen vorbei in Richtung Walsrode und machte einen weiten Bogen um die Stadt, indem er die Dörfer Benzen, Schneeheide und Fulde passierte.

In Fulde machte er Sören auf den Feldweg aufmerksam, der zum Grundlosen See führte. Sören verstand, hatte aber nicht den Mut, nachzuhaken.

Von Fulde aus führte die Straße direkt auf die Oskar-Wolff-Straße – und damit auch zu dem hübschen Backsteinhaus. »Hier bin ich aufgewachsen«, sagte Mahnke. »Das Haus hat schon mein Vater geerbt.«

»Wann ist der denn eigentlich gestorben?«

»Das ist lange her. Ein Jahr bevor ich Abitur gemacht habe. Herzinfarkt.« Mahnke holte kurz Luft. »Es ist beim Abendessen passiert, kurz vor den Sommerferien. Mein Vater war Volksschullehrer, wie du weißt. Es kam wie aus heiterem Himmel, er war keinen einzigen Tag krankgeschrieben, wollte eigentlich gleich in die Schule …«

»Das muss hart gewesen sein.«

»Kann man wohl sagen – zumindest für uns. Unser Vater hat ja nicht viel gemerkt. Ein schöner Tod, hieß es später immer. Aber, ich weiß nicht …«

»Und deine Mutter?«

»Die ist erst vor drei Jahren gestorben. Die hatte nicht so einen schönen Tod, Darmkrebs, muss furchtbar gewesen sein – auch schon, bevor die Krankheit ausgebrochen ist. Sie hat sich kaum mehr auf die Straße getraut, nachdem sie mich eingesperrt hatten. Ja, ich war nicht der Einzige, der bestraft worden ist …«

Sören schob seine Hand zu seinem Vater herüber. Und der drückte sie.

Am Nachmittag war ein Besuch bei Sven Weber geplant. Johanna hatte den Termin arrangiert. Der erfolgreiche Rechtsanwalt lebte mit seiner Familie am Nordsunderberg, einer der besten Adressen in Walsrode. Das Böhmetal mit seinem großen Waldgebiet lag direkt vor seiner Haustür. Noch exklusiver als die Wohnlage war Webers Villa selbst: ein weiß geklinkerter Neubau mit blauem Ziegeldach, Säulenportal und turmartigem Rundbau.

»Das ist ja wirklich pompös«, entfuhr es Mahnke, als er aus Johannas Golf gestiegen war und einen ersten Blick über das stattliche Anwesen werfen konnte, das hinter einem weiß gestrichenen Zaun lag. »Scheint bestens verdient zu haben.«

»Sieht ganz danach aus«, bestätigte Johanna. »Sven ist gut im Geschäft, der hat als Wirtschaftsanwalt scheinbar eine Marktlücke entdeckt: Spezialist für Insolvenzrecht. Da geht es um so gigantische Summen, dass auch das Anwaltshonorar entsprechend üppig ausfällt. Außerdem hat wohl seine Frau einiges in die Ehe eingebracht, eine gute Partie, wie man so schön sagt. Paula Weber stammt aus einer Unternehmerfamilie. Stinkreich. Aber, wie gesagt, Sven ist okay. Dem ist der Wohlstand nicht zu Kopf gestiegen, das werden Sie hoffentlich gleich selbst merken.«

Damit drückte Johanna auch schon auf den Klingelknopf am Messingschild. Es knackte in der Sprechanlage.

»Ja bitte?«

»Hallo Sven, Johanna hier. Ich hoffe, du hast uns nicht vergessen.«

»Hey, Johanna, hallo! Wie sollte ich euch vergessen haben! Kommt rein. Wir erwarten euch.«

Nach einem diskreten Klicken ließ sich das schwere Eisentor problemlos aufschieben.

Ein Natursteinplattenweg führte durch einen Garten mit kunstvoll gestutzten Hecken, plätscherndem Springbrunnen, Putten, Rosenbeeten und einem Seerosenteich – alles so mustergültig angelegt wie ein Garten aus dem Werbeprospekt für gehobene Wohnkultur. Auch ein Swimmingpool leuchtete azurblau hinter den Büschen hervor. Aber Mahnke blieb nicht viel Zeit, die schöne Außenanlage in Augenschein zu nehmen. Denn kaum hatten sie das Grundstück betreten, kam ihnen auch schon der Hausherr entgegen – ein schlanker Herr mit kantigem Gesicht und rotblonden Haaren, der sich in seinen schwarzen Jeans und seinem blauen Poloshirt mit dem stilisierten Krokodil eine sportlich-elegante Note zu geben bemühte. Zur Begrüßung riss er beide Arme hoch.

»Lieber Herr Mahnke, herzlich willkommen.«

»Guten Tag, Herr Weber.«

Schon im nächsten Moment ergriff Sven Weber seine Hand, drückte sie und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. »Schön, dass Sie da sind«, tönte er. »Aber ehrlich gesagt: Fast hätte ich mir gewünscht, dass Sie mich duzen, so wie früher.«

»Sie irren sich«, widersprach Mahnke. »Sie waren damals in der elften Klasse, und da habe ich Sie auch schon gesiezt.«

»Wirklich? Aber trotzdem haben Sie mich ›Sven‹ genannt und nicht ›Herr Weber‹.«

Mahnke nickte. »Da haben Sie recht.«

Mit einem triumphierenden Lächeln streckte Weber die Hände aus. Dann wandte er sich seiner Bekannten zu, bei der die Frage der Anrede geklärt war: »Gräfin.« Er unterstrich die Begrüßung mit einer tiefen Verbeugung, fügte dann aber in etwas ernsterem Ton hinzu: »Mein Gott, Johanna, bitte entschuldige, aber so ist das, wenn man nach so langer Zeit seinen Pauker wiedersieht, da schlägt das alte Autoritätsverhältnis sofort wieder durch.« Er nahm Johanna in den Arm, als begrüße er eine alte Freundin.

»Aber bitte, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen«, erwiderte die Journalistin brav. Schließlich nahm Weber auch Notiz von Sören, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Der Junior! Die Ähnlichkeit ist wirklich nicht zu übersehen«, kommentierte der Anwalt, spürte jedoch gleich, dass er mit dieser höflich gemeinten Bemerkung eine Irritation bei seinen Gästen hervorrief. Doch Weber war wortgewaltig genug, die Verlegenheit zu überspielen.

»Dann kommt doch erst mal rein«, drängte er. »Ihr werdet schon erwartet.«

Tatsächlich stand bereits ein kleines Empfangskomitee im Hausflur: Rose-Sophia und Isabel-Jasmin – blonde Mädchen im zarten Alter von drei und fünf Jahren, sommerlich drapiert mit gelben und rosafarbenen, duftigen Kleidchen und verlegen kichernd; hinter ihnen, ebenfalls blond und blauäugig, die hoch aufgeschossene Hausherrin in verwaschenen Jeans und weißer Bluse, betont leger.

»Darf ich vorstellen?«, fragte Weber lächelnd. »Meine beiden Süßen: Rose-Sophia und Isabel-Jasmin.« Und mit einer leichten Handbewegung in die Richtung der Dame im Hintergrund präsentierte er seine »bessere Hälfte«, wie er Paula, seine Frau, nannte.

»Hallo. Und Sie sind bestimmt Herr Mahnke«, sagte die Dame mit dem blassen Teint in routinierter Gastgeberinnenmanier, indem sie Mahnke höflich die Hand reichte. Nachdem sie in vertrauterem Ton auch Johanna die Hand geschüttelt hatte, wandte sie sich Sören zu.

»Hallo, äh …«

»Sören.«

»Hi, Sören.«

Nun beeilte sich der Hausherr, den Gästen mitzuteilen, dass der Kaffeetisch gedeckt sei – und zwar auf der Terrasse. »Ich hoffe, es ist euch nicht zu kalt.«

Natürlich war es niemandem zu kalt. Die warme Septembersonne machte es zu einem Genuss, im Garten zu sitzen, beschattet von zwei Ulmen, die hier schon gestanden haben mussten, lange bevor Weber das Grundstück übernahm.

 

Sven Weber. Unwillkürlich drängte sich Mahnke das Bild eines verpickelten Knaben mit rotblonden Haaren auf, der großspurig eine Frage zu irgendeiner schwierigen Kafka-Parabel zu beantworten versuchte, aber wenig Sinnreiches zusammenbrachte. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sein eloquenter Gastgeber und dieser verpickelte Junge von damals ein und dieselbe Person sein sollten. Andererseits erinnerte er sich, dass Sven schon als Schüler Talent zum Reden gehabt hatte – eine Begabung, die er genutzt hatte, um Einfluss auf einige seiner Mitschüler zu nehmen. Ein Töner mit unverkennbarem Machtstreben. Aber natürlich waren seither siebzehn Jahre vergangen, und trotz seiner auftrumpfenden Art wurde bei genauerem Hinsehen spürbar, dass die Fassade des Erfolgsmenschen brüchig war. Mahnke fiel auf, dass sein Gegenüber unvermittelt mit dem rechten Auge zwinkerte. Fast war es schon ein krampfartiges Zucken. Die offenkundige Störung machte Weber in den Augen Mahnkes gleich viel sympathischer.

Alles Peinliche und Belastende, das in der Zwischenzeit geschehen war, wurde zunächst konsequent ausgeklammert. Sven Weber erzählte seinen Töchtern, was für ein toller Lehrer »der Herr Mahnke« war und dass er immer noch die ersten Verse jenes Herbst-Gedichtes von Rainer Maria Rilke auswendig kenne, das er bei ihm gelernt habe:

»Herr, es ist Zeit.

Der Sommer war sehr groß …«

Natürlich war Weber sofort bereit, von seinem märchenhaften Aufstieg zum erfolgreichen Anwalt zu berichten, als Mahnke danach fragte. »Tja, irgendwann lief es fast von selbst«, sinnierte der sonnengebräunte Advokat. Doch schon im nächsten Moment bremste sich Weber selbst und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber Sie dürfen natürlich nicht denken, dass es bei mir immer nur aufwärts gegangen ist«, begann er. »Ganz und gar nicht; vor einigen Jahren sah es fast schon so aus, als, äh, würde es mit mir vorzeitig zu Ende gehen.« Er warf seiner Frau einen ernsten Blick zu. »Isabel war gerade zwei und Paula stand kurz vor ihrer zweiten Entbindung, da kam die Diagnose, dass ich an einem Hirntumor erkrankt war. Ich hatte vorher immer schon mörderische Kopfschmerzen gehabt. Aber wer rechnet denn mit so was? Na ja, ich will hier nicht meine ganze Krankengeschichte ausbreiten, aber die Prognosen waren nicht gerade ermutigend, und einige Wochen lang stand wirklich alles auf Messers Schneide. Zum Glück habe ich aber dann schließlich doch die Kurve gekriegt und seither, toi, toi, toi, sind die Werte bestens, und es hat den Anschein, dass da oben (er tippte sich lächelnd an den Schädel) nichts nachwächst. Trotzdem bleibt natürlich was zurück, psychisch meine ich. Das ist schon ein Warnschuss, der einen manches anders sehen lässt.«

Weber räusperte sich. »Ich jedenfalls habe daraus gelernt, wie kostbar das Leben ist und (er betrachtete seine leicht eingeschüchtert wirkenden Kinder) was für ein Geschenk es ist, so eine Familie zu haben. Und dafür nimmt man dann eben auch im Berufsleben manches in Kauf, was bei Lichte betrachtet vielleicht nicht ganz so schön ist.« Er räusperte sich, während sein rechtes Auge wieder heftig zuckte. »Ich meine meinen Job als Pleiteanwalt. Klar, da kommt man natürlich schon öfter mal ins Grübeln.«

Freimütig mit einem Anflug von Selbstironie erzählte Weber von seinen komplizierten Finanzoperationen, die immer das Ziel verfolgten, wohlhabende Geschäftsleute nach außen hin als bettelarm dastehen zu lassen, sodass Mitarbeiter und Gläubiger nach einem getürkten Konkurs leer ausgingen und die armen Schuldner in das weich gepolsterte Bett ihrer Ehefrauen in Kalifornien oder Monaco steigen konnten. »Man gewinnt natürlich nicht gerade an Ansehen, wenn man für diese Leute den Steigbügelhalter macht«, sagte er. »Wissen Sie, wie ich in Kollegenkreisen genannt werde?«

Mahnke schüttelte den Kopf.

»Pleitegeier, für diese ehrbaren Juristen bin ich nur der Pleitegeier. Aber sollen sie! Sollen sie ruhig lästern. Denn es ist ja vollkommen klar, was sich hinter solchen Sprüchen verbirgt: Neid, Herr Mahnke, nackter Neid, wissen Sie, hahaha. Nehmen Sie noch einen Schluck Kaffee, Herr Mahnke?«

Schließlich meldete sich Isabel-Jasmin zu Wort. »Können wir jetzt Video gucken, Mama? Das ist so langweilig hier.«

Alles schmunzelte – auch der immer noch stolze Vater. »Isa, mein Schatz«, erwiderte er, obwohl er gar nicht angesprochen war. »Ich rede und rede und merke gar nicht, dass hier einer nach dem andern einschläft vor lauter Langeweile. Aber sicher darfst du Video gucken, Isa. Und Rosi darf natürlich auch mit, wenn sie möchte. Aber nicht diese japanischen Zeichentrickfilme, die sind immer so grausam. Hört ihr?«

Er nahm seine Töchter nacheinander in den Arm und küsste ihnen die Stirn, Mahnke beobachtete, dass die beiden die zärtlichen Abschiedsgesten genossen, indem sie sich wohlig räkelten.

Während Paula Weber mit den Kindern abzog, wandte sich der Anwalt wieder den Gästen zu. »Sorry, aber wenn man so ins Plaudern kommt, vergisst man Raum und Zeit. Ihr habt gar nichts mehr auf euern Tellern. Esst doch noch ein Stück Torte. Ist zwar nicht selbst gebacken, aber frisch aufgetaut.«

Doch alle lehnten dankend ab, niemand hatte mehr Appetit auf das künstlich aromatisierte Zeug, das seine Supermarktherkunft nicht verleugnen konnte.

Weber zündete sich eine Zigarette an. »Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen«, sagte er entschuldigend. »Heutzutage muss man ja als Raucher schon mit einer Anzeige wegen Körperverletzung rechnen. Aber ich kann’s mir einfach nicht abgewöhnen, und hier auf der Terrasse stört es hoffentlich auch keinen. Oder?«

Niemand protestierte, als der Gastgeber einen tiefen Zug nahm und kleine Rauchwölkchen in die Luft blies. Höflichkeitshalber sprach Weber auch Sören an. »Ich hörte, Sie leben bei Ihrer Mutter in Langenhagen. Da locken ja wahrscheinlich schon die Reize der Großstadt Hannover, so mit Disko und Kino, was? Da ist es nicht so miefig provinziell wie hier bei uns in Walsrode, wie?«

»Sören ist ein großer Fußballer«, fiel Johanna ein.

Weber stieg sofort darauf ein. »Hey Mann, wo spielst du denn? Bei Hannover 96?«

»Nein, nur bei den Sportfreunden Silbersee in Langenhagen«, erwiderte Sören. Eigentlich hatte er gar keine Lust, mit diesem aufgeblasenen Typen über Fußball zu sprechen. Doch er konnte sich nicht dagegen wehren. Schließlich kam die Rede auch auf seinen Vater, der ja die Stelle eines Platzwartes angenommen hatte, um seinem Sohn nahe zu sein.

Damit wich der aufgesetzt heitere Konversationston beklemmender Ernsthaftigkeit. Wieder war es Sven Weber, der die allgemeine Verlegenheit durchbrach. »Wahnsinn«, kommentierte er nach einem lauten Seufzer, der Anteilnahme demonstrieren sollte. Dann wandte er sich direkt an seinen früheren Lehrer: »Das muss wirklich schlimm für Sie gewesen sein.«

Mahnke nickte, er überließ es Weber fortzufahren. »Jetzt, wo die Kinder weg sind, müssen wir ja keinen Bogen mehr um den heißen Brei machen: Also, Herr Mahnke, ich weiß natürlich auch nicht, wie es damals abgelaufen ist, aber ich vertraue Ihnen. Wenn jemand so lange seine Unschuld beteuert und dann auch noch den Mut hat, an die Stätte seines, sorry, angeblichen Verbrechens zurückzukehren, dann spricht das schon sehr für seine Glaubwürdigkeit.«

»Danke.«

Weber hob abwehrend die Hände. »Nichts zu danken, ich muss mich eher fragen, ob ich nicht schon viel früher etwas für Sie hätte tun können. Aber diese Sache ist ja damals wie eine Bombe hier bei uns eingeschlagen. Da kam man irgendwie gar nicht auf die Idee, Zweifel anzumelden. Schließlich habe ich zu Hause immer wieder gehört, dass der Fall klar und die Beweislage dicht ist. Mein alter Herr war ja leider einer von denen, die Ihnen den Strick gedreht haben. Und später hat man die Sache dann irgendwie verdrängt …«

»Klar, das ist doch verständlich«, sagte Mahnke. »Wie geht es eigentlich Ihrem Vater?«

»Gut. Gut für sein Alter, ziemlich gut sogar. Der ist vor drei Jahren pensioniert worden und verbringt jetzt fast jede freie Minute beim Angeln.«

»Warum nicht. Haben Sie in letzter Zeit mal wieder über, äh, die Sache gesprochen?«

Weber ließ die Aschesäule seiner Zigarette auf einen vergilbten Teller rieseln und schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon lange nicht mehr. Mein alter Herr hat irgendwie damit abgeschlossen, und ich hatte auch keine Lust, das alles wieder aufzurühren.« Sein rechtes Auge untermalte die Worte mit krampfartigem Zucken. »Aber das ist natürlich jetzt was anderes, wo Sie raus sind. Johanna hat mir schon erklärt, dass Sie alles daransetzen wollen, Ihre Unschuld zu beweisen, und Sie können davon ausgehen, dass ich Ihnen helfen werde – wenn es mir irgendwie möglich ist.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mahnke. Er war froh, dass es endlich zur Sache ging. »Aber es ist natürlich ungeheuer schwer, da den richtigen Ansatzpunkt zu finden – nach so vielen Jahren. Andererseits hatte ich natürlich auch viel Zeit, mir Gedanken zu machen, wie es eventuell wirklich abgelaufen sein könnte damals. Grundsätzlich gibt es ja zwei Möglichkeiten: Entweder wurde Annika von einem Außenstehenden umgebracht oder von einem Menschen aus ihrem und damit unserem Bekanntenkreis. Ich glaube, ehrlich gesagt, mehr an die letzte Möglichkeit. Es gab da bei den Zeugenaussagen ihrer Mitschüler und Freundinnen einfach zu viele Ungereimtheiten – zu viel, was bei näherem Hinsehen darauf hindeutet, dass etwas vertuscht werden sollte.«

»Was meinen Sie?«

Mahnke seufzte. »Ich glaube, es war allgemein bekannt, dass Annika keine Jungfrau war, bevor ich mit ihr, äh, intim geworden bin. Aber davon wollte am Ende keiner mehr etwas wissen. Nach diesem Vaterschaftstest schien allgemein festzustehen, dass ich das entscheidende Motiv gehabt hatte, sie umzubringen.«

»Vaterschaftstest?« Johanna starrte Mahnke mit fragendem Blick an. Auch Sören horchte auf.

»Na ja, das ging doch damals durch alle Zeitungen. Es wurde festgestellt, dass Annika im zweiten Monat schwanger war – und dass das, äh, Kind, wenn man überhaupt davon sprechen kann, von mir stammte. Das war es doch, was letztlich den Ausschlag gegeben hat. Wussten Sie das nicht?«

»Doch natürlich«, sagte Johanna. »Aber mir war nicht klar, dass ein Vaterschaftstest gemacht wurde.«

Mahnke nickte niedergeschlagen. »Einer der vielen Fehler, die ich gemacht habe, war, dass ich von mir aus nichts von dieser Schwangerschaft gesagt hatte. Und dann ist das alles über mich reingebrochen.«

Weber drückte seine Zigarette aus und lehnte sich augenzwinkernd zurück, während Johanna immer noch nicht zu begreifen schien, was dies alles bedeutete. »Ich habe natürlich so einiges darüber gelesen«, sagte sie. »Aber wie war es denn wirklich? Aus Ihrer Sicht, meine ich.«

»Na ja, das war alles schon ziemlich furchtbar«, fuhr Mahnke fort. »Irgendwann im April hat mir Annika eröffnet, dass ihre Regel ausgeblieben ist. Kurze Zeit später stand fest, dass sie schwanger war. Ich war natürlich entsetzt, hab sie gedrängt, das Kind abtreiben zu lassen. Aber das wollte sie nicht.«

»Sie wollte das Kind austragen und Sie dazu bringen, die Vaterschaft anzuerkennen?«

»Anfangs, ja. Aber das hätte natürlich verheerende Konsequenzen gehabt. Ich war ihr Lehrer, ich war jung verheiratet, gerade erst Vater geworden …«

Mahnke vermied es, Sören anzublicken, dem anzusehen war, wie ihn diese Enthüllungen aufwühlten.

»Tja, wie soll ich es ausdrücken?«, fuhr Mahnke fort. »Es kam zu einem Konflikt. Ich wusste tatsächlich nicht mehr ein noch aus. Aber ich wäre natürlich nie auf die Idee gekommen, Annika … Na ja, und dann hat sie eben auch selbst eingesehen, dass es das Beste wäre, die Schwangerschaft abzubrechen. Das war doch praktisch alles schon auf, äh, gutem Wege, wenn man das so sagen kann.«

»Hat sich Annika eigentlich jemandem anvertraut?«, fragte Johanna.

»Ja, ihrer Freundin Yvonne. Aber wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit. Dass sie am Ende das Kind abtreiben wollte, wusste sie wohl nicht. Zumindest hat sie davon dem Gericht nichts gesagt.«

Sören wirkte wie gelähmt, auch Weber und Johanna schwiegen. Mahnke setzte neu an. »Stattdessen hat sie vor Gericht ausgebreitet, dass Annika mich wegen ihrer Noten unter Druck gesetzt hat. Aber das ist alles Humbug, Blödsinn. Das spielte nie wirklich eine Rolle.«

Sören musste an Sabines Brief denken, in dem genau davon die Rede war. Warum übernahm Sabine die Sache mit den Noten, wenn es doch nur »Blödsinn« war? Sören war verwirrt.

»Ja. Yvonne«, fuhr sein Vater nachdenklich fort. »Ich hatte oft den Eindruck, dass sie Dinge aufbauscht, um vom Wesentlichen abzulenken. Warum hat sie zum Beispiel nichts über die Jungs gesagt, mit denen Annika geschlafen hatte, oder über ihre Verehrer, die es versucht haben und bei ihr abgeblitzt sind? Da ist einiges im Dunkeln geblieben. Alle, die was gegen Annika gehabt haben könnten, hatten plötzlich ein Alibi.«

 

»Zum Beispiel Heiko Hansen«, fiel Weber ein.

»Zum Beispiel Heiko, ganz genau.« Mahnke war erleichtert, dass sich das Gespräch von seiner eigenen Rolle in dieser Tragödie entfernte. »Ist ja kein Geheimnis, dass sein Vater und dieser Kommissar Hartmann gemeinsam auf die Pirsch gehen. Und Heiko hat doch schon einige Male bewiesen, wie schnell er die Beherrschung verliert und ausrastet …«

»Den hab ich übrigens gestern in Fulde getroffen«, teilte Johanna mit. »Da hat er sich mit der Motorsäge abreagiert.«

Mahnke schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Wir sollten uns jetzt aber nicht allein auf diesen Heiko einschießen. Ich schätze, da gibt es noch andere, die was zu verbergen haben …«

Daraufhin kam er auf Annikas Freundin Yvonne zurück, die mittlerweile in Hannover lebte, nannte Mitschüler und Freunde und auch ihre Eltern, mit denen sich Annika seinerzeit gar nicht verstanden hatte. »Aber da haben wir zurzeit natürlich überhaupt keine Chance. Die alarmieren sofort die Polizei und verlangen, dass ich wieder eingesperrt werde, wenn ich auch nur in ihre Nähe komme«, sagte er. »Ich glaube, wir kommen nur weiter, wenn wir versuchen, Annikas frühere Klassenkameraden zum Reden zu bringen.«

»Das wird nicht leicht sein«, sagte Sven Weber.

»Allerdings«, bestätigte Mahnke. »Das habe ich gemerkt. Gestern ist mir Frank Schnurrhahn in der Eckernworth über den Weg gelaufen. Der sah nicht gerade so aus, als wollte er zu meiner Rehabilitierung beitragen.«

»Ah, Schnurre, unser Onkel Doktor«, fuhr Weber auf, indem er sich eine neue Zigarette aus der Packung zog. »Der gehörte auch zu denen, die damals ein Auge auf Annika geworfen hatten.«

»Ja, aber der schaltet auf stur«, teilte Johanna mit. »Den habe ich auch schon angerufen. Hat sich sofort weitere Anrufe verbeten.« Die Journalistin nippte an ihrem Kaffee. »Interessant könnte auch Alexander Groß sein, dieser Hotelier. Der war mit Annika bis kurz vor ihrem Tod zusammen. Vielleicht sollten wir dem einfach mal auf die Bude rücken. Der hat ja erst vor einigen Jahren am Lönsgrab in Uetzingen ein neues Hotel aufgemacht. Auf mich ist der wahrscheinlich noch immer nicht gut zu sprechen. Ich habe vor einigen Monaten eine längere Sache über das Grab von Hermann Löns geschrieben und öffentlich bezweifelt, dass die Gebeine des berühmten Heidedichters wirklich in dem schönen Grabhügel am Wacholderhain ruhen.«

»Damit haben Sie sich aber alle Löns-Freunde in der Heide zu Todfeinden gemacht«, sagte Mahnke. »Wie kommen Sie denn zu dieser kühnen Behauptung?«

»Kühne Behauptung? Eine kühne Behauptung ist es eher, anzunehmen, dass die sterblichen Überreste von Löns wirklich hier in Uetzingen liegen. Denn fest steht, dass der Heidedichter in Frankreich in einem Massengrab beigesetzt worden ist, nachdem er dort im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Erst die Nationalsozialisten haben ihn 1934 ausgebuddelt. Angeblich, so war es im ›Völkischen Beobachter‹ zu lesen, hat ein französischer Bauer Löns’ Knochen beim Pflügen entdeckt. An der Kennmarke sei er identifiziert worden, hieß es. Aber diese Kennmarke stellte sich später als äußerst windiges Beweisstück heraus. Die entscheidenden Angaben waren nämlich darauf gar nicht mehr zu entziffern. Und so wurde dann nichts aus dem Staatsbegräbnis, das Adolf Hitler bereits für den Blut-und-Boden-Dichter angeordnet hatte – mal ganz davon abgesehen, dass der anfangs gewählte Begräbnisort, die ›Sieben Steinhäuser‹, nicht mehr in Frage kam, weil dieses Hünengrab plötzlich auf dem Gebiet des neuen Truppenübungsplatzes lag, den Hitler in der Heide anlegen ließ. Kurz und gut: Nach einigem Hin und Her mit SA-Ehrenwachen und Sargaufbahrungen an unterschiedlichen Orten wurden die angeblichen Löns-Gebeine schließlich 1935 mit militärischen Ehren und großem Brimborium im Tietlinger Wacholderhain bei Walsrode beigesetzt. Und, um es noch mal zusammenzufassen: Man muss schon ziemlich naiv sein, zu meinen, dass die hier beigesetzten Knochen einmal dem Herzensbrecher Hermann Löns gehorchten.«

»Irre«, kommentierte Weber. »Aber da kann man sich wirklich vorstellen, dass Alexander nicht sehr begeistert auf deine Enthüllungsgeschichte reagiert hat, Johanna. So was ist natürlich geschäftsschädigend für den.«

»Das kann man wohl sagen. Er hat mir am Telefon vorgerechnet, welchen Schaden ich ihm und der Region zufüge, wenn die Löns-Touristen künftig wegbleiben – schon die vielen Busgesellschaften, die zu ihm kommen. Aber das war alles Quark. Denn die Lüneburger Heide ist ja nicht nur durch diesen Grabhügel mit Löns verbunden, und außerdem dürfte die Löns-Legende sowieso langlebiger sein als meine Geschichte im ›Forum‹. Trotzdem, du hast vollkommen recht, Herr Groß ist wahrscheinlich immer noch nicht besonders gut auf mich zu sprechen.«

»Auf mich ist er wahrscheinlich auch nicht so gut zu sprechen«, sagte Mahnke. »Trotzdem finde ich, dass wir ihm einen Besuch abstatten müssen, wenn wir weiterkommen wollen. An diesem Löns-Hotelier führt kein Weg vorbei.«

Johanna wandte sich an Sven Weber: »Hast du eigentlich noch Kontakt zu deinem alten Mitschüler?«

»Geschäftlich, ich helfe ihm ein bisschen beim Kampf durch den Paragraphendschungel, er hat es ja nötig, steckt ganz schön tief drin im Sumpf.«

»Entschuldige bitte, dass ich so direkt nachfrage«, setzte die Journalistin nach. »Wie war eigentlich damals dein Verhältnis zu dieser Annika?«

»Mein Verhältnis? Ach, weißt du, da gab es eigentlich kein Verhältnis.«

Es ging schon auf sechs Uhr zu, als Mahnke vor dem Wacholderhain in Uetzingen parkte. Nach dem Besuch bei Weber hatten sich die drei spontan entschlossen, gleich auch Alexander Groß einen Besuch abzustatten und vorher zum Lönsgrab zu spazieren. Auch wenn der Heidedichter hier nicht begraben lag – von dem Wacholderhain am Hilligenberg ging eine mythische Schönheit aus, wie Mahnke sich eingestehen musste. Besonders jetzt im September. Die Heide war zwar schon verblüht, verlieh der kargen Hügellandschaft aber immer noch einen lilafarbenen Glanz. Im milden Licht der Abendsonne nahmen sich die einzeln stehenden Birken und Wacholderbüsche wie sagenhafte Tiere auf einem Gemälde aus.

Mahnke, Sören und Johanna waren nicht die Einzigen, die an diesem Sonnabendabend zum Grabhügel pilgerten. Mehrere Gruppen spazierten vom Parkplatz zur fünfhundert Meter entfernten Löns-Gedenkstätte über einen Wanderweg, der oberhalb des Böhmetals entlangführte. »Hier ruht Hermann Löns«, war allen Zweiflern zum Trotz auf einem riesigen Findling zu lesen, der auf einem Hügel über der sanft geschwungenen Heidelandschaft thronte.

Johanna zeigte auf eine germanische Rune, die unterhalb der Inschrift in den Stein eingeritzt worden war. »Da haben die braunen Totengräber ihre Signatur hinterlassen.«

»Sie sind aber wirklich sehr kritisch«, entgegnete Mahnke. »Ist doch im Grunde genommen ganz egal, ob Löns’ Knochen hier im Heidesand modern oder nicht. Sein Geist ist hier auf jeden Fall irgendwie lebendig in dieser schönen Landschaft, finde ich. Der ganze Wacholderhain ist doch ein einziges Löns-Gedicht.«

»Da haben Sie recht«, sagte Johanna. »Aber der Grabstein ist vollkommen überflüssig – zumal es ja auch noch eine Löns-Gedenkstätte gibt.«

Daraufhin führte sie ihre beiden Begleiter zu einem Sandstein-Monument, das sich wie ein Altar auf einem anderen Heidehügel erhob. »Dem Dichter, der hier einst geweilt«, war darauf zu lesen. Auf der Rückseite war eine Metallplatte mit den bekannten Zeilen eingelassen:

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