Das Mädchen im Moor

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Freitag, 7. September 2007, Langenhagen

Er rannte, keuchte, schwitzte, spielte sich frei, ließ den Pass auf sich zukommen, stoppte den Ball, zirkelte ihn an zwei, drei gegnerischen Abwehrspielern vorbei – und schoss. Dem Torwart blieb keine Chance, unmittelbar unter der Latte schlug der Ball ins Netz.

»Nicht schlecht, Alter.« Markus bekräftigte das Kompliment, schlug Sören freundschaftlich auf die Schulter.

Sören war stolz. Es war zwar nur ein Trainingsspiel, aber er spürte, dass er gut in Form war, super in Form. Ein Mann am Seitenrand nickte anerkennend. Kurz vor Trainingsbeginn hatte der Mann noch Rasen gemäht. Es schien der neue Platzwart zu sein. Ein großer, hagerer Kerl von ungewöhnlich blasser Gesichtsfarbe, wie Sören auffiel. Seine Haare waren schon grau, fast weiß, doch bei näherem Hinsehen erkannte man, dass der Mann jünger war, als die Haare erwarten ließen. Besonders die Augen deuteten darauf hin, dass er vom Rentenalter noch weit entfernt war. Sören schien es, als würden sie ihm zulächeln. Komisch, schon von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, als wollte der Kerl etwas von ihm. Regelrecht angestarrt hatte der ihn, als er vor drei Wochen das erste Mal während des Trainings auf dem Platz gewesen war.

»Ey, was is’n los? Träumst du, Alter?« Simons Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. Er hatte gar nicht gemerkt, dass das Spiel weiterlief.

Mathias Mahnke war wie gebannt. Er sah sich außerstande, seinen Blick von diesem rotblonden Jungen mit dem gelben Trikot abzuwenden, der mit dem Ball umgehen konnte wie kein Zweiter auf dem Platz. Wieselschnell, athletisch, elegant, ausdauernd. Wie der sich den Ball erkämpfte, flankte oder aus zwanzig Metern Entfernung das Leder ins Tor beförderte, mit einem Schuss, der gleichzeitig kraftvoll und präzise war. Wahnsinn! Mahnke konnte es nicht fassen, empfand Freude und Stolz bei all seiner Nervosität.

Von wem er das wohl hat?, ging es ihm durch den Kopf. Von wem wohl? Von mir bestimmt nicht, ich bin nie ein großer Fußballspieler gewesen.

Aber es war keine Frage: Der große, breitschultrige Junge war sein Sohn. Anfangs hatte er noch gezweifelt. Aber als er dann noch mal die Fotos betrachtet und später mit dem Original verglichen hatte, stand es fest. Es war Sören. Sein Fleisch und Blut, wie man so sagte.

Er spürte, dass der Junge seinen Blick erwiderte, fühlte sich ertappt, blickte in eine andere Richtung. Aber im nächsten Moment fragte er sich, was das für einen Sinn machte. Und er sah zurück, sah seinem Sohn in die Augen. Er war wie elektrisiert. Sören war anzusehen, dass es ihn verunsicherte, so angestarrt zu werden. Doch sein Gesichtsausdruck hatte nichts Abweisendes. Er war offen. Das gefiel Mahnke. Seine Erstarrung löste sich, wandelte sich in ein Lächeln.

Ihm war, als würde die Zeit stillstehen. Die Sekunden dehnten sich. Dann aber wurde Sören von einem Mitspieler ins Spiel zurückgeholt, und der Platzwart nahm seine Harke und harkte weiter das trockene Gras zusammen. Das war schließlich sein Job.

Mahnke fasste sich an die Stirn. Ein Schwindelgefühl. Die Eindrücke waren so stark, dass sie ihn fast umwarfen. Vier Wochen zuvor erst war er aus dem Gefängnis entlassen worden, aus der Justizvollzugsanstalt Celle, dem Knast für Schwerverbrecher. Sicher, er hatte schon seit einem Jahr Ausgang gehabt, war in den letzten Monaten im offenen Vollzug gewesen. Aber nun auf einmal wieder allein auf eigenen Füßen zu stehen, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes.

Zum Glück stand ihm seine Schwester zur Seite. Sabine hatte für ihn eine kleine Wohnung in Hannover gemietet und auch den Kontakt zu dem Sportverein in Langenhagen hergestellt. Vor allem hatte sie für ihn herausgefunden, dass Sören in diesem Verein Fußball spielte – sein Sohn Sören, den er bisher nur von Fotos kannte. Welch Glück, dass die Sportfreunde Silbersee gerade jetzt auf der Suche nach einem Platzwart gewesen waren. Vor allem: Dass sie ihn genommen hatten, den entlassenen Sträfling, den verurteilten Mörder. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.

Plötzlich fliegt ein Ball an ihm vorbei. Mahnke reagiert sofort, lässt seine Harke fallen, läuft dem Ball hinterher und schießt ihn zurück aufs Spielfeld, nicht etwa mit der Fußspitze, sondern, wie er es einmal gelernt hat, mit dem Innenrist – und er schießt den Ball nicht irgendwohin, sondern direkt auf Sören zu. Der stoppt das Leder, hebt in Mahnkes Richtung die Hand und ruft »Danke«.

Mahnke ist überwältigt – und noch entschlossener als zuvor, die Gelegenheit zu nutzen. Nach dem Training will er Sören ansprechen. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, nein, das wäre zu viel, aber auf jeden Fall einen ersten Kontaktversuch wagen.

Er muss nicht lange warten.

»Schluss für heute, Leute«, ruft der Trainer nach wenigen Minuten, und Mahnke schlendert so unauffällig wie möglich in Richtung des Sportlerheims, wo die jungen Spieler gleich die Umkleidekabinen ansteuern und seinen Weg kreuzen werden.

Er spürt, wie sein Pulsschlag heftiger wird, wie ihm das Blut bis in die Fingerspitzen schießt, die Hände feucht werden, doch er müht sich, die Aufregung niederzukämpfen, es möglichst beiläufig wirken zu lassen, als Sören näher kommt und er die Chance erhält, ihn anzusprechen.

»Sah nicht schlecht aus, Kompliment. Wenn du im Spiel genauso gut bist wie beim Training, können eure Gegner einpacken …«

Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus.

Der Angesprochene ist verunsichert. »Danke.«

Mahnke lächelt. »Wirklich, ich glaub, du hast Talent, Sören, du spielst großartig.«

Sören ist anzusehen, dass ihn die Ansprache irritiert. Woher kennt der Typ seinen Namen? Doch dann fällt ihm ein, dass seine Mitspieler ihn ja ständig beim Training mit seinem Namen anrufen, und seine Verwunderung legt sich. Aber schon während er unter der Dusche steht, fragt er sich, warum dieser Mann ein solches Interesse an ihm zeigt.

Sonntag, 9. September 2007, Langenhagen

Kevin ging mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Ein Abwehrspieler des SV Linden hatte ihn mit voller Wucht in die Beine getreten. »Brutale Sau«, riefen sie am Seitenrand, »Rote Karte«. Doch der Schiedsrichter ließ weiterspielen.

Es ging auf die Halbzeit zu. Die Anfeuerungsrufe wurden lauter, die Fouls härter. Gerade hatte der SV Linden einen Ausgleichstreffer erzielt, es stand 2:2. Das hätte nicht passieren dürfen. So viele Gegentore! Auf eigenem Platz! Bei einem Gegner, der schon seit Jahren als Punktelieferant galt.

Sören beobachtete im Rückwärtsschritt, wie sich ein Mitspieler mit dem Ball aus einem Knäuel herauskämpfte, stürmte zur Seitenlinie, verfolgte den geglückten Pass, rief Simon an, um das Leder zu übernehmen – und fing die Flanke auch schon im nächsten Moment ab. Ohne zu zögern, trieb er den Ball weiter in Richtung Tor, umspielte einen Abwehrspieler, hielt Ausschau nach einer Abspielmöglichkeit und dribbelte, da er niemanden fand, weiter, um eine Schussposition zu finden. Schließlich entdeckte er eine Lücke und hielt aufs Tor zu. Ein Abwehrspieler jedoch hechtete in die Schusslinie und beförderte den Ball hinter die Torlinie. Immerhin Eckstoß.

»Bravo«, rief da jemand. »Bravo, Sören.« Es war der Platzwart, der jetzt beim Punktspiel eine schwarze Baseballkappe trug, um sein blasses Gesicht vor der Sonne zu schützen.

Sören fiel auf, dass sich der Mann weit entfernt vom Anhang der Langenhagener aufhielt, näher bei den Vätern und Müttern der Lindener. Im Pulk der Langenhagener entdeckte Sören auch seine Mutter. Wie üblich war sie mit Tobias gekommen. Sie lehnte an der Absperrung. Aber anders als sonst zeigte sie kein Interesse am Spielgeschehen. Zorn, Entsetzen spiegelte sich im Blick der braunhaarigen, dezent geschminkten Frau, die in ihrem weißen Hosenanzug ausgesprochen elegant wirkte. Was hatte sie nur? Immer wieder richteten sich die Augen von Sibylle Häcking für den Bruchteil einer Sekunde auf den Mann an der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds, und wer dicht neben ihr stand, hätte bemerken können, dass sie die Lippen aufeinanderpresste und vor Entrüstung bebte.

Was ging da vor? Sören spürte, dass etwas nicht stimmte, zwang sich aber, seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zuzuwenden. Denn gerade in diesem Augenblick führte ein Mitspieler den Eckstoß aus, und Kevin gelang es, den Ball mit dem Kopf ins Tor zu lenken. 3:2. Der Jubel war groß.

Mathias Mahnke hatte sie sofort entdeckt. Sie war kaum gealtert. Eine attraktive Erscheinung, ohne Frage. Der Junge, der neben ihr stand und sie drängte, ihr Portemonnaie zu öffnen, war vermutlich Tobias, ihr Sohn, Sörens fünf Jahre jüngerer Halbbruder, der Tobi genannt wurde, wie Mahnke von seiner Schwester wusste.

»Klasse, Sören.« Er konnte nicht anders, als seine Begeisterung herauszuschreien. Als er jedoch auf die andere Seite blickte, um zu sehen, wie Sibylle Häcking auf ihren talentierten Sohn reagierte, sah er in die Augen einer Fassungslosen. Wie ein Bannstrahl traf ihn dieser Blick. Doch er hielt stand, spürte, dass es kein Zurück mehr gab, wandte sich wieder dem Fußballspiel zu und nahm sich vor, gleich in der Pause den Schritt zu tun, der unvermeidlich war.

Behutsam nähert er sich dem Anhang der Langenhagener, lässt sich von Männern grüßen, die ihn bereits beim Rasenmähen gesehen und als neuen Platzwart identifiziert haben, hält auf Sibylle Häcking zu, die mit mehreren Frauen an der Getränkebude steht, einen Becher mit Mineralwasser in der Hand, schweigend und außerordentlich nervös, wie ihm auffällt. Schließlich löst sie sich von den anderen Müttern, um zur Toilette zu gehen. Kurz vor den Toiletten fängt Mahnke sie ab.

 

»Hallo, Sibylle.«

Die Angesprochene zuckt zusammen. Ihr Gesichtsausdruck wirkt gehetzt. »Was willst du hier?« Eine einzige Zurückweisung drückt sich in der Frage aus. Eine verbale Ohrfeige.

»Ich wollte nur …«

»Verschwinde«, zischt sie ihm zu, das Gesicht ist wutverzerrt, die Unterlippe bebt vor Zorn. »Verschwinde aus meinem Leben.«

»Sibylle, bitte, ich …«

»Lass mich in Frieden, bitte.« Sie betont jedes einzelne Wort, jedes Wort, jede Silbe ein Schlag in die Magengrube. »Was fällt dir ein, hierherzukommen?!«

»Aber ich …«

»Hau ab, hau sofort ab.«

Der Wortwechsel bleibt den Umstehenden nicht verborgen. Mahnke fühlt sich beobachtet, von argwöhnischen, feindseligen Blicken durchbohrt. Er stiehlt sich davon. Immer schneller werden seine Schritte. Am liebsten würde er laufen, rennen. Nur weg, nur weit, weit weg.

Sören wundert sich, dass er den Platzwart nach der Halbzeitpause nicht mehr sieht. Seine Mutter wirkt weiterhin verstört, fast aufgelöst. Entgegen ihrer Vorsätze zündet sie sich noch auf dem Sportplatz eine Zigarette an und saugt den Rauch mit tiefen Zügen und zitternden Händen ein. Dabei starrt sie mit einem so leeren Blick aufs Spielfeld, dass sie gar nicht mitbekommt, dass es am Ende 4:2 für die Sportfreunde Silbersee steht und ihr Sohn ein umjubeltes Tor geschossen hat.

»Was war denn los?«, fragte er, als er am frühen Abend nach Hause kam und sich noch schnell eine Tiefkühlpizza in den Backoffen schieben wollte.

»Warum? Was …, was soll denn los gewesen sein?«

»Also, Mama, echt, du hast ausgesehen, als hätte dir einer dein Todesurteil verkündet.«

»Wie bitte? Was soll denn das? Ich weiß gar nicht, was du …«

»Also, wirklich, wenn du denkst, du kannst mich für blöd verkaufen, dann …« Er bemerkte, wie sie hektisch den Kopf bewegte, wie ihre Augen flackerten. Wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus fragte er: »Hat das vielleicht mit dem neuen Platzwart zu tun?«

Es gelang ihr nicht mehr, ihre Bestürzung zu überspielen. Sie knetete nervös die Hände, ihre Augen flackerten, sie rang nach Luft und passenden Worten. »Also, ich, ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht jetzt nicht, wir können später darüber reden, später – wenn Tobi im Bett ist. Dann, äh, dann können wir darüber reden. Ich komm zu dir ins Zimmer. Ja? So, äh, gegen neun?«

»Okay.«

Wie geplant machte sich Sören über seine Pizza her. Doch mit seinen Gedanken war er bei der rätselhaften Begebenheit auf dem Fußballplatz. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich auf die Geschichtsklausur vorbereitete. Aber das war sinnlos. So angestrengt er auch die Quellentexte zum Nationalsozialismus las, er begriff gar nicht, worum es ging. Schließlich öffnete sich die Tür, und seine Mutter befreite ihn von der mühsamen Lektüre.

Eine Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. Senkrecht und tief. Alles an ihr verriet ein verzweifeltes Bemühen, die Fassung zu bewahren. Sie ließ sich auf einem Sessel nieder und faltete die Hände, als wollte sie beten, dabei blickte sie Sören bekümmert an. »Ich muss dir was erzählen, Sören«, begann sie. »Es fällt mir nicht leicht, wirklich nicht, aber es hat einfach keinen Sinn, länger einen Bogen darum zu machen. Das wird nicht einfach für dich sein, mein Junge. Versprich mir also, dass du mich nicht verdammst, wenn …«

Dann musste sie schlucken und ihre Stimme erstarb in heftigem Schluchzen. Wenig später erfuhr Sören, dass er mit einer Lüge aufgewachsen war. Dass sein Vater nicht gestorben war, sondern im Gefängnis gesessen hatte. Wegen Mordes an einer Schülerin.

Montag, 10. September 2007, Bad Fallingbostel

Uwe Hartmann war ein geduldiger Mensch. Auf seiner Dienststelle, der Polizeiinspektion Soltau, galt er als einer, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt – weder die manchmal etwas gleichgültigen bis schlampigen Kollegen, noch die oft sehr aufgeregten Beteiligten der üblichen Kriminal- oder Verkehrsunfälle. Auch im Kreise seiner Familie bewahrte der Kriminalhauptkommissar normalerweise die Ruhe, auch wenn seine Frau Gudrun und seine Tochter Sarah hektisch durchs Haus rannten und wüste Flüche, wenn nicht gar Beschimpfungen ausstießen. Normalerweise.

Dieser Zustand aber konnte leicht aus dem Gleichgewicht geraten, wenn Hartmann einmal wieder im Begriff war, seiner großen Leidenschaft nachzugehen: der Jagd. Dann nämlich geschah es nicht selten, dass er bei den häuslichen Vorbereitungen von seiner Frau belächelt und verhöhnt und von seiner Tochter als »Mörder« beschimpft wurde – und zwar so hartnäckig, dass er irgendwann die Fassung verlor.

So war es auch an diesem Montag, einem milden Septemberabend kurz vor sechs Uhr. »Mein Gott, kannst du nicht einmal deine blöden Kommentare für dich behalten«, herrschte er Sarah an, als sie ihn in ihrer bissigen Art gefragt hatte, ob wieder die Mordlust in ihm erwacht sei.

»Ich weiß, dass du mich dämlich findest«, erwiderte Sarah. »Aber ich finde dich abartig, wie du da in dem komischen grünen Pullover und der Bundeswehrhose rumläufst und glänzende Augen kriegst, wenn du deine Knarre streichelst wie so ’n Berufskiller. Abartig! Echt!«

»Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Bitte?«

»Ich hab gesagt: ›Du hast sie nicht mehr alle‹ – und dazu steh ich, ich hab einfach keine Lust mehr, mich von einer durchgeknallten Zicke wie dir beleidigen zu lassen.«

»Häh? Durchgeknallte Zicke? So gehst du also mit Kritik um, du verkappter Sadist.«

»Nicht zu glauben! Weißt du, was du bist? Eine Hexe, eine giftige kleine Hexe.«

»Was ist denn hier los?« Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Gudrun Hartmann dazu. Die Grundschullehrerin hatte gerade Diktate korrigiert.

»Papa findet, dass ich eine Hexe bin«, sagte Sarah. »Eine giftige Hexe sogar.«

»Bitte?« Gudrun Hartmann sah ihren Mann an, als habe er die gemeinsame Tochter brutal geschlagen.

»Ich weiß, ich weiß, ich bin wieder der Bösewicht«, klagte Hartmann beleidigt. »Sarah darf mich als Mörder beschimpfen, und wenn ich mich wehre, dann …«

»Also bitte, komm mal runter, entspann dich, Uwe.« »Kommt ihr mal runter. Ich bin es langsam leid, mich hier maßregeln zu lassen, nur weil ich alle paar Wochen mal zur Jagd geh. Du weißt, dass ich das als aktiven Naturschutz …«

»Zur Jagd?« Gudrun Hartmann tat, als verstehe sie die Welt nicht mehr. »Davon weiß ich ja noch gar nichts. Heute Abend ist doch Elternabend, wir hatten doch schon vor zwei Wochen besprochen, dass du da hingehst. Du weißt doch, dass ich nicht kann, weil ich selbst Elternabend habe. Hast du das etwa vergessen?«

»Elternabend? Ich weiß von keinem Elternabend.«

»Typisch«, fauchte Sarah dazwischen. »Er weiß wieder mal von nichts. Wenn er an seine Ballerei denkt, ist alles andere ausgelöscht.«

»Halt die …«

»Sag mal«, fuhr Gudrun dazwischen. »Was ist das denn für ein Ton? Ich glaube wirklich, du bist etwas überreizt. Da sollte man sowieso besser nicht mit ‘ner Waffe losziehen.«

»Ein Elternabend bietet aber wahrscheinlich auch nicht die passende Entspannung«, entgegnete Hartmann.

Doch im nächsten Moment hielt ihm seine Frau schon den Wandkalender vor die Augen, wo für den 10. September tatsächlich nicht »Jagd«, sondern »Elternabend« eingetragen war – und zwar mit dem Zusatz »Uwe«.

Uwe aber war bereits in seine Jägermontur mit dem olivfarbenen Pullover und der reißfesten Hose geschlüpft und zu keinen Zugeständnissen bereit. »Dann schwänzen wir den Elternabend heute eben mal«, schlug er schon leicht schuldbewusst vor. »Da wird sowieso immer nur dumm rumgelabert.«

»So einfach kann man sich’s natürlich auch machen«, erwiderte Gudrun, und Sarah höhnte: »Ich glaube, seine Mordlust ist einfach schon zu stark, das kann man den anderen Eltern vielleicht wirklich nicht zumuten.«

Uwe Hartmann wollte seine Tochter zuerst noch zurechtweisen, entschloss sich dann aber, mit einem gegrummelten »Ihr könnt mich alle mal« den beiden Frauen den Rücken zuzukehren.

Wenige Minuten später stiefelte er auch schon mit »Amigo« zu seinem Geländewagen. Der zum Stöberhund ausgebildete Dackel sah mit seinen Schlappohren und Triefaugen genauso bedröppelt aus wie sein Herrchen.

Uwe Hartmann hatte einen Monat zuvor seinen 54. Geburtstag gefeiert, war also nicht mehr der Jüngste. Doch er hatte sich gut gehalten. Sein dunkelblondes Haar war noch voll und nur von wenigen grauen Fäden durchzogen, er war zwar nicht mehr ganz so schlank wie in der Zeit, in der er noch Fußball gespielt hatte. Doch es war ihm immer noch gelungen, seinen kleinen Bierbauch unter großzügig bemessenen Hemden oder weiten Pullovern zu verbergen. Zehn Jahre zuvor hatte er mit seiner Familie ein nagelneues Haus im Neubaugebiet von Fallingbostel bezogen, der alten Kreis- und Kurstadt, die sich neuerdings »Bad Fallingbostel« nennen durfte. Schon viele Jahre zuvor hatte Hartmann, ein Bauernsohn aus einem nahe gelegenen Heidedorf, sich der Jagdgenossenschaft Düshorn angeschlossen, dem einzigen Verein, dem er angehörte – von den Grünen vielleicht einmal abgesehen. Aber das war natürlich eine Partei, kein Verein. Nein, Feuerwehr und Schützenverein waren nicht sein Ding, ihm reichten die Uniformen, die er auf seiner Dienststelle zu sehen bekam, und er schätzte sich glücklich, seit der Versetzung zur Kripo seiner Arbeit in Zivil nachgehen zu dürfen.

An diesem Tag hatte er sich mit seinen Jagdkollegen zu einer kleinen Stokeljagd im Düshorner Wald verabredet. Paar Hasen, Kaninchen, vielleicht ein Fuchs. Mit einer größeren Strecke war nicht zu rechnen.

Die anderen Jäger, so um die zehn Männer zwischen achtzehn und achtzig und eine junge Frau, standen mit ihren jaulenden, fiependen Hunden schon auf dem Waldparkplatz herum, als er vorfuhr. Aus Fulde war auch Bauer Hansen zu Gast. Als Hartmann den stämmigen Kreislandwirt in seinem Lodenmantel bemerkte, fiel ihm ein, was er Ende vergangener Woche in seiner Dienststelle erfahren hatte: Mahnke war wieder auf freiem Fuß – dieser Studienrat, den er damals wegen des Mordes an der Schülerin hatte einbuchten lassen.

Er war von seinen Vorgesetzten sehr dafür gelobt worden. Schon nach zwei Wochen hatte die Soko »Moorsee«, deren Chef er war, den Fall aufgeklärt. Die Indizien waren so dicht, dass der anschließende Prozess reine Formsache gewesen war. Auch Heiko Hansen, der Sohn seines Jagdfreundes aus Fulde, war am Rande in den Fall verstrickt gewesen – der Bauernsohn ging mit Annika in eine Klasse, hatte angeblich zeitweise ein Auge auf sie geworfen und wohnte auch nicht weit vom Tatort entfernt. Doch nach einer mehr routinemäßigen Überprüfung war der Junge aus dem Schneider gewesen. Sein Vater hatte bezeugt, dass er zu der fraglichen Zeit auf dem Hof geholfen hatte.

Hartmann fühlte sich verpflichtet, den Waidgenossen über die letzte Entwicklung der lange zurückliegenden Geschichte in Kenntnis zu setzen, während er mit ihm ins Revier ging, um eine Schützenlinie zu bilden.

Hansen zeigte sich empört. »Was? Der Kerl ist schon wieder draußen? Ich dachte, der hat lebenslänglich.«

»Lebenslänglich heißt ja nicht ein Leben lang«, erläuterte Hartmann. »Nach fünfzehn, sechzehn Jahren haben die normalerweise die Chance, vorzeitig rauszukommen, wenn nichts dagegen spricht. Und Mahnke hat mittlerweile knapp siebzehn Jahre abgesessen, da ist es nicht ungewöhnlich, dass er wieder rauskommt.«

»Siebzehn Jahre? So lange ist das schon her?«

»Ja, Heinrich, die Zeit vergeht.«

»Von mir aus brauchten sie diese Kerle gar nicht wieder rauszulassen«, sagte Hansen. Er stieß einen schweren Seufzer aus. »Hoffentlich geht das jetzt nicht wieder von vorn los.«

»Wieso? Der Fall ist doch abgeschlossen.«

»Klar, aber der Mahnke hat doch nie gestanden, dass er’s war. Hoffentlich spielt der jetzt nicht verrückt.«

Hartmann spürte, dass die Neuigkeit den Jagdgenossen nicht kalt ließ. Als wenig später keine zwanzig Meter vor Hansen ein Kaninchen vorbeirannte, starrte der erfahrene Jäger geistesabwesend ins Leere. Er horchte erst auf, als ein anderer einen Schuss abgab.