Die Armen

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Auch Karl Balrich sah einen seiner Finger in Leinen gewickelt, er prüfte ihn, die Brauen gefaltet, unter dem Tisch. Jeder in diesem Augenblick hatte ein Gesicht, das den allertiefsten Ernst des Lebens trug. Da, in einer Stille, sagte Balrich:

»Das hat seine Zeit, und dann kommt die Gerechtigkeit.«

»So ist es!« sagten sie, und ein Geschwirr entstand, aus leisen Zustimmungen, den halben Lauten der Gläubigkeit. Auf dem Wege sind wir, zur Gerechtigkeit, – und sähest du täglich mehr, daß er lang ist, gezählt sind die Tage der Reichen. Wir werden, mit dem was jetzt sie uns kosten, selbst reich sein, alle; werden in gelüfteten Sälen gemeinsam unser gutes Essen haben, und Maschinen, die uns gehören, arbeiten für uns. Mit jenen aber wird es aus sein. Wäre dem anders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

Das tun wir nicht, weil wir vernünftiger sind als sie. Wir können frei aufatmen, so, ganz frei, mitten in unserer Stickluft, denn bei uns sind Vernunft und Zukunft. Ihr dort seid erblindet durch den Besitz, ihr wißt nicht einmal mehr, was ihr in Händen habt. Wer unter euch schätzt das Wissen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn vergessen, in eurem Fett. Wir, wir begreifen, daß er es ist, der die Welt erobert, und daß er auch wieder ihr Ziel ist. Jede Bibliothek, die wir zusammenbringen oder abringen eurem Geiz, ist ein Wegmal für unsere Heraufkunft und euren Untergang.

Dinkl, mit einem Luftsprung von seinem Sitz auf, rief aus:

»Nichts freut mich, wie die hunderttausend Mark, die ihn die Bibliothek kostet!«

Und alle frohlockten über diese Niederlage des Generaldirektors. Kämpfe freilich kostete noch die Verwaltung der Bibliothek, denn satzungsgemäß stimmten auch Beamte beim Ankauf der Bücher, und verhinderten, soviel sie konnten, die Aufnahme der Parteischriften. Herbesdörfer schmunzelte, tief befriedigt. Seit gestern hatte er, sicher verschlossen in seinem Zimmer, »das Kapital«.

Da betrachtete Balrich ihn, sein armes grobes Gesicht, das verriegelt aussah und hinter seiner großen Brille immer in Anstrengung und Angst schien, ob es nicht endlich sich öffnen, klarsehen und begreifen werde, sein tapferes, vergeblich ringendes Gesicht.

»So steht es um uns,« fühlte Balrich. »Wir sind zu schwach, obwohl wir die Stärkeren scheinen. Die Bücher, mit denen Ausbeutung und Elend zu besiegen wären, liegen in unserer Lade, wir aber sitzen hier, verbraucht vom Knechtstum der ganzen Woche und ohne Handhabe, um unsere Waffen nutzen zu lernen. Kommt dennoch einer von uns dahin, die wissenschaftlichen Werke zu erfassen, seinen Kindern kann er es darum nicht leichter machen. Wir bleiben, wo wir sind. Trachten wir das Glück zu genießen, das Armut uns erlaubt!«

Hier erinnerte er sich, daß ein Mädchen auf ihn wartete – sein Mädchen, wenn er wollte. Aber wollte er, und mußte es diese sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drüben, hätte sich fast daran niedergelassen, – und als er dann hinausgelangte, stand dort hinten unter der Friedhofmauer schon das Mädchen. Sie stand in ihrem braunen Tuch ein wenig gebeugt, als wartete sie seit einiger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war. »Thilde!« rief er aufmunternd, worauf sie ihm ein Gesicht zeigte, das voll Gram war. Er kam aber so mutig herbei, breit, spannkräftig und fest, mit dem dunkeln Schopf unter der Mütze hervor, so wohlgeraten kam er, daß sie ihm dennoch entgegenlächelte.

»Warst du schon drinnen?« fragte er gedämpft und wies nach der Friedhofpforte.

Sie nickte. »Mein Kleines hat alles was es braucht. Wenn auch wir das hätten.«

»Das sollst du nicht sagen,« verlangte er; und zarter: »Gehen wir noch einmal hinein?«

Da sie den Kopf schüttelte, bestand er nicht darauf. Es machte nur traurig, und hatten sie nicht beide mehr vor als hinter sich? »Komm fort!« sagte er bestimmt, nahm ihren Arm und ging schneller. Im Schatten der Mauer, von der Büsche hingen, drängte sie sich an ihn mit den Hüften. Sie waren breit, die Brust voll, und dazu das magere Gesicht, aus dem sie bange zu ihm aufsah.

Am Ende der Mauer pfiff sogleich der Wind. Balrich wickelte Thilde fester ein. Erst März; kahl dämmerndes Feld; und sie stapften durch Regenlachen. Rechts zwischen dürren Bäumchen die Villen, genannt Arbeitervillen; aber fast nur noch Beamte wohnten darin. Als Arbeiter mußte man sehr wohl gelitten sein. »Der Jauner wird hereinkommen, wir nicht.«

Und wegen der Pfützen bald getrennt, bald wieder beisammen, begannen sie zu rechnen. Balrich hatte seine zwei jungen Brüder, der eine noch schulpflichtig, der andere unbezahlt. Das kleine Mädchen Thildes war keine Last mehr, sagte Balrich. Nur noch ihre Mutter, zu schwach um zu arbeiten, hing an ihr. »Wäre das nicht,« sagte er, im Drang sie zu schützen, »du solltest gar nicht mehr arbeiten, du Ärmste, und ich für zwei.«

Hierauf sah sie ihn an, bitter und mißtrauisch, und mit einer höheren, schärferen Stimme sagte sie, daß sie nichts brauche und ihre Mutter sei ihr so wenig zur Last, wie früher das Kind. »Du möchtest wohl, auch sie läge schon draußen!«

Da merkte Balrich, daß sie einander nicht verstanden, – und wollten einander doch lieben? Er hätte darauf bestehen sollen, daß sie zusammen an das Grab gingen. Nun argwöhnte sie, daß er ihr das Kind verdenke, vielleicht immer es ihr verdenken werde. »Das nicht,« fühlte er. »Das wirklich nicht. Aber sie hat ihr Leben gehabt, bevor ich da war. Sie hat einen andern gekannt, und ich glaube zwei. Nun denkt sie von mir bisweilen nicht gut.«

Sie war zwanzig, so alt wie er; und auch er hatte schon zwei Mädchen gehabt. Ihm aber war nichts zurückgeblieben, er hätte lieben können wie das erstemal. Nur, warum denn diese, die manchmal so fremd schien, als sei sie aus einem andern Land. Durch sie hindurch erblickte er plötzlich seine Schwester Leni, unberührt, unbeschwert und vertrauend auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zukunft. Diese hier, wie müde!

Fühlte sie denn, was er dachte? Anklagend erhob sie nochmals das Gesicht gegen ihn und sagte in einem Ton, der weh tun wollte: »Gib acht auf deine Schwester Leni! Sie ist vor dem Kind nicht sicherer als wir anderen.«

Balrich ließ sich aber nicht wehtun. Er nahm fest ihren Arm in den seinen und sagte sanft:

»Dein Kind war ein gutes und liebes Kind.«

Er erlaubte ihr nicht, sich loszumachen, und am Ende gab sie nach, sank leise gegen ihn, und aus ihren geschlossenen Augen rannen Tränen. Langsam, in der Dämmerung und im Wind, erreichten sie den »Arbeiterwald«, der Bänke hatte. Umschlungen setzten sie sich auf eine feuchtkalte Bank, unter großen schwarzen Ästen ohne Blätter. Vor ihnen die Fabrik, und hinter den drei Reihen der Fabrikgebäude ging die Sonne unter, von Wolkenstreifen überzogen wie von Rauch. Sie starrten in die Röte und dachten beide, daß es gut wäre, warm zu haben. In ihrem Rücken, hinter hohen Planken, lag der »Herrschaftswald«, begann hier wild, und immer gepflegter, blumiger und geschützter gegen den Wind und gegen die bösen, sehnsüchtigen Blicke, umgab er endlich als süßer Garten die Villa Höhe, das verbotene Paradies.

»Dort friert es keinen,« sagte das Mädchen. Der Arbeiter sagte:

»Dort können sie ernähren, wen sie lieben.«

Da die Sonne fort war, der Wind kälter blies und es anfing zu regnen, standen sie auf. Thilde wollte umkehren, Balrich aber strebte der Fabrik zu. Er wisse eine Unterkunft beim Regen. Auch Thilde sah sie wohl, es waren die Waggons, die von der Fabrik zum Bahnhof fuhren. Dort hielten sie, einer mit offener Tür. Das Mädchen sträubte sich, hineinzusteigen.

»Weil die Lumpen darin so schlecht riechen?« fragte er. Sie antwortete:

»Was soll mir das machen. Ich stehe mein ganzes Leben in einem Lumpensaal.«

Und sie ließ sich hineinhelfen.

»Es ist doch trocken hier auf den Lumpen,« sagte er.

»Und sogar warm,« flüsterte sie und überließ sich seinen begehrlichen Händen.

Da sie an seine Brust gedrängt im Dunkeln nach seinen Augen suchte, schloß er sie, allein mit seinen Gedanken. Dies war das Beste was wir hatten – und machte doch alles nur schlimmer. Die Liebe war eingesetzt, damit es mehr Proletarier gebe. »Für Heßling arbeiten wir, selbst hier, – und freilich auch für unsere Führer. Heßling und unsere Führer sind darin einig, daß wir nicht zahlreich genug sein können. Denn beide brauchen sie Menschenmaterial.«

Das Mädchen sagte:

»Dies haben wir doch. Dies nimmt uns keiner. Küß' mich, du Lieber!«

Aber sie fuhren auseinander, ein Schlag dröhnte an der Wagenwand, und in die Tür trat ein großer Umriß. Der Aufseher! Er schalt auf das Gesindel, das in den schönen Lumpen seine Schmutzereien treibe. Als Balrich hervorkam, hielt der Beamte ihn fest und suchte ihm mit seiner Taschenlampe in das Gesicht zu leuchten. Balrich stieß ihn aber zurück, zog auch Thilde heraus, und schon liefen sie. Verfolgt von Schimpfreden liefen sie durch den Regen, jeder für sich, und wußten schon nicht mehr im Dunkeln, wo ist der andere. Nahe beim Friedhof erst fanden sie sich wieder. Da sah er unter der Laterne, wie durchnäßt sie war, denn beim Fliehen hatte sie ihr Tuch in den Händen des Aufsehers gelassen. Er zog sogleich seine Jacke aus und hängte sie um sie und sich. Ganz aufeinander geneigt gingen sie nun, ein Kleid, und man konnte denken, ein Herz. Sie aber zitterte vor Kälte und er vor Zorn.

Die Kantine war nur noch schwach erhellt, kein Laut drang heraus, vor der Tür nur erkannten sie Simon Jauner – und bei ihm, an der Mauer, zwei Schatten, die aussahen wie Herren.

War dies nicht der Herr Oberinspektor selbst – und jener gar, o Gott! Geduckt schlichen sie vorüber, ein Kleid, ein Herz. Hinter ihnen sagte die Stimme eines Herrn:

»So gut haben es nur solche Leute.«

 

II. Der Arbeiter und das Bürschlein

Zweitnächsten Sonntag kamen die Familien Dinkl und Balrich mit dem Neugeborenen Mallis über das Feld zurück von Beutendorf, wo es getauft war. Alle gingen geradeswegs in die Kantine und tranken, der Säugling an der Brust. Sie saßen an einem langen Tisch und noch allein. Als andere Gäste eintraten, hatten sie schon zu Mittag gegessen und waren aufgeräumt. Der Großonkel Gellert, vertrocknet unter seinem schwarzen Gehrock und mit dem Grinsen im Bocksbart, vollführte einen Tanz, verbunden mit Händeklatschen und Gestampf, um seine Nichte Leni her. Er behauptete, draußen irgendwo Derartiges gesehen zu haben.

Dann fiel er freilich auf die Bank und blies mühsam aus seinen Hängebacken. Indes ringsum Lärm war, beobachtete Karl Balrich gespannt das Wackeln des Alten und seinen Blick, der sich greisenhaft verglaste. Plötzlich, das Auge auf ihm, raunte er ihm zu: »Onkel, was war es damals, mit dir und Heßling?«

Gellert starrte verständnislos. »Damals?« fragte er. Balrich nickte fest.

»Mit dir und – du weißt schon.«

Denn er hatte sich entschlossen, ins reine zu kommen mit dem Geschwätz von neulich. »Was fehlt viel, und ich wäre, was er ist,« hatte der alte Tunichtgut gesagt, von sich und dem Generaldirektor. Geschwätz, dachte Balrich, so oft es ihm einfiel, und doch fiel es ihm ein. Jetzt wartete er, bis der da kam, – und schon kam er. Er begriff, fuhr auf und fragte zitternd:

»Hab' ich denn geschwatzt?«

»Du hast schon zu viel gesagt,« erklärte Balrich. »Jetzt sag' auch den Rest!«

»Weiß schon jemand?«

»Von mir kein Mensch. Bist du aber nicht offen mit mir –«

Der Alte winkte beschwörend. »Lieber du als die anderen. Du bist der tüchtigste. Dein Onkel leider war nicht tüchtig.«

Das sei ihm bekannt, sagte Balrich barsch. Er hatte keinen Sinn für Familienmitglieder, die mit siebzig Jahren ihren Neffen wohl etwas Erworbenes hätten mitbringen können, und statt dessen fielen sie ihnen noch zur Last. Auch der Tanz vorhin um Leni her hatte ihm mißfallen.

Der Alte blinzelte erregt. Aus Furcht vor dem Neffen ließ er alles fahren.

»Konnte man denn wissen, damals?« Man hat einen alten Freund, Kriegskameraden, Fechtbruder. Mein Strohsack, dein Strohsack, meine Laus, deine Laus; und auch die Sparpfennige immer auf demselben Brett. Manchmal waren es Taler. Und als der eine im Städtchen bleiben will, sein Handwerk treiben und Meister werden, läßt der andere ihm, bis er wiederkommt, seine Taler.

»Das warst du?«

»Gott sei es geklagt.«

»Und der die Taler nahm, war der alte Heßling.«

»Und der sie auch behielt. Verstehst du wohl?« wisperte Gellert. Balrich hob die Schultern.

»Würdest du sie sonst noch haben?«

Da griff der Alte mit Leidenschaft um die Tischkante und rief in der Fistel:

»Nicht die Taler, meinen Anteil an Gausenfeld würde ich haben!«

Kaum ausgesprochen, verfolgte er das Wort auf den Gesichtern der Nächsten. Sie hatten in ihrem Lärm es nicht gehört. Balrich seinerseits wendete sich unwirsch weg. Das war einmal der Mühe wert, um solch ein Gefasel noch nachzufragen. »Mit deinen vier Talern hat er also Gausenfeld gegründet?«

Gellert zischte. »Es waren aber vierhundert weniger vier. Ja doch! Und alles war von einer Meisterin, bei der ich gearbeitet hatte – gearbeitet, du weißt schon wie. Mit dem Pinsel, womit ich anstrich, würde ich beileibe das nicht verdient haben.«

»Unehrliches Geld,« sagte Balrich. Der Alte meckerte.

»Sie hat es hergeben müssen, sonst holte sie der Teufel.«

»Und der Heßling wußte davon.«

»Vielleicht nicht?«

»Auch ein Lump.«

Gellert ward ernst und verweisend.

»Er hatte es nicht selbst getan. Er war sogar ein strenger Mann. Auch er nannte mich Lump.«

»Wenigstens gab er dir einen Schuldschein.«

»Das mußte er nicht.«

Balrich schob den Kopf vor und sagte dem andern nahe in das Gesicht: »Jetzt hab ich genug von deinen Räubergeschichten.«

Hier fing der Alte zu weinen an. »Ich war es doch,« schluchzte er, »und du willst sagen, ich war es nicht.«

Er stieß Dinkl an und auch Herbesdörfer, bis sie ihm zuhörten.

»Ein Schuldschein, zwischen alten Kriegskameraden und Fechtbrüdern? Habt ihr das erlebt?«

Da sie nicht begriffen, erzählte er nochmals das Ganze, begegnete auch ihren Einwänden und schwor, noch immer sei sein Geld ihm geschuldet. Warum er es nicht zurückgefordert habe? Als er wiederkam nach mehreren Jahren, war es nicht mehr da. Vielmehr, es steckte im Geschäft.

»Es steckte im Geschäft? Kannst du das beweisen?«

»Ob ich es kann! Der alte Heßling hat mich doch bei der Hand genommen in seinem Kontor in Gausenfeld und hat mir alles vorgerechnet.«

Balrich sagte, grabenden Blickes:

»Gausenfeld hat dem alten Heßling nie gehört. Seine Fabrik stand in der Meisestraße.«

Gellert ward wild.

»Meisestraße oder Gausenfeld, ich sehe ihn noch an seinem Pult beim Fenster, er kratzte sich hinter dem Ohr und rechnete. Ich sollte nur warten, bald würde ich anfangen, mit zu verdienen.«

»Du siehst ihn. Hast du sonst keinen Beweis?«

»Daß er auf seinem Pult einen Tintenwischer hatte, und der war ein Mohrenkopf.«

Dinkl fragte ernsthaft:

»Wielange ist das nun her?«

»Auf den Schlag vierzig Jahre!« schrie Gellert.

»Das ist Zeit genug,« sagte Dinkl. »Inzwischen hat der Mohrenkopf vielleicht das Reden gelernt und kann für dich zeugen.«

Da er selbst sehr lachte, wandten die anderen Gäste sich her und wollten hören. Dinkl schickte sich auch an, ihnen seinen Witz zu erläutern; Balrich aber verbot es ihm leise und kurz.

Der alte Gellert sank wieder in sich zusammen, und beim Weggehen hatte er nur noch die Sorge, daß niemand weiter von der alten Geschichte erfahre, besonders die Weiber nicht. Dinkl meinte zwar, es sei zu komisch, man dürfe es nicht für sich behalten. »Onkel Gellert Teilhaber von Heßling auf Gausenfeld! Generaldirektor Gellert!« kreischte er und tanzte auf einem Bein, – indes der Alte mit blutunterlaufenen Augen dabeistand wie ein bittender Hund. Aber Balrich verlangte dringend, daß kein Wort laut werde. Ob Dinkl einen alten Arbeiter, der sich in der Fabrik mit Anstreichen ein Stück Brot verdiene, ins Elend bringen wolle. Dinkl erklärte sofort, wenn Onkel Gellert seine Arbeit verliere, werfe er selbst die seine hin, und streiken sollten dann alle!

Dennoch hatte Dinkl jetzt immer, wenn er den Alten sah, einen heimlichen Rippenstoß für ihn. »Wann lassen wir uns denn unsere Dividende auszahlen?« fragte er, und der Alte sah sich nach allen Seiten um wie ein Dieb. Eines Tages aber, in einem Winkel des großen Hofes in Gausenfeld, als er vor dem Schichtmachen sein Gerät ordnete, stieß auch Balrich ihn so an und raunte:

»Du hast wohl noch Zeit bis zur Abrechnung?«

Da entsetzte sich der Alte, und wie gerade ein Schub Arbeiter aus dem Tor kam, glitt er hinein und drückte sich. In diesem Augenblick ward es Balrich zum erstenmal gewiß, Gellert rede wahr, das mit dem Geld sei wahr.

Er hätte es nicht geglaubt, – obwohl er jetzt jede Nacht darüber nachdachte. Noch nicht in der ersten; die Zweifel näherten sich langsam, nahmen immer mehr Schlaf und wurden schwerer, eben von der Schlaflosigkeit. Da er nun gewiß war, schlich er, anstatt zu seinem Mädchen, dem alten Gellert nach, der ihm auswich. Eines Abends nur traf er ihn bei Dinkls, ein reiner Zufall. Der Alte, leicht angetrunken, schien weniger ängstlich. Da trat Besuch ein, ein Herr in mittleren Jahren, recht dick schon, weiches Gesicht ohne Bart, weicher Hut, der Gang etwas einwärts, – und hast du nicht gesehen war Gellert fort. Es ging so schnell, im Schatten die Wand hin und ab, daß der Herr sich nicht einmal umsah.

»Ich bin der Rechtsanwalt Buck,« sagte er. »Guten Abend, ich bringe Ihnen, was sonst meine Frau Ihnen bringt. Sie ist nicht wohl.« Und mit zarter Hand legte er neben Malli, die das Kind stillte, einen verschlossenen Umschlag.

Dinkl erwies sich gewandt, räumte die Kinder fort und machte dem Herrn Rechtsanwalt so viel Platz, als genügte seinem Umfang das ganze Zimmer nicht. Buck ließ sich wohlwollend auf den gebotenen Stuhl, hatte einen gerührten Blick für Malli mit dem Säugling, einen bewundernden für Leni, die die Brust herausstreckte, einen erstaunten über die Kinderschar hin, dann seufzte er und fragte mild und etwas fett:

»Wohnen Sie hier gut?«

Niemand antwortete. Selbst Dinkl hatte die Fassung verloren. Der Schwager des Herrn Generaldirektors fragte: »Wohnen Sie hier gut?« – anstatt nur hinzuwerfen, daß sie glänzend wohnten! In der Stille traf Buck auf die gefalteten Brauen Balrichs. Seine Augen prallten zuerst ab, dann suchten sie um so eindringlicher die des Arbeiters, – dessen Gesicht sich ein wenig entspannte unter dem braunen, weich glänzenden Blick. Buck sagte sanft:

»Lieber möchten Sie natürlich auf Villa Höhe wohnen.«

Und als sei dies noch nicht genug des Unerhörten, hob er seine schweren Schultern und sagte ergeben:

»Begreiflich, aber was kann man machen.«

Es klang, als bewohnte er selbst, mit seiner Frau und seinem Sohn, nicht einen ganzen Flügel von Villa Höhe, sondern allenfalls ein Kellerloch.

Dann stand er auf, gab allen die Hand, ohne irgendeinen dabei anzusehen, und entschwand ihnen, langsam und einwärts. Die Meinung Mallis und Dinkls war: »Ein armer Herr!« Leni blies nur geringschätzig durch die Nase. Balrich schwieg, und er blieb nicht mehr lange.

Zwischen dem Onkel Gellert und diesem Buck gab es einen Zusammenhang, – und was sollte er betreffen, wenn nicht die alte Geldgeschichte. Balrich zweifelte nicht, er ließ sich in der Kantine ein Fläschchen mit Schnaps füllen und ging damit durch die rückwärtige Gartenpforte der Villa Klinkorum, zu dem Anstreicher. Der Schnaps freilich erwies sich als zwecklos, denn Gellert saß schon vor einer Flasche und war nun soweit, daß er sich ganz allein etwas vorsang. Beim Erscheinen Balrichs sang er:

»So dumm ist der alte Gellert noch nicht. Das hast du gedreht!«

Was er gedreht habe, fragte Balrich. Das Zusammentreffen mit Buck sei kein Zufall gewesen, behauptete Gellert. Ihn aber gehe der Buck nichts an. »Wie soll ich ihn kennen. Als ich einmal bei seinem Vater war, trug er noch Röckchen.«

»Aha. Bei seinem Vater.«

Gellert, stark erschrocken, bot Schnaps an.

»Sein Vater ist doch tot,« sagte er, den Blick auf dem Glas. »Was willst du von ihm. Damals freilich wollte jeder etwas von ihm. Er war der mächtigste Mann in der Stadt, noch zu meiner Zeit und der Zeit des alten Heßling. Der junge Heßling dann –«

Er strich sich mit der gestreckten Hand über die Kehle.

»– ist mit ihm fertig geworden. Hat ihm sein Geld genommen, seine Aktien, seine Würden, und stellt nun mehr vor als je der alte Buck.«

»Der junge Buck aber – ist ein armer Herr,« sagte Balrich, finster grübelnd. Gellert kicherte.

»Hat sich zuerst abschlachten, dann heiraten lassen. Nicht das gesundeste Schwein hält das aus.«

Balrich rückte näher.

»Onkel Gellert, du mußt jetzt loslegen.«

Da der Alte sich duckte, faßte er ihn beim Arm. »Das hilft dir nicht mehr. Ich weiß schon zu viel. Und dann bin ich dein Großneffe. Wer wird wollen, daß du reich wirst, Onkel Gellert? Der, der dich beerben soll – wie?«

Der Alte zwinkerte von unten.

»Glaube doch nur nicht, daß da etwas zu machen ist. Hast du eine Ahnung, was für eine Laus du bist gegen Heßling?«

»Sage mir, was du mit dem alten Buck gehabt hast. Vielleicht wächst die Laus.«

Seine Faust rüttelte an den Alten, bis er sich entschloß. Ja, bei dem alten Herrn Buck war er damals gewesen, in dem alten Haus in der Fleischhauergrube, mit den Stufen, die abgewetzt waren von den Füßen der ganzen Stadt. Der Vertrauensmann der ganzen Stadt sollte ihm zu seinem Geld helfen. »Das Seine hat er getan. Er hat sich den Vater Heßling kommen lassen, und Heßling hat ihm auch geschrieben.«

»Auch geschrieben!« rief Balrich unterdrückt.

»Hat ihm schriftlich gegeben, daß in seiner Werkstätte mein Geld stak und daß ich mitverdienen sollte.«

»Wo ist der Brief?«

»Die Abschrift vom Herrn Buck habe ich,« – und Gellert entnahm sie der Kommode. »Er hat sie mir nachgeschickt auf die Wanderschaft und hat mich vertröstet. Mein alter Kriegskamerad Heßling sei schwer bedrängt, und sonst noch allerlei.«

 

Balrich las schon, gierig versenkt. Zurückkehrend seufzte er.

»Das ist eine Abschrift, die muß keiner uns glauben. Wo ist der Brief selbst?«

Der Alte grinste.

»Der Brief meines alten Kriegskameraden? Gewiß in den Papieren des Herrn Buck. Das ganze Haus war voll von Papieren.«

»Und die Papiere?«

Der Alte kam grinsend näher.

»Heimlich habe ich umhergehört.«

Plötzlich zerrte er an seinen Knöpfen, riß sich die Kleider auf bis zur nackten Brust. Sein Gesicht zerteilte sich in violette Fetzen, und auf heulte er:

»Aus! Der Junge hat sie verbrannt.«

Balrich rührte sich nicht. Gellert begann allmählich, sich wieder zuzuknöpfen. »Noch ein Gläschen,« sagte er.

Balrich trank aus.

»Dann kann ich nach Haus gehen.«

Unter der Tür fiel er gegen den Pfosten, kam aber gleich wieder auf.

Er ging nicht heim, sondern die Straße nach Villa Höhe. Die Linden dufteten, ein warmer Wind schlug ihm entgegen. Sommer war geworden aus dem dürren Frühling, in dem er angefangen hatte zu leben, – zu hoffen, zu wollen, zu leben. Sollte dies aus sein jetzt, nie hätte es dann anfangen dürfen. Lieber tot, als alles wieder sein lassen wie sonst.

»So wird es nicht mehr!« rief er in die Nacht. Vorgebeugt gegen den Wind, machte er Fäuste und zerstampfte die Lindenblüten. Jetzt weißt du! Aufgedeckt war jetzt die Grube. Gestohlenes Geld, und Geld noch dazu, das ein alter Elendsgenosse auf schmutzige Art erworben hatte, dies war die Grundlage des Heßlingschen Reichtums. So sah die Grundlage eines großen Vermögens aus, Geschlechtsschande und Diebstahl. Dies ist das wahre Gesicht derer, die ihr enteignen werdet, Proletarier!

»Enteignen! Setzet mich und die Meinen, ehrliche Arbeiter, an die Stelle solcher Verbrecher! Wäre in der Welt nur ein Funken Gerechtigkeit, hier liefen alle zusammen, zeugten und hülfen. Statt dessen würden alle nur lachen über den armen Arbeiter, und schrie er zu laut sein verlorengegangenes Recht, ihn totschlagen für toll. Lieber gleich sterben! So ist es bestellt. Lieber gleich sterben!«

Er nahm sein Halstuch ab und suchte in den Bäumen nach einem passenden Ast.

Als er aber schon in einer Krone saß, vernahm er Stimmen, und von der Villa herab kamen zwei Gestalten, Herren, schien es. Wer sollte es sein? Nun, gut, Heßling und sein Schwager Buck sollten die ersten sein, die ihn hängen sahen … Er fand aber, dies wäre dennoch eine übertriebene Genugtuung für die glücklichen Verbrecher. Ihr Eintreffen war vielleicht ein Fingerzeig ganz anderen Sinnes.

So ließ er sie vorbei, stieg hinunter und folgte ihnen. Die Nacht war schwarz, und er schlich. Dennoch hörten sie ihn, wenigstens Heßling, denn er blickte sich mehrmals um und ward unruhig, wenn ein Leuchtkäfer ihn anglühte. »Er hat Furcht vor mir,« sah Balrich und freute sich. Er fühlte: Wer schon zum Sterben bereit gewesen war, der hatte und konnte viel mehr als diese reichen Schächer. Er hatte ein doppeltes Leben, und mit denen da konnte er Schindluder treiben. Balrich im Gebüsch tat einen Sprung, daß es knackte, und stieß dazu einen Laut aus wie ein Phantasieungeheuer, – worauf Heßling sich hinter einen Baum duckte. Buck blieb nur stehen und knipste mit den Fingern.

Dann gingen sie weiter, immer sprechend; und Balrich versuchte zu verstehen, soviel der warme Wind ihm übrigließ, der das meiste wegtrug. Eins war klar, daß Heßling seinen Schwager herunterputzte wie einen Tagelöhner. Er warf ihm den Weg in der Dunkelheit vor; das Volk sei verroht, es werde immer gefährlicher; und ihre Geheimnisse hätten sie sich auch anderswo sagen können … Welche Geheimnisse? Buck redete von ihnen nur leise. Darauf erinnerte Heßling ihn, um so lauter, an das Geld, das er von ihm bekomme, die Prozesse und Verhandlungen, die er für ihn führen dürfe.

»Solche nicht!« schrie plötzlich Buck, – worauf es eine Zeitlang still blieb. Balrich schlich noch leiser, von Nüchternheit ergriffen. Wie kam er hierher? Was hatte er gewollt, welcher Fingerzeig war ihm gegeben? Die Herren dort hatten ihre Welt, nichts wußte man. War, was ihm im Kopf saß, nicht ein Schwindel des alten Gellert? Oder er selbst hatte geträumt?

Aber die Herren stritten weiter – ein richtiger Streit. Heßling nannte seinen Schwager einen Schöngeist und Verteidiger in Majestätsbeleidigungsprozessen, den richtigen Sohn und Erben eines alten Achtundvierzigers. Sein Gesinnungswechsel sei ihm bezahlt worden, als Heßling ihm seine Schwester gab. Buck habe kein Recht mehr auf Widerstand, auf diese gewisse unernste Ironie, die das freundschaftliche Beisammenwohnen in Villa Höhe eines Tages gefährden und ihn brotlos machen könne … Worauf Buck von Manövern sprach, gewissenlosen Treibereien, einem Ende mit Schrecken, und wer bezahle dann?

»Wir nicht!« rief Heßling und lachte.

»Nein, alle,« rief Buck. Aber Heßling hielt ihm seine Schulden vor, da gab er klein bei.

Der Arbeiter hinter ihnen fühlte sich unheimlich verstrickt in eine Nacht der Verschwörungen, – und wer weiß welches Massensterben konnte hervorgehen aus dem tückischen Gemächt dieser beiden Bourgeois, die einander doch haßten! Denn einig sind sie nur gegen uns; untereinander möchten sie sich umbringen. Behandeln wir sie doch nur so, wie sie einander! Mut! und sieh, was für arme Menschen, die Furcht haben voreinander – und auch vor uns, wenn es Nacht ist und die Soldaten schlafen. Nur angreifen! Hast du gegen sie Waffen, und sei es die schlechteste, schäme dich nicht! Balrich dachte: »Ein armer Herr!« und meinte Buck. Der war der schwächere, zuerst an ihn! Einschüchtern, erpressen – was wäre denn unerlaubt gegen eine Verbrechergesellschaft.

Schon begannen die Laternen der Vorstadt, dem Heßling kam wohl der Mut, er sagte zu seinem Begleiter: »Magst du nicht weiter, keine Umstände!« Und Buck, nach einem Gruß mit dem Hut, kehrte allein um.

Balrich in langen Sätzen sprang zurück bis wo es dunkel war, und hinter Ästen, die er herabzog, wartete er. Es dauerte lange, Buck kam daher, watschelnd und barhäuptig, schwenkte seinen Hut und sprach mit sich selbst. Mehrmals blieb er stehen, und obwohl er den Wind im Gesicht hatte, wischte er sich den Schweiß. »Ich kann nicht länger!« sagte er, wie beschwörend. »Ich bin der am schwersten Belastete, der Verräter, Gott strafe zuerst mich!«

Da sah er auf, die Strafe nahte schon. Zweige schnellten, und ein Mensch trat vor ihn hin. Buck wartete; da der andere nichts äußerte, sagte er selbst: »Guten Abend.«

»Auweh,« dachte Balrich, »es ist gefehlt.« Und Zorn kam ihm gegen Dinkl, den Prahlhans, der behauptete, sie schliefen immer und mit einem Finger könne man sie umwerfen. Jetzt fragte Buck:

»Sie sind wohl erschrocken?« – und seiner milden Stimme war es anzuhören, daß er im Dunkeln ein spöttisches Lächeln aufgesetzt hatte. Balrich sagte heiser:

»Sie müssen sich nun bequemen –«

Weiter wußte er nicht. Undeutlich hatte er sich vorgenommen, sofort und auf der Stelle Geld zu verlangen und mit Skandal zu drohen. Buck erwiderte schließlich:

»Ich tue nie etwas anderes als mich bequemen. Sie wünschen also?«

»Alles haben Sie gestohlen!« schrie Balrich. »Sie gehören nicht dahin, wo Sie sind!«

Plötzlich brachte Buck ihm das Gesicht ganz nahe.

»Sie sind es also doch,« sagte er. »Ich habe öfter an Sie gedacht seit heute. Sie sind doch überzeugt, daß auch Sie nicht dorthin gehören, wo sie sind?«

Nach einer Pause:

»Sondern in die Villa Höhe?«

»Ich will mein Recht.«

»Ihr Recht. Nun ja. Gehen wir doch weiter!«

Im Gehen:

»Ich gebe zu, wir haben jeder gleich wenig Recht und fußen einzig auf dem Zufall. Daß ich nicht meinen Platz räume, ist Feigheit, leidige Feigheit. Möchten denn auch Sie so feig werden?«

Er hatte den Arm Balrichs genommen und stützte sich darauf. Seine Sprache ward klangvoll und bewegt.

»Sie sind ein junger Arbeiter und stehen vor dem Leben. Ihresgleichen kann weit kommen. Ich, ich bin ein verlorener Mensch. Könnte viel Unrecht verhindern und, wer weiß, dem Verderben Unzähliger in den Arm fallen. Aber der Augenblick kommt, da du Weichling das Herz nicht mehr hast. Verstehen Sie?« fragte er, stehenbleibend.

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