Und wenn die Welt voll Teufel wär ...

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1. Das biblische Wort als Deuterahmen erfahrener Wirklichkeit

Wer heutzutage seine Erfahrungen mit »dem Bösen« deuten will, der sucht häufig Orientierung bei den Humanwissenschaften, weniger bei den Theologen. Sie jedoch sollten gerade auf diesem Gebiet »Fachleute« sein und den Bereich des so genannten Übersinnlichen nicht den Humanwissenschaftlern oder den populären Esoterikschulen überlassen.

Nach wie vor sind viele Theologen, Pastoren und Seelsorger von der historisch-kritischen Forschung geprägt, welche das rationale Denken und Forschen in den Vordergrund der Theologie stellt. Damit wird die Frage unausweichlich, wie es mit der Beziehung dieser historisch-kritischen Vernunft zu den Aussagen des biblischen Offenbarungszeugnisses steht. Ist die kritische Vernunft allein der Maßstab für das, was als verbindliche Erkenntnisautorität akzeptiert wird, so wird die Bibel dünn. Der Theologe Gerhard Ebeling (1912–2001) stellte dazu fest: »Die Auswirkungen des geschichtlichen Wirklichkeitsverständnisses der Neuzeit trafen die Kirche vor allem im Blick auf ihr Verständnis der Heiligen Schrift, das dem Ansturm der historisch-kritischen Methode nicht standhielt.«1 Zum anderen ist heute festzuhalten, dass die historisch-kritische Forschung den skeptischen Anfragen metaphysischer Erfahrungswirklichkeit nicht standhält. Es hat den Anschein, dass die rationalistisch geprägte Worttheologie keinen Sensus für die Offenbarungswirklichkeit hat, sofern sie nicht durch die Methoden kritischer Geschichtsforschung bestätigt werden kann. Ernst Troeltsch (1865–1923) brachte die methodischen Möglichkeiten der historischen Forschung zum Ausdruck: Eine Wirklichkeit muss kritisch geprüft werden, dem Gesetz von Ursache und Wirkung (Kausalität) entsprechen und der Methode der Analogie (Vergleichung) und der Korrelation (Wechselwirkung) standhalten. So wird durch diese Denkmethodik der Zugang zum eigentlichen Offenbarungsgeschehen versperrt. Ich stimme Walter Künneth (1901–1997) zu, der behauptete, dass der Anspruch der historischen Vernunft auf Allgemeingültigkeit und damit ihr Angriff auf das biblische Zeugnis eine »grundsätzliche Begrenzung durch die Frage nach der Angemessenheit der historisch-kritischen Methoden in Bezug auf den Sach- und Wesensgehalt der biblischen Überlieferung« finde.2

Konsequenterweise ist zu fragen, welche Methodik denn »angemessen« wäre für das bessere Verständnis biblischer Texte. Um welche Wirklichkeit handelt es sich bei der biblischen Offenbarung?

Künneth nennt vier Charakteristika:

1. Die absolute Einmaligkeit, die Unvertauschbarkeit und Originalität des Ereignisses der Offenbarung. Damit ist der Grundsatz der Analogie infrage zu stellen.

2. Die geschichtliche »Tatsächlichkeit« des Offenbarungsereignisses, die eine historische Betrachtung erforderlich macht. Eine der biblischen Offenbarung angemessene »biblisch-historische Forschung« wird dementsprechend auch von vielen evangelikalen Theologen eingefordert.3

3. Die Mitteilungsgestalt der Offenbarung erfordert eine »sachgemäße« Verkündigung.

4. Die biblische Offenbarung hat »metaphysische Qualität«, d. h. ihrer Herkunft, ihrem Inhalt und ihrem Ziel nach kommt sie nicht aus der raum-zeitlichen Geschichtswelt, sondern aus der außergeschichtlichen Dimension Gottes. »Da es sich um eine neue, total andere Wirklichkeit handelt, ist sie im Vorstellungs- und Verstehenshorizont des Menschen unausdenkbar und einer rationalen Einordnung in den Rahmen eines Geschichtsbildes entzogen.«4

Gerade das letztgenannte Kriterium lässt aufhorchen. Die biblische Offenbarung hat »metaphysischen« Charakter. Die Bibel beschreibt eine Wirklichkeit, die nicht durch den Verstand allein wahrgenommen werden kann. Dementsprechend heißt es auch in 1. Korinther 2,14: »Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird.«

Stellen wir also fest, dass die biblischen Aussagen sich nicht mit der gegenwärtigen historisch-rationalen Erkenntnis decken, so haben wir zu fragen, welche der Wahrnehmungen für uns verbindlich ist – oder wir entscheiden uns, dass es mehrere Wirklichkeiten gibt. Diese denkerische Hilfskonstruktion scheint absurd zu sein, dennoch finden wir selbst in frommsten Kreisen derartige Ansätze. Im Einklang mit kompetenten naturwissenschaftlich gebildeten Philosophen wie etwa Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) oder Sir Karl Popper (1902–1994) sollten wir uns dafür entscheiden, dass es nur eine Wirklichkeit gibt. Diese Wirklichkeit untergliederte Popper jedoch in unterschiedliche Erfahrungswelten, wobei die »trans-physische Subjektwelt« eine davon ist.5 In ähnlicher Weise interpretierte Karl Heim die Differenziertheit der einen Wirklichkeit, zu der auch der Raum der unsichtbaren Welt zählt. Eine Theologie, die von vornherein den metaphysischen Raum als unwirklich ausklammert und als Mythos oder Auswurf einer geschichtlichen Epoche ansieht, wird somit weder dem biblischen Zeugnis noch der Erfahrungswirklichkeit gerecht.

Bejahen wir jedoch die metaphysische Qualität der biblischen Offenbarung, so bleibt immer noch die Frage offen, ob die Bibel als verbindlicher Denkrahmen auch Vorgaben zur gesamten metaphysischen Welt macht. Die Autorität der Bibel steht zur Debatte. Mir fällt auf, dass ein Großteil der protestantischen Theologen wohl die Selbstoffenbarung Gottes in Christus als Zentrum der biblischen Offenbarung ansieht, aber weitere metaphysische Anteile der Bibel eher skeptisch betrachtet. Ich frage: Beinhaltet die Selbstoffenbarung Gottes in Christus nicht geradezu auch eine Offenbarung über die Welt des Bösen? Ist es nicht eine unaufgebbare Tatsache, dass gerade dazu Christus in diese Welt gekommen ist, um die Werke des Teufels zu zerstören (1. Joh. 3,8)? Die Christusoffenbarung beinhaltet auch eine Offenbarung, eine göttlich autorisierte Deutung des Satanischen. Die Aussagen der Bibel über das Satanische, das Böse, die zu überwindende Macht des Bösen, in welcher Gestalt sie auch immer erscheint, ist ebenso verbindlich wie die Aussagen der Schrift über den Todesüberwinder, den Christus. Es ist deshalb in sich unlogisch, wenn Theologen die Autorität der Bibel in Bezug auf die Christusoffenbarung betonen und ihre Aussagen zum Thema zugleich Satan anzweifeln oder gar ablehnen. Allein die Tatsache, dass wir von einem Erlöser, einem Retter sprechen, macht deutlich, dass es da auch eine Gegenseite gibt. So verbindlich, wie wir die Aussagen der Heiligen Schrift über Christus nehmen, sollten wir auch die Aussagen über das Böse nehmen.

Gehen wir also davon aus, dass die Bibel den Vorhang der metaphysischen Welt etwas lüftet, und zwar genau in dem Umfang und Maß, wie Gott es für den Menschen für hilfreich und sinnvoll hält, so stellt sich dennoch die letzte Frage nach der Begründung der Schriftautorität. Mit welchem Recht gehen wir davon aus, dass das biblische Zeugnis mehr Autorität hat als andere Ausführungen oder religiöse Texte? Dass man in der christlichen Kirche in einem Gespräch steht mit der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testamentes; dass man mit der Bibel kommuniziert, indem man sie auslegt, und zwar als Autorität, der man sich unterordnen will – das ist eine Tatsache, die wir nicht erst von irgendwoher abzuleiten haben. Aber freilich muss man fragen, warum dies geschieht. Warum ist die biblische Offenbarung höchste Autoritätsinstanz?

Zur Sicherung eines verbindlichen Erkenntnisprinzips hat die Theologie eine umfangreiche Lehre von der Autorität der Heiligen Schrift entfaltet. Dieses geschieht in der Regel in der Lehre der Hermeneutik (Schriftauslegung). Im Prinzip bestehen drei Möglichkeiten, die Autorität der Bibel näher zu bestimmen:

1. Man sieht den gesamten Text der Bibel als autoritativ an; d. h. jedes Wort der Bibel, jeder einzelne Satz sagt uneingeschränkt die Wahrheit und ist deshalb für den Menschen verbindlich.

2. Nur in gewissen Teilen, mit bestimmten Aussagen, sagt die Bibel verbindlich die Wahrheit. Nur dort ist sie Autorität. Der Rest ist menschliches Schrifttum, ist rein historisch-kritisch zu betrachten und für den Menschen unverbindlich.

3. In der Bibel durchdringen sich Zeitbedingtes und Letztgültiges. Gotteswort und Menschenwort sind ineinander verflochten. Jedoch ist die Bibel in ihrem Gesamtzeugnis Gottes Wort.6

Entscheidend für die Zuordnung wird auch die Auffassung von der Inspiriertheit der Bibel sein. Hierzu gibt es unterschiedliche Auffassungen der Inspiration. (Man bedenke, dass es sich dabei wiederum um einen metaphysischen Begriff handelt!) Auch die römisch-katholische Kirche, die neben der Schriftautorität besonders auch das Lehramt der Kirche betont, hält an dieser Inspiration fest. So heißt es im Vaticanum II:

»Die göttliche Offenbarung, die in der Heiligen Schrift geschrieben steht und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden … Zur Abfassung der Bücher hat Gott Menschen erwählt, die er, indem sie ihre Fähigkeiten und Kräfte anwandten, dazu brauchte, alles das und nur das als echte Verfasser schriftlich weiterzugeben, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte. Da aber Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu fassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig nachforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich haben sagen wollen und was Gott mit ihren Worten kundzutun für gut befunden hat.«7

Neben dieser oder ähnlichen Auffassungen von der gottgeschenkten Inspiration der biblischen Texte stehen auch die Überlegungen zur Kanonbildung der Bibel. Mit welchem Recht bilden gerade die 66 biblischen Bücher den Gesamtkodex göttlicher Offenbarung? Die Juden schließen den Heiligen Schriftenkreis zu ihrem Kanon erst nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) auf der Synode von Jamnia (um 90 n. Chr.) ab. Die neutestamentlichen Schriften werden im Jahre 367 von Kirchenvater Athanasius in seinem 39. Osterbrief zu einem Kanon festgelegt. Dieser Kanon wird auf dem 3. Konzil von Karthago 397 für die griechische und lateinische Kirche bestätigt. Nur in Syrien bleibt noch ein kleinerer Kanon mit Tatians Evangeliensynopse in Gebrauch. Im Protestantismus legt Martin Luther eine Differenzierung zwischen Apokryphen und den Texten des AT fest.

 

Der Abschluss des Kanons zeigt auch an, was hinfort als verbindliche Autorität gelten soll und was nicht. Will man die Kanonbildung im Einzelnen logisch begründen, so stößt man an Grenzen. Ich halte die Kanonbildung selber für einen Teil der göttlichen Heilsgeschichte, die als von Gott gesetzt gelten soll. Auch die Schriftwerdung ist ein Teil des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes. In der Inspiriertheit und in der von der Kirche autorisierten Kanonbildung liegt u. a. die begründete Autorität der biblischen Offenbarung.

Aus diesem Grund halten wir daran fest, dass das biblische Zeugnis verbindlich die eine umfassende und auch metaphysisch geprägte Wirklichkeit beschreibt. Alle Erfahrung muss sich an dem biblischen Zeugnis messen und ausrichten lassen.

2. Erfahrungen und Erkenntnisse, die in der Bibel nicht bezeugt werden

Eine heiße Diskussion entbrannte, als Charles H. Kraft, Professor am Fuller Theological Seminary in Pasadena/USA und zudem »Fachmann« in evangelikalen und charismatischen Kreisen, es auf den Punkt brachte: »Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Bereich der Dämonisierung von Menschen Erfahrungen gibt, die über das hinaus gehen, was in der Bibel bezeugt ist.«

Die Lausanner Bewegung hatte im Sommer des Jahres 2000 etwa 40 evangelikale Theologen aus aller Welt eingeladen, die unter dem Motto »Deliver us from Evil« (Erlöse uns vom Bösen) für mehr Klärung in diesem unwegsamen theologischen Gelände sorgen sollten. In vielen Punkten hatte man auch mehr Klarheit erzielt, jedoch kamen auch mit jedem weiteren Referat neue Fragen auf den Tisch. Können Christen dämonisiert sein? Charles Kraft und auch einige Teilnehmer dieser Tagung erzählten mehrere Beispiele, und selbst eine Teilnehmerin berichtete von einer Dämonisierung in ihrem Leben, obwohl sie bereits Christin gewesen war. Dennoch – die Bibel berichtet nicht von derartigen Erfahrungen.

Es scheint so zu sein, dass gerade auf diesem Gebiet so manche Erlebnisse gemacht werden, die im biblischen Zeugnis nicht vorkommen. Die Schriften der Bibel berichten nicht von den gegenwärtigen okkulten Praktiken, von Kartenlegern, von Satanskulten, von schwarzer oder weißer Magie, vom Gläserrücken oder langen spiritistischen Sitzungen. Sicher gibt es hier und da Hinweise, die darauf schließen lassen, dass die Praxis der Totenbeschwörung bekannt war. Aber der Leser der Bibel wird nicht in allen Einzelheiten informiert.

Betrachten wir die Phänomenologie, also die Erscheinungsweisen des Dämonischen und Bösen, so haben wir eine ähnliche Beobachtung zu machen. Die biblischen Beschreibungen sind verhältnismäßig zurückhaltend. Wohl hören wir davon, wie dämonisch beeinflusste Menschen hin- und hergerissen zu Boden stürzen, wie Krankheiten ausgelöst werden oder Menschen Kenntnisse aussprechen, die sie offensichtlich von »einem anderen Geist« als dem Geist Gottes empfangen haben. Lesen wir hingegen in der heutigen Literatur zum Thema, so begegnet uns eine ganze Auflistung von Phänomenen, die in der Bibel keine Erwähnung finden. Denken wir nur einmal daran, dass immer wieder davon gesprochen wird, dass dämonisierte Menschen bei einer Befreiung den Geist »heraushusten« bzw. »herausbrechen«8, dass Dämonen in einer Familie oder einer Gegend beheimatet seien9 und vieles andere mehr. Bücher über Bücher werden gefüllt mit haarsträubenden Erfahrungsberichten, mit Erlebnissen, die in der Bibel in dieser Weise nicht berichtet werden. Demzufolge werden diese Erfahrungen auch in »bibeltreuen« Kreisen mit großer Skepsis gesehen.

Ähnlich wie Charles Kraft verwirrte auch sein Kollege, der evangelikale Theologe C. Peter Wagner, als er öffentlich die These vertrat, einzelne Regionen, Ortschaften und Länder stünden unter dämonischen Territorialmächten (territorial spirits). Diese müssten zunächst durch Gebet vertrieben werden, damit eine effektive Evangelisierung einer Gegend geschehen kann. Wagner berichtet von einigen außergewöhnlichen Erfahrungen und Einsichten namhafter Theologen wie Michael Green, Oscar Cullmann, Paul Yonggi Cho, John Dawson, Roger Forster oder auch Larry Lea.

Der biblische Bezug zu diesen Erfahrungen scheint jedoch recht mager auszufallen, zudem Auslegungsfragen eine große Rolle spielen. Der alleinige Verweis auf die Begegnung Daniels mit den »Fürsten von Persien und Griechenland« (Dan. 10,20f) ist für viele Theologen unbefriedigend. So scheint es denn auch verständlich, wenn sich deutlicher Protest gegen derartige Lehren manifestiert. Ja, einige Theologen warnen und halten ihrerseits eine derartige Überziehung der biblischen Texte für eine dämonische Verführung der Christenheit. Man will biblisch sein und meint damit: Nur das ist für uns verbindliche Wirklichkeit, was uns auch in der Bibel bezeugt wird. Heißt das nun aber, dass all die Erfahrungen von Wagner und Kraft und die unzähliger anderer erstzunehmender evangelikaler Theologen einfach nicht sein dürfen, weil sie nicht in der Bibel erwähnt sind?

Um diesen Vorwurf abzuwehren, wurde immer wieder der Versuch gemacht, aus irgendeiner Passage der Heiligen Schrift doch noch eine Wirklichkeit herauszulesen, die aber kaum gemeint sein kann. Biblische Texte werden verbogen, missverstanden, uminterpretiert oder auch verkürzt. Da ist es mir schon lieber, wenn ein Charles Kraft sagt: Diese Erfahrungen finden wir in der Bibel nicht beschrieben, sie sind dennoch real.

Eigentlich handelt es sich dabei ja auch um eine offenkundige Tatsache: Wir machen heutzutage unzählige Erfahrungen, die in der Heiligen Schrift nicht berichtet sind; wir bauen auf Erkenntnisse und Wahrnehmungen, auf Erfahrungssätze, die mit keinem Wort in der Bibel bezeugt werden. Denken wir nur einmal an die Welt der Technik und Wissenschaften. Wo wird uns in der Bibel berichtet, wie Menschen unter dem Einsatz modernster Technik medizinische Operationen unternehmen, um Leben zu retten? Wo werden uns Modelle zur Bewältigung der Globalisierung empfohlen? Welche Worte der Heiligen Schrift beschreiben den Umgang mit Computern oder der Nanotechnologie? Kein einziges Wort darüber in den biblischen Schriften – wie könnte es auch sein? Und dennoch wird wohl niemand in Zweifel ziehen, dass sie real sind.

Denken wir an die breite Palette kirchlicher und gemeindlicher Praxis, die in der Bibel mit keinem Wort erwähnt wird, die jedoch Eingang in fast alle gemeindlichen Gruppen gefunden hat. Wir sprechen heute wie selbstverständlich von der Zielgruppenarbeit, sprich: der Kinder-, Jugend-, Seniorenarbeit usw. Ganze kirchliche Werke und Einrichtungen sind entstanden. In der Bibel finden wir jedoch keine Berichte und auch keine Beauftragung zu einer Zielgruppenarbeit, wie sie sich im kirchlichen Feld darstellt. Dennoch hat sie sich als nützlich erwiesen. Wir könnten fortfahren mit anderen Beispielen kirchlicher Praxis. Ich denke an die eingeschliffenen Gottesdienstformen, die wohl nur ansatzweise biblische Vorbilder haben; ich denke an die unterschiedlichen Formen und Inhalte der Seelsorge. Hier sind Erfahrungswerte eingeflossen, die sich vielfach zu einer guten kirchlichen Praxis entwickelt haben. Aber in der Bibel finden wir weder den Begriff »Seelsorge« noch den Begriff »Beichte«, wir finden keine Anleitung zum Aufbau von speziellen Seelsorgeausbildungen oder einen ausführlichen Praxisbericht über den Vorgang einer »inneren Heilung«.

Wir halten also fest: Es gibt unzählige Erfahrungen, Erkenntnisse und Anwendungen, die in unserer heutigen Welt und kirchlichen Praxis Eingang gefunden haben, die jedoch im biblischen Zeugnis nicht ausdrücklich erwähnt werden. Warum sollte das nicht auch für den Bereich gelten, mit dem wir es hier zu tun haben?

Hilfreich bei der Beantwortung dieser Frage wird uns die Überlegung sein, inwiefern derartige Erfahrungen, von denen z. B. Wagner und Kraft berichten, zu einer verbindlichen Lehre werden. Erfahrungen müssen beurteilt und zugeordnet werden, sie können durchaus mit dem biblischen Zeugnis konform gehen. Sie dürfen jedoch nicht den Anspruch erheben, dass es sich hierbei um eine verbindliche Wahrheit oder eine biblische Lehre handelt. Gerade hier liegt der schmale Grat, auf dem wir uns bewegen. Die fromme Literatur ist voll von Erfahrungssätzen, die den Eindruck erwecken, es handele sich hierbei um biblische Lehre, verbindliche Lehrsätze. Hierin liegt meines Erachtens eine Grenzüberschreitung. Erfahrungen dürfen nicht zu einer biblischen Lehre umgepolt werden.

Andererseits sollten Erfahrungen nicht von vornherein als »unbiblisch« betitelt werden, weil sie nicht in der Bibel erwähnt werden. Eine derartige Argumentation wird als »biblizistisch« bezeichnet, nach dem Motto: Alles, was in der Bibel Erwähnung findet, ist real; alles, was nicht vorkommt, darf auch nicht vorkommen. Es ist erstaunlich, wie derartige biblizistische Argumentationswege immer wieder angeführt werden – und zwar gerade dann, wenn es um metaphysische Erfahrungen geht. Der Biblizist wiegt sich auf »sicherem Terrain«, indem er seinen Kenntnis- und Erfahrungsradius gleichsetzt mit dem der biblischen Zeugen. Der Heilige Geist hat dann lediglich noch die Aufgabe, die in der Bibel bezeugte Wahrheit zu erläutern und zu erklären. Weitere Konkretionen oder Zuspitzungen wird es nicht geben.

Recht so, möchte man meinen, mahnt doch die Heilige Schrift uns selber, dass wir nichts dazureimen dürfen:

»Ich bezeuge jedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches hört: Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind; und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung wegnimmt, so wird Gott seinen Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens und aus der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben ist« (Offb. 22,18–19).

Freilich, die Ausleger fragen zu Recht, ob sich diese Mahnung allein auf das letzte Buch der Bibel bezieht oder auf den gesamten biblischen Kanon. Hier soll darauf nicht näher eingegangen werden, allerdings ist festzuhalten, dass das inspirierte Wort Gottes nicht beliebig durch Offenbarungen oder Erfahrungssätze ergänzt, korrigiert oder verkürzt werden soll. Diese Mahnung bezieht sich vorrangig auch auf den Kern des Evangeliums, auf die Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Der Schreiber des Hebräerbriefes betont: »Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohn, den er zum Erben aller Dinge eingesetzt hat« (Hebr. 1,1–2). Ohne Zweifel gilt auch hier der Grundsatz: Es gibt keine neue Gottesoffenbarung, die nach der Offenbarung in Jesus Christus geschehen ist. Diese in der Bibel bezeugte Offenbarung wird durch keine andere Erkenntnis übertroffen oder korrigiert oder ergänzt. Es gibt keinen anderen Weg des Heils als allein durch den Christus der Heiligen Schrift.

Es ist der Geist Gottes, der diese eine Wahrheit durch das biblische Zeugnis an den Menschen heranträgt. Dieser Geist Gottes ist es jedoch auch, der offenbar noch »mehr« zu sagen hat.

Jesus spricht mit seinen Jüngern bei seinem Abschied über dieses »mehr«:

»Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird er nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, ist mein, darum sagte ich, dass er von dem Meinen nimmt und euch verkündigen wird« (Joh. 16,12–15).

Betrachten wir diese Aussage Jesu, so liegen auch hier unterschiedliche Deutungen nahe:

a) Offenbart der Geist Gottes nach dem Weggang Jesu noch Dinge aus der »ganzen Wahrheit«, die möglicherweise in der Bibel nicht bezeugt werden oder über das biblische Zeugnis hinausgehen?

 

b) Nimmt Jesus hier Bezug auf die Schriften des Neuen Testamentes? Sie sind ja nach seiner Himmelfahrt entstanden. Die Apostel legen in ihren Schriften Erkenntnisse dar, die – in den biblischen Kanon aufgenommen – dem Wahrheitsanspruch entsprechen.

c) Handelt es sich bei dem Reden des Heiligen Geistes nach der Himmelfahrt Jesu Christi lediglich um Konkretionen dessen, was er bereits mitgeteilt hat bzw. was er als verkörperte Wahrheit selber darstellte? So würde es im übertragenen Sinne bedeuten: »Ihr habt noch nicht alles gesehen und gehört von dieser großen Wahrheit, die vor euch steht. Aber der Heilige Geist wird euch das noch erklären.« Es ginge also nicht um eine zusätzliche Wahrheit, sondern um diese eine Wahrheit, die uns in Jesus Christus begegnet. So wäre auch der Nachsatz verständlich, in dem Jesus betont, dass der Heilige Geist keine andere Wahrheit vertreten wird.

Ich bin der Auffassung, dass die erste Deutung Gefahren in sich birgt und die Tür zu ergänzenden Offenbarungen öffnet, die dann – in logischer Konsequenz – auch mit gleicher Autorität vertreten werden müssten wie die biblischen Aussagen. Diese Argumentation finden wir zunehmend in pseudochristlichen Sekten, deren Anführer sich auf besondere Offenbarungen des Heiligen Geistes beziehen. Nein, diese Auslegung der Abschiedsworte wäre ein überaus gefährliches Unternehmen. Ich halte daran fest, dass die Kanonbildung der biblischen Schriften unter der Regie des Heiligen Geistes stand und nur diese für uns den Anspruch christlicher Wahrheit erheben dürfen.

Der Geist Gottes wird immer wieder darauf Bezug nehmen, aber er wird auch Konkretionen offenbaren. Das Abschiedswort Jesu aus Johannes 16,12 kann also nicht als Beleg dafür herangezogen werden, dass Erfahrungen, die in der Bibel nicht bezeugt sind, nun ihrerseits durch den Heiligen Geist inspiriert seien und genau den gleichen Anspruch haben dürften wie die biblischen Lehren. Vielmehr deute ich gerade dieses Wort als einen jesuanischen Hinweis auf das Wunder der biblischen Kanonbildung.

So bleibt die Frage: Wie sind dann die Erfahrungen zu deuten, die nicht in der Heiligen Schrift erwähnt werden, die uns aber von glaubwürdigen Christuszeugen der Gegenwart berichtet werden?

Nach den bisherigen Darlegungen können wir folgendes festhalten:

a) Es gibt Erfahrungen und auch metaphysische Erlebnisse, die im biblischen Zeugnis keine Erwähnung finden.

b) Diese Erfahrungen dürfen nicht zu Lehrsätzen erhoben werden, die den biblischen Aussagen in ihrer Verbindlichkeit und Autorität gleichgestellt werden.

c) Die Erfahrungen sollten jedoch auch nicht von vornherein als »unbiblisch« gelten, in dem Sinne, dass sie dem biblischen Zeugnis zuwiderlaufen oder gar widersprechen. Eine derartige biblizistische Argumentation würde konsequenterweise einen Großteil kirchlicher Praxis infrage stellen.

d) Erfahrungen müssen deshalb an dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift geprüft und gedeutet werden.

Wie können derartige Prüfungen und Zuordnungen aber geschehen? Hier seien drei Grundsätze genannt:

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