TENTAKEL DES HIMMELS

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Anna

Auf der Fahrt nach Hause wollte Anna alles hinter sich lassen, was ihre Nerven hätte strapazieren können. Eigentlich gab es doch nichts, was man nicht wegduschen konnte. Alle Belastungen abwaschen, wie Schweiß an sich hinunterfließen lassen und sie im Abfluss verschwinden sehen, Gefühle abspülen wie Schmutz – ihre Strategie seit acht Jahren.

Aber seit Kai Holzmanns Verschwinden gelang es ihr nicht mehr so gut. Der unauffindbare Kerl spukte wie ein Mahnmal in ihrem Kopf. Hatte er ihr gegenüber nicht das Undenkbare angedeutet – dass er aussteigen wollte? Als könnte man dort einfach kündigen und den Job wechseln! Wolff sollte zukünftig an seiner Stelle Geschäftsführer der Zentrale werden, was niemand anders erwartet hatte. Obwohl dieser Posten kaum mehr als eine Art Schulterklopfen für ihn bedeutete. Die rechte Hand Gottes! So hatte ihn Kai immer genannt. Gottes Vertrauter, der Einzige, der privat bei dem Padre ein- und ausging und der wirklich in absolut alles eingeweiht war.

Ihre Gedanken blieben bei Kai haften. Was war nur mit ihm geschehen? Irgendetwas sagte ihr, dass Wolff für sein Verschwinden verantwortlich war. Der Vorstellung darüber, wie genau er darin verstrickt sein könnte, verweigerte sie allerdings, zu Ende gedacht zu werden.

Anna parkte im Carport ihres kleinen Einfamilienhauses, öffnete die Wohnungstür einen Spalt und drückte erst einmal das dicke weiß-schwarz gescheckte Kaninchen mit einem Fuß sanft zurück in den Raum, bevor sie eintrat.

»Na, Merlin? Wie war dein Tag?«

Sie sah sich um. Das Tischtuch lag am Boden, der Staubsauger war umgekippt und das Sofakissen haarig.

»Ach, Merlin! Du bist ein stummes, hoppelndes Ungeheuer!«

Noch bevor sie die Jacke auszog, öffnete sie die Terrassentür, nahm einen halben Bund Möhren aus dem Kühlschrank und warf ihn samt Grün in den Garten. Der Riesenschecke sprang in weiten Sprüngen hinterher. Anna blieb kurz am Türrahmen stehen.

»Wenigstens bellst du nicht«, murmelte sie.

Dann lief sie ins Wohnzimmer zurück und hob das Tischtuch auf. Als sie das Kissen ausklopfte, stutzte sie.

»Seit wann stellst du hier die Möbel um?«

Misstrauisch betrachtete sie die Anordnung der Zierkissen auf ihrem Sofa – hatte das Rote heute früh nicht hinter dem Braunen gelegen? Stand dieses halb volle Glas Wasser auf dem Beistelltisch jetzt an einer anderen Stelle? Und der Tisch, war er nicht um einige Zentimeter verrückt worden? Ihr Blick wanderte durch den Raum, tastete die Möbel ab und glitt über den Teppich. Da war es wieder, dieses von tief innen emporkriechende Gefühl, jemand könnte in ihrer Wohnung gewesen sein, ihre Schränke durchsucht haben … womöglich sogar anwesend sein … Aber nein, die flachgedrückten Teppichfasern unter den Füßen ihres Wohnzimmertisches passten genau zur Stellung des Möbelstückes. Nicht zum ersten Mal bereute sie, dass sie so abgelegen wohnte. Damals fand sie das Haus gerade wegen der fehlenden direkten Nachbarn so attraktiv. Von ihrem Büro im Obergeschoss aus konnte sie die Straße sehen, aber sie war weit weg. Niemand würde es mitbekommen, wenn jemand hier eindringen würde.

Sie zwang sich, den Zustand der Wohnung nüchtern zu beurteilen, versuchte, Umschweife und ausufernde Gedankenketten zu unterdrücken, welche zu nichts anderem führen mussten als zu purer Angst. Im Grunde fand sie nichts, was nicht auch das große Kaninchen hätte durcheinanderbringen können – oder doch? Ihr Unbehagen blieb und Anna wurde wieder einmal klar: Seit Kais Verschwinden und Peter Torbergs überraschendem Selbstmord gab es kein Vertrauen mehr in ihr. Nicht eine Spur der Sicherheit, die sie bislang empfunden hatte. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass alles an ihrem lässig sachlichen Auftreten inzwischen zu einer Maske mutiert war. Sie trug ein Clownsgesicht, mit dem sie ihre Umgebung täuschte, mit dem sie jeden in ihrem Umkreis betrog – Betrug an sich selbst eingeschlossen. Was sie nach außen zeigte, hatte nichts mehr mit ihrem Innenleben zu tun.

Mit dem Kissen in der Hand ließ sie sich auf das Sofa sinken und schauderte bei der Aussicht, heute Abend aus diesem Zimmer hinaus in ein anderes gehen zu müssen. Wenn nun tatsächlich noch jemand hier war? Die Tür zur Diele lehnte nicht vollständig an, ein düsterer Spalt klaffte ihr entgegen. Dahinter: undurchdringliches, bedrohliches Dunkel. Alles ließ sich dort hineininterpretieren. Jede denkbare Gefahr wanderte aus ihrem Kopf in diese finstere Öffnung. Warum hatte sie sich noch immer keine Waffe angeschafft? Eine für die Handtasche, die sie stets hätte bei sich tragen können. Jetzt saß sie wehrlos hier und die aufkeimende Furcht, die sich schlängelnde Angst, gepflanzt von schlechtem Wissen und Gewissen … sie konnte sie nicht mehr ablegen wie früher.

»Verdammt, Merlin, vielleicht wärst du doch besser ein riesenhafter Hund«, flüsterte sie in die Stille des Zimmers hinein.

Alonso, der Padre – wie alle ihn nannten, sie selbst ihn aber niemals nennen würde – führte eine recht große Glaubensgemeinschaft an. In so vielen Städten standen inzwischen seine Gotteshäuser und Siedlungen. Seine Kirche des Lichts kroch leise durch das Land wie eine bösartige Schlange mit einem unscheinbar wirkenden Kopf, aber fleischigem Körper. Von Düsseldorf aus regierte er wie ein Papst über seine Anhänger und über sein kleines deutsches Imperium. Es gab viele Unternehmenszweige, nach denen er seine Finger ausstreckte, vorausgesetzt, es half ihm irgendwie weiter. Seine Macht war in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Niemand gebot ihm hier in Deutschland Einhalt. Sie dachte an die vielen Sympathisanten aus Abhängigkeit, seine bezahlten Unterstützer, Richter, Politiker … sie wusste von ihnen, kannte ihre Namen … wer, verdammt noch mal, würde sich da nicht verfolgt fühlen?

Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Seine Schäfchen hielt der Padre mit sozialen und realen Zwängen beisammen.

So ein dummes Schaf war sie selber aber nicht. Oh nein! Fest kniff sie in das Kissen auf ihrem Schoß. Ja, sie war eine derjenigen, die ihm gut bezahlt zur Seite standen, Teil der gut geführten Organisation. Für ihre Arbeit bekam sie ein Traumgehalt. Dafür war sie ihm Rechtsberaterin und Managerin auf all seinen Reisen. Das ließ sie zu gewissen Vorkommnissen ihren Mund halten. Es fiel bei dem Geld, das sie dafür bekam, nicht sonderlich schwer. Unbestreitbar verdiente sie mehr, als ihr Gewissen wert war.

Sie entließ das Kissen aus ihren Krallen und legte es zur Seite. Sich selbst etwas vorzumachen, war Unsinn. Letztendlich wusste sie, warum sie noch immer zu vielen Vorfällen schwieg. Aufhören und weggehen? Ihre lang ersehnte Traumreise um die Welt antreten? Das ging nicht mehr – sie wusste längst zu viel. Genau wie Kai zu viel gewusst hatte. Die schrecklichen Verbrechen, die er ihr kurz vor seinem Verschwinden in einem heimlichen Treffen hinter der Siedlung, im Regen zwischen Kirschlorbeeren und Kastanienbäumen, gebeichtet hatte – dass er Menschen im Auftrag des Padre bestraft hatte – sie wusste alles. Er wollte sogar gemordet haben für ihn. Doch das weigerte sie sich, zu glauben.

All das ließ die schleichende Furcht in ihrem Kopf zu, hinderte sie daran, ihr eigenes Bad ohne Angst zu betreten, bevor sie sich nicht zwanzigmal in der Wohnung umgesehen hatte. Sich Alonso entgegenzustellen, war gefährlich. Bisher war sie selbst von seiner strafenden Hand verschont geblieben. Wahrscheinlich dank ihrer Gabe, sich in der richtigen Dosierung anzupassen – nicht zu viel und nicht zu wenig. Doch sie schwankte. Sie balancierte auf einem schmalen Grat über einem sich immer tiefer aufreißenden Abgrund.

Lange Ohren wackelten vor der Terrassentür. Anna erschrak, als sie es im Augenwinkel bemerkte. Dann riss sie sich zusammen, stand auf und öffnete, um das hoppelnde Untier, das weder Hund noch wirklich Kaninchen sein wollte, in die Wohnung zu lassen. Na bitte, sie lebte ja nicht allein in Haus und Garten. Natürlich war dieses feige Zwölf-Kilo-Karnickel kein Schutz. Aber – idiotisch – sie fühlte sich dennoch ein kleines bisschen weniger ausgeliefert. Merlin hoppelte bedenkenlos vor ihr durch den finsteren Spalt der Dielentür. Wie sie dieses Tier beneidete, das sich um nichts als genügend Karotten und Streu Gedanken machte.

Mutig folgte sie ihrem Haustier in die Diele, tastete hastig nach dem Lichtschalter und hasste ihren heftigen Herzschlag währenddessen. Der kleine Gang war menschenleer – wie zu erwarten. Schnell knipste sie das Licht im angrenzenden Schlafzimmer an und wagte einen Blick hinein. Nichts schien angerührt, weder die zurückgeschlagene Bettdecke noch die halb geöffnete Wäschetruhe. Auch der Schrank, hinter dessen Tür sich ein gepackter Koffer versteckte, schien unangerührt. Langsam entspannte sie sich. Im Bad warf sie ihre Jacke über die Badewanne und griff in die Hosentasche. Zwei Fünfzig-Euroscheine, heute nach dem Einkaufen am Morgen zur Seite gelegt, um ihre Ersparnisse aufzufüllen, kamen zum Vorschein. Ein täglicher Betrag, den sie sich seit drei Jahren von ihrem Gehalt in bar abzwackte, um doch noch irgendwann ihre Weltreise anzutreten. Einhundert Euro, Tag für Tag. In bar, damit es auf keinem Konto auftauchte. Geld für den Fall, dass sie es einmal sehr eilig haben würde, von hier wegzukommen. Sie öffnete den Deckel einer großen, leeren Badeschaumflasche und stopfte die Geldscheine zu den anderen. Der größte Teil ihres Gesparten lag jedoch längst auf zwei Schweizer Bankkonten.

Auf das Duschen direkt nach der Arbeit verzichtete sie heute. Es ließ sich nichts mehr abwaschen. Die Zeiten waren vorbei, in denen sie die teuflische Schmiere abseifen konnte. Forschend betrachtete sie sich im Spiegel und überlegte, ob man ihre Mitwisserschaft an Alonsos widerlichen Machenschaften im Gesicht ablesen konnte. Dunkelblondes Haar, halblang und brav gebunden, dezent geschminktes Gesicht – darunter tiefliegende Augen, erste Falten um die Mundwinkel, zu keinem noch so kleinen Lächeln bereit, es sei denn, es wäre ein hämisches Grinsen. So hätte sie die verlockende Stelle damals sicher nicht bekommen.

 

Nach ihrem Jurastudium war sie unentschlossen gewesen. Eine sichere Anstellung hatte sie gesucht. Hätte sie doch nur das Angebot bei der Stadt angenommen! Stattdessen war sie auf Alonso hereingefallen, der ihr mit seinem großzügigen Geldsegen die Augen verschleierte, obwohl ihr bei seinem Anblick gleich unwohl im Bauch geworden war. Hätte sie vorhersehen können, dass sie sich einmal nichts mehr wünschen würde, als von hier zu verschwinden? Irgendwohin, um nur in Ruhe zu leben? Das Bauchgefühl trügt nicht, das wusste sie jetzt.

Torbergs Socken fielen ihr wieder ein, die sie unsinnigerweise mitgenommen hatte, in einem Anflug von Schadenfreude und Übermut. Mit spitzen Fingern zog sie das feuchte Etwas aus ihrer Jackentasche und schüttelte sich.

Torberg, dieser unbequeme, aufsässige Unruhestifter, und Alonso, sein scheinheiliger, steinharter Gegner, in unvergleichbar besserer Position … einerseits freute sie sich auf das bevorstehende Duell zwischen den beiden, andererseits ahnte sie, was aus einem Streit mit dem Padre erwachsen könnte. Immer größer wurde das Gefühl, Torberg warnen zu müssen. Dieser Sturkopf wusste nicht, mit wem er sich da anlegte, konnte es nicht wissen, sonst wäre er vorsichtiger gewesen. Das glaubte sie, wollte sie glauben – das musste so sein, denn so bescheuert oder so mutig konnte nicht einmal Torberg sein.

Teil 2

Lara

Gleich nach dem Aufwachen zündete Lara eine Kerze an. Die anderen fünf jungen Mädchen und zwei Männer ihrer Wohngruppe dösten auf ihren Futons. Sie schnarchten und wälzten sich müde unter ihren warmen Decken hin und her, hoffend, dass ihre Mentorin sie nicht so bald weckte.

Lara setzte sich im gekonnten Lotussitz auf die Reismatte, direkt vor den kleinen Altar, der als Mittelpunkt des schlichten Raumes die Augen aller Anwesenden sofort in den Bann zog. Ihre Fußsohlen zeigten in den Himmel, die Schultern waren weit, der Nacken locker. Mit den Händen formte sie einen flachen Kelch, um zu empfangen, was Gott ihr an diesem Morgen schenkte. Das Herzstück des Altars, die bronzefarbene Skulptur einer strahlenden Sonne, hellte sich im Schein der sich sanft wiegenden Kerzenflamme auf. Sie schloss die Lider und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich auf die Meditation einzustimmen. Ihre volle Konzentration galt nun dem Atem. Bald nahm sie nur noch die Luftbewegung wahr, die kaum merklich von ihrer Nase aus auf die Oberlippe strömte. Sie öffnete sich innerlich und registrierte mit entspannt geschlossenen Augen die Geräusche ihrer Umgebung: das Schnarchen, das Rauschen der Decken, Taubengegurre draußen. Ihr Geist nahm all das wahr, ohne es zu bewerten, ganz so, wie sie es gelernt hatte. Dann schickte sie ihn in Richtung Altar. Sie begrüßte die strahlende Sonne, bevor sie weiterwanderte, in einen virtuellen Gottesdienst, zu einem großen, segnenden Mann in weißem Gewand. In ihrer Meditation lächelte er sie an, wie ein Vater ein Kind anlächelt. Seine Liebe ergoss sich über sie, umhüllte ihren Körper und bildete einen Kokon, der sie vor allen Übeln der kapitalistischen Welt da draußen schützte.

Wie gern hätte sie den Padre berührt, wie bereitwillig noch einmal seine Hand auf ihrem Kopf gespürt, wie damals beim Segnen während der feierlichen Weihe. Wenn sie in der Zentrale, ein paar hundert Meter weiter, Unterlagen ihrer Schüler abgab, war sie ihm oft ganz nah. Manchmal konnte sie ihn durch die Glasscheiben eines der Büros sehen. Und doch blieb er stets unberührbar für sie, ein Symbol ihrer brennenden, ungestillten Sehnsucht. Wenn er sie nur mehr wahrnehmen könnte. In der Schar seiner Gläubigen blieb ihre besondere Hingabe zu ihm unentdeckt, wie ein Juwel unter tausend Halbedelsteinen. Lara überschüttete ihn geistig mit Liebe und guten Wünschen. Sie hätte alles getan, um seine Wertschätzung zu gewinnen.

Wie jeden Tag schloss sie den Padre in ihr Gebet zu Gott mit ein, damit er seine unendliche Weisheit behielte und seine Kirche des Lichts in diesem Land weiter wachse. Jeder hatte es verdient, erleuchtet zu sein, wie Lara selbst. Sie hätte am liebsten die ganze Welt bekehrt. Das Glück, das sie empfand – das hatte sie gelernt – lag in der Einfachheit ihres irdischen Daseins. Das hieß Arbeiten, Beten, Meditieren, für die Gemeinde da sein, die Menschen der Gemeinde lieben. Hier war sie wichtig. Als Mentorin nahm sie einen wichtigen Platz ein, für eine Anzahl der Jüngsten, der neuen Schüler auf Gottes richtigem Weg.

Kai tauchte in ihrer Versenkung auf. Lara zuckte. Kai hatte diesen Weg verlassen und den falschen eingeschlagen. Unglücklicherweise konnte sie seine Erscheinung nicht wieder abschütteln. Seine Gestalt blieb vor ihrem geistigen Auge, sosehr sie sich auch bemühte, ihn gehen zu lassen. Das war das Ende ihrer morgendlichen Meditation. Mit einer Mischung aus Ärger und Trauer löste Lara den Lotussitz und streckte die Beine langsam nacheinander aus. Sie lehnte sich zurück, mit den Händen auf der Matte abstützend, und legte den Kopf in den Nacken, sodass sich ihr Zopf in der Kapuze ihres goldschimmernden Pullovers einkringelte. Warum nur hatte er sie verlassen und das so beschämend. Ohne ein Wort war er gegangen. Kai hatte nicht nur sie verlassen, sondern die gesamte Gemeinde, den Padre, ihre komplette Welt. Bei dem Gedanken an ihn schossen Tränen in ihre Augen. Wie konnte er ihr das antun? Er war zum Verräter geworden. Das Schlimmste, was es gab. Schlimmer noch als die ungläubigen, habsüchtigen Menschen außerhalb der Kirche. Das warf auch ein schlechtes Licht auf sie selbst. Jeder wusste, dass sie ein Paar waren. Sein Vergehen war ihr Unheil. Immer wieder fühlte sie sich seither misstrauisch beäugt vom Familienältesten.

Lara seufzte gequält auf. Sie musste Kai vergessen. Er war es nicht wert, dass sie sich von ihm in der Meditation stören ließ. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Jetzt erst recht! Sie musste dem Padre zeigen, wie loyal sie ist. Lara stand mit leise knackenden Knien auf. Ihr nach unten gerichteter Blick wanderte über die eingekuschelten Körper ihrer Mitbewohner. Alle sieben waren ihr untergeben. Sie nannten sie nicht nur so, sie fühlte sich auch wie eine Mutter für sie. Diese Stellung hatte sie sich mit strenger Disziplin und großer Leidenschaft erarbeitet. Mentorin konnte nicht jeder werden. Dazu musste sie ihre tiefe Gläubigkeit und die Fähigkeit, anderen ein Vorbild zu sein, beweisen. Kai hätte ihr das fast verdorben. Niemals mehr wollte sie diesen Judas wiedersehen.

Sie klatschte laut in die Hände.

»Los, aufstehen, ihr Schlafmützen!«

Lara musste mehrfach klatschen, bis alle unter den warmen Decken hervorgekrochen kamen. Übermüdet zogen sie sich ihre weißen Kapuzenpullover über. Tiefe Ringe unter den Augen zeugten von zu wenig Schlaf. Ihre Blicke zeigten kaum Regsamkeit, doch sie setzten sich gehorsam um den Altar herum und begannen unter Laras Anweisung die morgendliche Meditation.

»Lea, sitz gerade! Du siehst aus, als ob du gleich einschläfst«, ermahnte sie ein Mädchen mit auffallend gekrümmter Haltung. »Ich kann gar nicht oft genug betonen, dass nur echte Hingabe zur Erfüllung führt.«

Sie ging zu ihr hin und fasste ihre Schulter an. Lea blickte erschrocken zu ihr auf.

»Komm doch bitte nachher zu mir, damit wir darüber sprechen.«

Schnell senkte Lea die Augen wieder. Nach der Ermahnung aber und der zu erwartenden moralischen Belehrung fiel ihr die richtige Versenkung ihres Geistes noch schwerer. Lara sah ihre Augäpfel unter den Lidern während der gesamten Meditation hin und her wandern.

»Lara!« Carstens Stimme zerschnitt die friedliche Atmosphäre der Meditationsgruppe.

Aufgeschreckt drehte sich Lara um. Der Familienälteste der Siedlung stand im Türrahmen und winkte ihr harsch zu. Offenbar hatte er sie und die Schüler unbemerkt beobachtet und sogleich spekulierte Lara, ob sie unbeabsichtigt etwas falsch gemacht hatte. Der überaus ernste Gesichtsausdruck prophezeite ihr ein eher unangenehmes Gespräch mit ihm. Warum nur? Die Unannehmlichkeiten der letzten Wochen seit Kais Verschwinden schienen kein Ende zu nehmen. Sie bemühte sich Tag für Tag, wieder gutzumachen, was Kai der Gemeinde angetan hatte. Was sollte sie denn noch tun, um ihre Treue und Zuverlässigkeit zu beweisen? Leise, um die anderen nicht in der Meditation zu stören, stand sie auf und näherte sich dem Familienältesten.

Der Mann mit der Halbglatze, den etwas zu langen Haaren und der stets kritischen Miene lebte seit der Gründung in dieser Siedlung. Vier Jahre also, bevor Lara hier ein Zuhause gefunden hatte. Sie respektierte ihn als ihren Lehrer, aber mochte ihn nicht besonders, denn sie fürchtete seine Vorträge über die Ansprüche der Gemeinde und ihrer mangelnden Fähigkeit, diesen zu genügen. Das geschah nicht nur in diskreten Gesprächen, sondern ebenso häufig in vielen Bemerkungen über diesen und jenen kleinen Fehler, der ihr unterlief.

»Warum gibt es immer wieder Probleme mit dieser Lea?« Er klang gereizt.

Sie hob ratlos die Schultern.

»Ich glaube, sie ist eine derjenigen, für die es ein sehr langer Weg sein wird, den Pfad der Jüngsten zu verlassen, um die Weihe zu empfangen«, sagte sie.

»So, wie es aussieht, wird sie es nie schaffen«, mäkelte Carsten.

»Vielleicht. Sie ist ein schwieriger Fall.«

»Du, als ihre Mentorin, bist verantwortlich dafür, dass sie funktioniert. Lea ist in jeder Hinsicht mangelhaft. Sie arbeitet langsam, sie ist ungeschickt, und sie bringt nichts ein. So ist sie für unsere Gemeinschaft eine Belastung. Sag ihr das! Sie muss sich schon anstrengen.«

Lara nickte nur. Ihm etwas entgegenzusetzen, stand ihr nicht zu.

Im Hotel

Greller Sonnenschein weckte Jan Torberg am nächsten Morgen. Er kniff die Augen zusammen und drehte sich zur Seite. Aber das Licht durchstach seine Lider, bevor er sie öffnete. Blinzelnd schickte er einen Blick zum Fenster und entdeckte Kemal Akdas, der sich mit ekelhafter Lebensfreude bemühte, die Vorhänge so weit wie möglich aufzureißen.

»Gleich verpassen Sie Ihr Mittagessen.«

Kemal streckte sich ausgiebig am offenen Fenster.

»Heute Nachmittag steht ein neues Treffen mit Herrn Alonso an. Die Herrschaften waren nicht gerade begeistert von Ihrem gestrigen Auftritt, aber ich habe mich richtig für Sie ins Zeug gelegt und die Wogen haben sich geglättet.«

Nun verging Jan erst recht die Lust, aus dem Bett zu steigen. Die Sache nagte schon jetzt an seinen Nerven. Unangenehme Angelegenheiten erledigte er am liebsten knallhart sofort oder gar nicht – meistens das Letztere. Obwohl er diese Sache selbst verzögert hatte, gefiel es ihm nicht, dass es sie noch gab. Um die Nase wehte ihm der kalte Novemberwind und er war froh um die bauschige Bettdecke auf seinem Körper. Kemal überkam indes der pure Leichtsinn. Er zog mit einem Ruck an dieser Wärmequelle, um Torberg aus dem Bett zu locken. Doch der reagierte schnell. An einem Zipfel bekam er sie zu fassen und er klammerte sich daran fest. Kemal ließ nicht los. Er zog, legte sein ganzes Gewicht in sein Vorhaben, gewann, und lag schließlich mit seiner flauschigen Beute an der Tür. Blitzartig folgte ihm ein Kissen, ein unbenutzter Wecker verfehlte seine Stirn, und ein Turnschuh traf ihn schmerzhaft am Oberarm. Ohne zu zögern, hätte ihm Jan auch die Nachttischlampe nachgeworfen, wenn nicht das Hoteltelefon geläutet und ihn abgelenkt hätte.

Kemal waren die überschüssigen Reaktionen seines Chefs eine Nummer zu hart. Freund oder Feind? Für ihn war das nicht einschätzbar. Beleidigt suchte er an seinem Arm nach blauen Flecken und verließ fluchend das Zimmer. Sollte Torberg doch den gesamten Tag lang schlafen! Innerlich verklagte er ihn wegen gefährlicher Körperverletzung.

Das Telefon läutete und verstummte mehrmals. Seufzend kam Jan unter dem Bett hervor, wo er vergeblich nach seinen Socken gesucht hatte. Langsam näherte er sich dem Störenfried. Immer noch hoffte er, dass der Anrufer aufgab, doch letztlich ging er ran.

»Torberg!«

Seine Stimme klang so, wie er sich fühlte: ungeduldig und wütend. Die Anruferin war für einen Moment dermaßen irritiert, dass sie einige Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Doch bevor sie sich mit Namen melden konnte, versiegte die Geduld ihres Zuhörers. Er wartete genau diese Sekunden ab, um krachend aufzulegen.

 

Sprachlos saß Anna mit ihrem Smartphone in der Hand im Büro. Zweifel stiegen in ihr hoch, ob Torberg es wirklich wert war, gewarnt zu werden. Warum ließ sie nicht den Ereignissen ihren Lauf, wie sie es immer tat? Wichtig war für sie doch nur ihre eigene Sicherheit und die hätte sie mit diesem dämlichen Anruf an Torbergs Hoteltelefon fast gefährdet. Als sie ihr Handy einsteckte, war sie längst froh über das Misslingen ihrer Aktion. Nebenbei hatte sie das beste Alibi, das ihr Gewissen brauchte: Sie hatte es versucht! Alles andere war allein Torbergs Sache und sie würde sich heraushalten. Verächtlich warf sie ein Paar muffige Socken auf den nächstbesten, ziemlich hohen Aktenschrank.