Sonne, Mond und Troll

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Meerwasser


Wellen schoben sich erwartungsvoll in Richtung der Felseninsel, hüpften ungeduldig vorwärts und wischten sich aufgeregt die widerspenstigen Schaumkronen aus den glitzernden Augen, die ihnen so übermütig die Sicht versperrten. Dort vorne war ihr Ziel, war es immer gewesen. Die einsame Felseninsel, die sich inmitten des endlosen Ozeans erhob. Leichtfüßig sprangen die Wogen voran, näherten sich tänzelnd der felsigen Formation. Die Weite des Meeres wollten sie hinter sich lassen und neue Erkenntnisse gewinnen. Wie fühlte es sich an, einen Stein zu berühren? Welch unbekannte Melodien konnte man erschaffen, indem man sich durch Spalten und Ritzen zwängte? Fühlte man sich einsam, wenn man als Pfütze in einer Senke zurückblieb, in einer Mischung aus Erregung und Furcht vor der Anziehungskraft der Sonne und einer weiteren Reise – hinauf in den Himmel und zurück? Fest stand jedenfalls, dass man viel zu erzählen hatte, wenn man die Freiheit endlich wiedergewann und heimkehrte in die endlose Weite des Ozeans. Wenn man sich erneut in die Wellen mischte und gemeinsam mit den unzähligen anderen Wassertropfen Ausschau hielt nach einem neuen Ziel, einer neuen Erfahrung.

Wasser. Das ganze Land bestand aus Wasser.

Zwar war ich froh, dass die Nässe nicht mehr in Form von Regen herabrieselte – freute ich mich nun wieder zu früh? – aber dennoch irritierte mich die feuchte Nachtluft genauso wie das unaufhörliche Rauschen der Wellen. Ich hatte die Felsformation, auf der ich mich befand, komplett umrundet und wusste nun, dass sie vollständig von Wasser umgeben war.

Wasser, das brodelnd in Kessel floss, die die Zeit aus dem Fels gegraben hatte. Wasser, das sich zischend durch Löcher und Spalten im Stein drängte, um ihn noch weiter auszuhöhlen. Wasser, das sich tobsüchtig gegen die Klippen warf, um der steinernen Barriere die eigene Macht und Stärke zu beweisen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Felseninsel nicht mehr existieren würde. Natürlich dachte ich dabei in Epochen und nicht in Jahren oder Jahrhunderten. Aber irgendwann würde der Ozean den Kampf gewinnen. Das Wasser würde den Stein brechen.

Mutlos war ich nach meiner Inselumrundung zu dem Ort zurückgekehrt, an dem ich mich mit dem Troll vor dessen Verschwinden unterhalten hatte.

Ich setzte mich auf den Felsen, der meinem einstigen Reisebegleiter bereits als Hocker gedient hatte, und stützte mein Kinn in die Hände, um gedankenverloren in die Ferne zu blicken.

Nicht, dass mir das etwas genützt hätte. Auch wenn ich den kleinen Kerl nachahmte, so blieb mir doch sein Wissen verborgen. Was sollte ich also tun?

Die Geschichte, die er mir anvertraut hatte, war unglaublich. Doch ich beschloss, sie dennoch als Wahrheit anzuerkennen. Irgendeinen Grund musste es schließlich dafür geben, dass ich mich mitten im Dezember auf eine Reise nach überall und nirgends gemacht hatte. Warum dann also nicht die Geschichte des Trolls als wahr hinnehmen? So weit, so gut. Aber wie ging ich nun vor?

Auf meine Frage, wo ich mit der Suche nach der Tochter des Mondes beginnen sollte, hatte ich nur eine unzureichende Antwort bekommen. Nicht in Meerwasser. Nun ja, ich hatte auch nicht vorgehabt, in den endlosen Weiten des Ozeans schwimmen und tauchen zu gehen, um dabei nach einem verloren gegangenen Kind Ausschau zu halten. Aber sehr viel mehr als Wasser schien es hier nicht zu geben. Überall und nirgends war eine Enttäuschung. Wasser und eine Felseninsel. Na schön, den Glanz der Sterne in den Wellen widergespiegelt zu sehen, hatte seinen ganz eigenen Reiz. Aber diese Welt war klein. So klein, dass ich nicht wusste, wo ich die Tochter des Mondes überhaupt suchen sollte. Sie würde sich doch nicht in einer der Felsnischen verborgen halten?

Unwillig rappelte ich mich auf und begann mit einer erneuten Umrundung der kleinen wellengepeitschten Insel. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte. Fels, Stein und Wasser. Weder fand ich ein Flussufer, noch einen Wald aus Bäumen oder irgendein Grasland. Die Antwort, die mir der Troll gegeben hatte, ergab einfach keinen Sinn.

In Gedanken versunken, die mich nicht weiterbrachten, hatte ich mich der Stelle genähert, an der ich meinen einstigen Reisebegleiter zuletzt gesehen hatte. Hier, an diesem kahlen Fleck, war er ganz plötzlich verschwunden. Hatte sich sozusagen in Luft aufgelöst. Ob er wohl wieder in meine Welt zurückgekehrt war? Mit einem kurzen Aufflackern von Sehnsucht dachte ich an mein warmes Bett, die gut gefüllte Speisekammer und ein sinnvolles Leben. War es denn ein sinnvolles Leben?, wagte es eine kleine Stimme in meinem Innern doch tatsächlich nachzuhaken. Die Antwort darauf fiel mir schwer. Vielleicht hatte es doch mehr Sinn, weiter nach der Tochter des Mondes zu suchen. Das Dröhnen der Wellen, die gegen die kleine Felseninsel brandeten und die gischtende Feuchtigkeit, die dieser Welt – überall und nirgends – innewohnte, hatten schon beinahe etwas Heimeliges. Ich gewöhnte mich wirklich erstaunlich schnell daran, auf einer unbewohnten felsigen Insel inmitten eines endlosen Ozeans zu stehen.

Das Licht um mich herum begann, sich zu verändern. Zögernd wichen die Sterne der Morgendämmerung. Das wogende Wasser verlor seinen glitzernden Schmuck und färbte sich stattdessen orange. Ich wartete auf die aufgehende Sonne, darauf, dass sich ein orange-roter Ball am Horizont erhob, dort, wo Meer und Himmel einander umschlangen. Doch nichts geschah. Nur meine Geduld verflüchtigte sich zusehends, als der Ozean, der die kleine Felseninsel umspielte, mir von einer Morgendämmerung erzählte, die wunderschön gewesen wäre – wenn sie denn auch eine aufgehende Sonne beinhaltet hätte. Doch nur das Wasser wechselte von orange zu rot und dann von lila zu blau.

Die Sonne hätte nun über mir am Himmel stehen müssen, doch da war sie nicht. Ich dachte an den fehlenden Mond während der vergangenen Nacht und grübelte darüber nach, ob denn auch die Sonne in Trauer war und deshalb ihr Erscheinen verweigert hatte. Leider kam ich zu keinem Ergebnis. Dazu wusste ich einfach zu wenig über diese Welt. Ich begann tatsächlich, mich nach dem grummeligen Troll zu sehnen, dessen Antworten zwar keine große Hilfe gewesen waren, der aber zumindest mit mir geredet hatte. Einsamkeit überkam mich in dieser mond- und sonnenlosen Welt. So wie ich das sah, gab es nur noch eine einzige Möglichkeit. Ich würde überall und nirgends verlassen, um in meine Welt zurückzukehren. Vielleicht konnte ich dort irgendwo den Troll auftreiben, der mich hierhergebracht hatte und mit ein bisschen Glück bekam ich endlich ein paar Antworten, die mir tatsächlich weiterhalfen.

Gedacht, getan. Ich befand mich noch immer an eben jener Stelle, die dem Troll als Übergang gedient hatte. Wenn mich nicht alles täuschte, waren wir hier auch in diese Welt gelangt. Also brachte mich das Kaugummitor hoffentlich genauso zuverlässig wieder zurück.

Mit ausgestreckten Armen bewegte ich mich über den Felsen und ertastete bald das, was ich gesucht hatte. Ein zähes, klebriges Etwas, das die Luft um sich herum ganz leicht zum Flimmern brachte. Gerade so, als würde man die Umgebung durch eine Glasscheibe wahrnehmen, die seltsamerweise auf einer Felseninsel inmitten des Ozeans stand. Ohne Rahmen. Ohne erkennbaren Nutzen. Und doch so wichtig, wenn es sich hierbei tatsächlich um den Übergang handelte, der mich zurück in meine Heimat, in meine Welt, bringen würde.

Ich hielt die Arme weiterhin ausgestreckt – mein gelber Mantel flatterte im Wind – und trat in das kaugummiartige Gebilde. Die Durchquerung war anstrengend. Ohne die Hand des Trolls, der mich durch das erste Tor mehr oder weniger gezogen hatte, kostete mich das Durchdringen der zähen Masse mehr Kraft, als ich gedacht hatte. Aber es gelang mir. Meine Hände und Arme stießen zuerst aus der elastischen Substanz heraus. Ein Luftzug strich über sie. Gleichzeitig begannen sie sich zu erhitzen. Was war dort draußen los? So schnell wie möglich kämpfte ich mich weiter und schob schließlich meinen kompletten Körper aus dem Tor.

Sengende Hitze erwartete mich. Eine riesige gelbe Sonne stand an einem Himmel, der von einem solch grellen Blau war, dass es in den Augen brannte. Unter meinen Schuhen tummelten sich unzählige Kieselsteine. Kleine Steinchen bedeckten auch bereits meinen Mantel und wurden mir von den Windböen schmerzhaft ins Gesicht geschleudert. Entsetzt blickte ich mich um. Doch es gab nichts zu sehen. Zumindest nichts außer Steinen. Steine, so weit das Auge reichte. Ich war nicht zu Hause. Das Tor hatte mich in die Wüste geschickt.

Steinwüste


Er verließ das kleine Häuschen, das er sich aus unzähligen Steinen zusammengeschustert hatte und kniff die Augen zusammen, als ihn das grelle Licht der Sonne blendete. Nicht etwa deshalb, weil er überrascht gewesen wäre. Die Ungastlichkeit der Welt konnte ihn schon lange nicht mehr schockieren. Eher geschah es als unbestimmte Auflehnung gegen die Widrigkeiten seines Lebens. Allen Lebens in dieser endlosen Steinwüste.

Der Riese hob die rechte Hand und kratzte sich ausführlich den zottigen Bart, der unsanft sein Gesicht bedeckte. Er konnte froh sein, dass Riesen keinen allzu schnellen Haarwuchs hatten. Sonst würde ihm der Bart vermutlich schon bis an die Brust reichen. Und das trotz seiner Körpergröße. Aber wie, zum Teufel, sollte er sich einen Bart rasieren, wenn es in dieser seiner Welt nicht einmal genug Wasser gab, um regelmäßig etwas trinken zu können?

 

Mit schlurfenden Schritten setzte sich der Riese in Bewegung und durchquerte das kleine Tal, das zwischen zwei Steinbergen eingepfercht lag. Es war ein guter Ort. Die beiden Berge sorgten dafür, dass sein Haus zumindest einen halben Tag lang im Schatten lag und nicht der sengenden Sonne ausgesetzt war.

Als der Riese das Tal verließ, führten seine Schritte ihn durch eine gewaltige Kuhle. Auf der einen Seite hinunter und auf der anderen Seite hinauf. Der selbe Weg wie an jedem Tag. Hinter dem großen Krater lag die Steinwüste. Es war lange her, dass der Riese versucht hatte, dieses Gebiet zu erkunden. Trostlos war es und trocken. Und außer Steinen hatte er dort nichts gefunden. Rein gar nichts.

Der Riese wandte sich nach links und ging am Rand der Kuhle entlang bis er zu einem weiteren Berg kam. Dort, am unteren Ende des Berges, befand sich ein Relikt aus grauer Vorzeit. Etwas, das bis vor einigen Monaten höchst zuverlässig das Überleben auf dieser Welt gesichert hatte. Etwas, das nicht mehr funktionierte.

Langsam näherte sich der Riese dem stählernen Konstrukt, das dort aus dem Berg ragte und wie ein riesiger Wasserzufluss aussah. Vor dem Gebilde fiel er erschöpft auf die Knie und streckte seine zittrigen Hände aus. Er hielt sie direkt unter die Öffnung des Rohres, rieb sie gegeneinander und hoffte. Nichts geschah.

Der Riese blieb dennoch, wo er war. Er knetete seine Hände, fuhr sich über die rissigen Handflächen und die großen trockenen Finger. Wieder und wieder. Im Geiste waren seine Hände nass, doch in Wirklichkeit verrieb er nur die kleinen Steinchen, die der Wind ihm zwischen die ineinander verknoteten Finger blies, zu bröckelndem Sand.

Schützend hob ich meinen Arm und legte ihn über mein Gesicht. Die kleinen Steinchen, die der Wind durch die Luft wirbelte, verursachten auf meinem gelben Mantel leise prasselnde Geräusche.

Eines war nun klar. Das Tor funktionierte nicht nur zwischen meiner Welt und der Felseninsel, von der ich gerade kam. Wie es aussah, führte es noch zu anderen Welten. Wie viele Welten?, hörte ich eine eindringliche Frage aus meinem Kopf, die ich lieber auf später verschob. Das war gesünder.

Erst einmal musste ich mich mit dieser Wüste auseinandersetzen, die ganz und gar aus Steinen zu bestehen schien. Ich lugte unter dem Ärmel meines Mantels hervor und drehte mich einmal im Kreis. Erleichtert atmete ich auf. Vor mir erstreckte sich eine endlose steinige Weite, aber hinter mir – und hinter dem leichten Flimmern des Übergangs – erhoben sich Berge. Berge, die sich – wie konnte es auch anders sein – aus unzähligen Steinen aufgetürmt hatten.

Ich setzte meinen Rucksack ab und zog das Handtuch hervor, das ich eingepackt hatte. Wie einen Turban schlang ich es mir um den Kopf und bedeckte auch einen Großteil meines Gesichts damit, um mich vor dem Steinhagel zu schützen, der auf dieser Welt zur natürlichen Wetterlage zu gehören schien.

Um die Stelle wiederzufinden, an der sich die gläserne Pforte befand, schichtete ich die größten Steine, die ich finden und auch bewegen konnte, zu einer Pyramide auf. Dann wandte ich mich nach einem letzten zufriedenen Blick auf mein steinernes Symbol in Richtung der Berge. Vielleicht wartete dort irgendwo die Tochter des Mondes auf ihre Rettung.

Der Weg war mühsam. Als ich den ersten Berg erreichte und begann, ihn zu erklimmen, machten mir nicht nur die sengende Hitze und die ratternden Steinangriffe zu schaffen, sondern auch der bewegliche Untergrund. Für jeden Schritt, den ich nach oben tat, rutschte ich einen halben zurück nach unten. Meine Schuhe fanden auf den Kieselsteinen einfach keinen richtigen Halt.

Als ich etwa auf halber Höhe angekommen war, begann ich, den Berg zu umrunden. Lieber wollte ich mich erst auf der anderen Seite umsehen, als einen möglicherweise überflüssigen Aufstieg zum Gipfel zu absolvieren. Von einem Gipfelbuch hatten die hier sicher auch noch nichts gehört.

Die Umrundung des Berges erwies sich als ebenso heikel, aber weniger frustrierend. Auf der anderen Seite angekommen, erkannte ich am Fuß des Berges ein schmales Tal, das sich erfolgreich zwischen mehrere Steinhügel gezwängt hatte. Und in diesem Tal – befand sich dort etwa eine Hütte? Wenn ja, dann war sie nicht nur gut versteckt – aus dem einfachen Grund, weil sie genau wie ihre Umgebung aus Steinen zu bestehen schien – sondern besaß auch riesige Ausmaße. Auf jeden Fall war es ein Ziel. Und so lenkte ich meine Schritte in Richtung der merkwürdigen Behausung.

Je näher ich kam, desto unglaublichere Ausmaße nahm die Steinhütte an. Wenn hier jemand wohnte, musste derjenige groß sein. Sehr groß. Diese Überlegung machte mir Angst. Ich verlangsamte meine Schritte und überdachte mein Ziel. Aber mangels einer echten Alternative beschloss ich, meinen Weg dennoch fortzusetzen. Der Entschluss überraschte mich. In meinem bisherigen Leben war ich nicht unbedingt der risikofreudigste Mensch gewesen. Aber vielleicht veränderte man sich ja, wenn man von einem Troll auf eine merkwürdige Reise mitgenommen wurde.

Langsam pirschte ich mich an die riesige Behausung heran. Ich achtete darauf, dass man mich von innen durch die großen Löcher, die wohl Fenster darstellen sollten, nicht sehen konnte. Als ich die größte Öffnung erreichte, stellte ich mich dicht an die steinerne Mauer und lugte vorsichtig hinein.

Durch die vielen Löcher drang genug Licht ins Innere der Behausung, um mir einen Blick auf das Mobiliar zu ermöglichen, das komplett aus Steinen zusammengeschustert war. Ich erkannte ein Steinbett, das für meine Begriffe überaus ungemütlich zu sein schien. Es stand direkt neben einer steinernen Truhe, deren steinernen Deckel ich niemals hätte anheben können. Eine große Steinplatte auf unzähligen übereinander gehäuften Steinen diente wohl als Tisch und eine kleinere Version davon als Stuhl. Ich zählte einen einzigen Stuhl. Also gab es hier nur einen Bewohner? Da dieser im Augenblick jedoch nirgends zu sehen war, wagte ich mich ins Innere der Behausung. Fasziniert sah ich mich dort weiter um. Da gab es Teller aus Stein, ausgehöhlte steinerne Schüsseln und scharfkantige Steinmesser.

Ich war gerade dabei, ein paar Bilder zu betrachten, die Sonne, Mond und Sterne darstellten und mit einer Art Kohle auf dünne Steinplatten gemalt waren, als sich auf einmal der Eingang verdunkelte.

Hastig wandte ich mich um, aber mein entsetzter Schrei blieb mir im Halse stecken. In der Türöffnung stand ein bärtiger Riese, dessen dunkle Augen zornig funkelten. Instinktiv wich ich zurück, bis ich mit dem Rücken an die Steinwand stieß.

Ein beißender Geruch nach ungewaschenem Körper kam mir von dem riesenhaften Geschöpf entgegen, als es sich nun bückte, um seine große Gestalt durch den Eingang ins Innere der Hütte zu quetschen. Panisch sah ich mich nach einem Fluchtweg um. Mein Blick fiel auf eine der Fensteröffnungen, die nicht allzu weit von mir entfernt war. Ich schloss kurz die Augen, sprach mir selbst Mut zu und rannte dann genau in dem Moment los, in dem sich der Riese wieder aus seiner gebückten Haltung erhob und sich suchend nach mir umschaute.

Wie von Furien – oder Riesen – gehetzt, eilte ich zu dem Loch in der Wand, stützte mich auf dem Rahmen ab und zog mich dann hoch. Mehr fiel ich durch die Öffnung, als dass ich elegant hindurchsprang, aber das war mir egal. Ohne mich nach dem zornigen Riesen umzusehen, rappelte ich mich auf der anderen Seite des Fensters wieder hoch und hastete davon.

Nun verfluchte ich den steinigen Untergrund, der es mir unmöglich machte, so schnell zu fliehen, wie ich es gerne getan hätte. Zwei Schritte vor, einen zurück. Zwei Schritte vor, einen zurück. Dann noch mit der Schuhspitze an einem hervorstehenden Stein hängengeblieben und ins Straucheln gekommen … ich begann mich darüber zu wundern, dass mich der Riese mit seinen viel längeren Beinen noch nicht eingeholt hatte.

Am Ende des Tals angekommen, sah ich zurück. Der Anblick, der sich mir bot, war beinahe traurig. Da stand der Riese vor dem Eingang zu seiner Steinhütte und schaute mir nach. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war aus dieser Entfernung nicht mehr zu erkennen, aber das ganze Bild vermittelte eine solch unfassbare Einsamkeit, dass ich mich tatsächlich bei dem Gedanken ertappte, umzukehren und dem riesenhaften Geschöpf meine Freundschaft anzubieten.

Dann erinnerte ich mich an den Zorn in seinen Augen und beschloss, dass ich doch besser anderswo weiter nach der Tochter des Mondes suchen sollte.

Also verließ ich das ungastliche steinerne Tal und schritt – oder rutschte – einen Abhang hinab in eine riesige Senke, die ich durchquerte. Auf der anderen Seite angekommen krabbelte ich mühsam wieder aus ihr heraus und blickte mich unentschlossen um. Was ich nun brauchte, war ein neues Ziel. Aber was gab es hier schon außer unzähligen Steinen und einer sengenden Sonne, die den Aufenthalt in diesem Land nahezu unerträglich machte?

Auf einmal verspürte ich einen Durst, wie ich ihn bis zu diesem Augenblick noch nicht gekannt hatte. Die Hitze zusammen mit meiner Flucht vor dem Riesen hatte mich regelrecht ausgedörrt. Zum Glück hatte ich eine Flasche mit Wasser in meinem Rucksack.

Gerade als ich nach hinten greifen und mein Gepäck absetzen wollte, sah ich es. Es war ein kurzes Aufleuchten im Licht der Sonne und kam vom Fuß des Berges, der ein Stück weiter am Rand der Senke lag.

Neugierig geworden verschob ich mein Vorhaben auf später. Zuerst wollte ich wissen, was dort drüben in einer Welt, die nur aus Stein zu bestehen schien, im Sonnenlicht funkelte.

Anfangs vermochte ich es nicht auszumachen. Doch als ich näher kam, entdeckte ich eine Art steinernen Trog, der dort am Fuß des Berges stand. Er sah aus wie eine Pferdetränke. Aber was für einen Sinn hätte eine Pferdetränke in dieser Einöde? Das stählerne Rohr, das darüber aus dem Berg ragte, irritierte mich zutiefst. Stahl in einer Steinwüste? Und wozu war das Rohr gut? Erst in diesem Moment fiel mein Blick auf den kleinen Wasserhahn, der seitlich am Rohr angebracht war. Verwirrt beugte ich mich nach vorne und streckte meine Hand aus. Einen kurzen Augenblick lang zögerte ich, den Hahn zu drehen. Schließlich war nicht gesagt, dass da irgendetwas Gutes herauskommen würde. Was wusste ich schon von den Gesetzen dieser fremden Welt!

Doch dann siegte meine Neugier und ich drehte das kleine stählerne Rad. Ich musste all meine Kraft aufwenden, um es überhaupt voranzubringen. Fast kam es mir so vor, als wäre der Hahn lange nicht mehr in Gebrauch gewesen. Sehr lange. Aber mit einem durchdringenden Kreischen setzte er sich schließlich in Bewegung und ließ sich einige Male um sich selbst drehen.

Zuerst geschah gar nichts. Ich stand vor dem Rohr und war mir nicht sicher, ob es nicht vielleicht klüger gewesen wäre, irgendwo in Deckung zu gehen. Hinter einem Stein zum Beispiel? Aber ganz plötzlich hörte ich es. Ein leises Gluckern im Berg, das langsam lauter wurde. Es war, als würde etwas näherkommen. Etwas, das lebhaft vor sich hinplätscherte und so gar nicht in diese sonnengepeinigte steinhagelnde Wüste passte. Wasser …!

Ich wusste es, noch bevor es munter vor sich hin trällernd aus dem stählernen Rohr schoss. Und als es das tat, konnte ich nicht anders, als freudig zu lachen. Noch immer ein wenig ungläubig fasste ich mit beiden Händen in das lebenspendende Nass, spielte mit dem nicht enden wollenden Fluss, der so plötzlich zum Leben erwacht war und wischte ein paar Schmutzflecken von meinem gelben Mantel.

Ich war so damit beschäftigt, mich über das klare Bergwasser zu freuen, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich beobachtet wurde.

Schon wandelte sich die Luft um den steinernen Trog, der sich stetig füllte. Wasser, das von der Sonne angezogen wurde, erhob sich in die Lüfte und schenkte der Welt eine Feuchtigkeit, die noch vor kurzem undenkbar gewesen war.

Wieder tauchte ich meine Hände in das kalte Nass und nahm einen kräftigen Zug von dem klaren Wasser. Es schmeckte wunderbar! Ich füllte meine Hände gerade ein zweites Mal, als sich plötzlich eine riesige Pranke auf meine Schulter legte. Das ungewohnte Gewicht ließ mich widerstandslos in die Knie gehen.

Furchtsam blickte ich mich um, doch was ich da hinter mir sah, war nicht angsteinflößend. Na ja, oder nicht so sehr wie ich befürchtet hatte.

Hinter mir stand der Riese, der mich in seiner Hütte überrascht hatte. Seine Hand lag auf meiner Schulter, aber seine Augen sahen mich nicht an. Sie waren fest auf das sprudelnde Wasser gerichtet, das da auf einmal aus dem Berg geschossen kam und den Trog nun schon beinahe komplett gefüllt hatte.

 

Am Wegrennen gehindert stand ich ganz still und wartete darauf, dass mich der Riese vielleicht doch noch irgendwann bemerkte. Doch stattdessen bemerkte ich etwas. Eine riesengroße Träne, die der hünenhaften Gestalt über die bärtige Wange rann und dann von seinem Kinn tropfte.

Als mich der Riese aus seiner Umklammerung entließ, hätte ich zwar fliehen können, aber irgendetwas sagte mir, dass dies gar nicht nötig war.

Stattdessen beobachtete ich ergriffen, wie das große Geschöpf neben mir auf die Knie sank und seine beiden riesigen Hände unter den Wasserstrahl hielt. Er rieb sie gegeneinander, knetete sie und fuhr sich über die Handflächen, in denen sich bereits das Wasser staute, und über die großen nassen Finger. Wieder und wieder. Es war, als hätte er diese Bewegungen unzählige Male zuvor gemacht. Als wären sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Mir wurde bewusst, dass bereits weniger Steinchen gegen das Handtuch geschleudert wurden, das ich immer noch um den Kopf gewickelt trug. Wahrscheinlich hinderte sie die zunehmende Luftfeuchtigkeit an ihren kecken Flügen.

Der steinerne Trog hatte sich nun endgültig gefüllt. Ich überlegte, ob ich den Wasserhahn wieder abstellen sollte und bewegte meine Hand in die entsprechende Richtung, als mich der Riese am Arm packte und von meinem Vorhaben abbrachte.

Er hielt mich fest, während wir beide beobachteten, wie das Wasser über den Rand des Troges lief und als Rinnsal weiter in die Senke plätscherte, die sich genau daneben befand. Es dauerte eine Zeitlang, bis es seinen Weg zum Grund der Senke gefunden hatte. Und es dauerte noch länger, bis es anfing, sich dort unten in einer Pfütze zu sammeln. Aber dies war der Moment, in dem ich es begriff.

Nicht nur der Trog war ein Wasserbehälter. Auch diese seltsame Senke war es. Wenn das Wasser so weiterfloss, würde sich dort unten zu gegebener Zeit ein See bilden. Und einen See konnte diese Welt nun wahrlich gebrauchen!

„Danke“, flüsterte der Riese und erschreckte mich durch diesen plötzlichen Beginn einer Kommunikation.

„Keine Ursache“, antwortete ich perplex. Was sollte man einem Riesen auch sonst antworten?

„Wirst du mich in mein Haus begleiten und mir beim Essen Gesellschaft leisten?“, lud mich der bärtige Hüne ein. Ich nickte nur.

Etwa eine Stunde später wünschte ich mir, ich hätte die Einladung abgelehnt. Dann nämlich, als mir der Riese zermahlene Steinsuppe und gebackene Bratsteine servierte. Aber da war es schon zu spät, die steinerne Mahlzeit knirschte mir zwischen den Zähnen und ich hoffte, meinen Gastgeber nicht allzu sehr zu brüskieren, wenn ich von den angebotenen Speisen nur wenig zu mir nahm. Vielleicht konnte ich mich mit meinem winzigen Magen herausreden.

„Was wird jetzt mit dem Wasser geschehen?“, versuchte ich den Riesen von unserer gemeinsamen Mahlzeit abzulenken.

Das große Geschöpf, das mir zuliebe auf dem Boden Platz genommen und mir den einzigen Stuhl überlassen hatte, sah mich an. „Es wird die Senke füllen und den See bilden, der dort zu sein hat. Dann ist diese Welt wieder im Gleichgewicht. Es wird immer genau so viel Wasser von der Sonne entführt werden, wie aus dem Berg fließt.“

Ich nickte nachdenklich. Das enthielt durchaus einen tieferen Sinn. Aber etwas verstand ich noch nicht.

„Wieso hast du den Wasserhahn nicht aufgedreht?“, wollte ich wissen.

Das Gesicht des Riesen nahm einen verdutzten Ausdruck an. „Welchen Wasserhahn?“

Verwirrt blickte ich ihn an. „Den, der sich an der Seite des Rohres befindet.“

Der bärtige Hüne schüttelte den Kopf. „Er muss so klein sein, dass ich ihn nicht wahrnehmen kann“, meinte er bedauernd.

Ich starrte meinen Gastgeber an. So einfach war sie also, die Erklärung. Und auch – so schwer.

Auf der Suche nach Worten, die dem Riesen mein Mitleid kundtun würden, öffnete ich den Mund. Doch irgendetwas an der Arglosigkeit des Anderen ließ mich keine Worte finden. Es schien, als würde der Riese seine eingeschränkte Perspektive einfach so hinnehmen. Es war, als würde er nicht einmal auf die Idee kommen, sie ändern oder erweitern zu wollen. Also hielt ich mich ebenfalls zurück.

„Warum bist du gekommen?“, fragte mich mein Gastgeber plötzlich. Der Gedankensprung irritierte mich, erinnerte mich aber gleichzeitig wieder an den eigentlichen Grund meines Hierseins.

„Ich bin auf der Suche nach der Tochter des Mondes.“

Sofort wurde der Blick des Riesen misstrauisch. „Warum?“, wollte er wissen.

Ich überlegte einen Augenblick lang. „Weil ihre Mutter in Trauer ist und ich sie gerne daraus befreien würde“, antwortete ich dann langsam. Und in dem Moment, in dem ich die Worte aussprach, wusste ich, dass sie der Wahrheit entsprachen. Das war der Grund für meine Suche. Nicht mein langweiliger Alltag zu Hause. Nicht der Besuch oder Auftrag eines Trolls. Sondern das Gefühl, jemandem helfen zu müssen, der sich in so tiefer Trauer vergraben hatte, dass ihm der Sinn seines Lebens abhandengekommen war.

Der Riese sah mich eindringlich an und nickte dann zustimmend. Sein Blick glitt von mir zu den Bildern, die seine Wand schmückten und die ich bereits bei meinem unerlaubten Eindringen bewundert hatte.

„Sie war hier“, meinte er ruhig.

Ich erstarrte. Tatsächlich? Das war meine erste richtige Spur!

„Sie war entsetzt, als sie das Ungleichgewicht sah, das in dieser Welt bis zum heutigen Tag herrschte. Sie versuchte, die Dinge in Ordnung zu bringen, doch es gelang ihr nicht.“

Der Blick des Riesen hing immer noch wie gebannt an den Bildern.

„Als sie feststellen musste, dass es nicht ihr Schicksal war, diese Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, überkam sie Verzweiflung. Als sie dann ging …“ Die Stimme des bärtigen Hünen wurde leiser und bekam einen traurigen Klang, „ … als sie dann ging, geschah es in der Hoffnung, anderen Welten ihre natürliche Ordnung zurückzubringen. Woanders zu versuchen, was ihr hier nicht gelungen war.“

Ich war erleichtert, endlich eine Spur zu haben. Eine Spur, der ich weiter folgen konnte. Die Tochter des Mondes war irgendwo dort draußen und wartete darauf, gefunden zu werden.

Dennoch mischte sich auch Verwirrung in meine Erleichterung. So ganz war mir noch nicht klar, was hier eigentlich passierte.

Nachdenklich blickte ich dem Riesen in dessen bärtiges Gesicht. „Warum sind denn die Welten im Ungleichgewicht?“, stellte ich ihm die Frage, die mir am Herzen lag.

Mit der Reaktion des Hünen hatte ich allerdings nicht gerechnet. Er sah sich auf einmal beinahe ängstlich um und schüttelte den Kopf. Ob er mir damit bedeuten wollte, dass er es nicht wüsste oder dass er nicht darüber reden könnte, war mir nicht klar.

„Ich bin dir wirklich überaus dankbar für deine Hilfe“, versicherte mir der Riese, während er sich aus seiner sitzenden Position erhob. „Aber besser, du gehst jetzt.“

Sprachlos starrte ich ihn an. Das war wirklich ein sehr durchschaubarer Rausschmiss. Aber wie es schien, würde ich nichts mehr von dem Bewohner dieser Welt erfahren.

Schweigend erhob ich mich ebenfalls und streckte verabschiedend eine Hand aus. Hätte ich das nur gelassen! Bereits als meine Hand völlig in der riesenhaften Pranke verschwand, wusste ich, was nun folgen würde.

Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, als mir der bärtige Hüne zum Abschied die Hand drückte. Dabei war ich mir sicher, dass der Kerl sogar noch behutsam zu sein versuchte.

Als ich meine Hand wieder hatte, sagte ich meinem großen Gastgeber Lebewohl und wandte mich zum Gehen. Ich hatte nicht für alles eine Erklärung erhalten, aber nach dem undurchsichtigen Troll war ich mit den Antworten des Riesen eigentlich doch recht glücklich.

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