Küstensturm

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»Draußen Sauwetter, hier drinnen saublöd«, feixte Tilda. »Lass uns verschwinden. Mir ist der Appetit auf ein Getränk vergangen.« Sie schob ihre Freundin zurück auf den Gehweg. Sie hasteten durch den Regen über die menschenleere Kopfsteinpflasterstraße. Stina öffnete im Näherkommen mit dem Schlüssel das Auto, das auf der anderen Straßenseite parkte. Beide waren froh, als sie endlich im trockenen Wagen saßen. »Ist doch klar. Wir haben Januar. Was erwartest du denn? Die dicken Partys sind längst vorbei. Ich schätze, dass der Laden gerammelt voll ist, wenn Saison ist, wetten?«

»Ja, nur dann haben wir nichts davon. So schnell sieht mich hier keiner mehr.« Tilda starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, als Stina den Parkplatz verließ und Richtung Staberdorf fuhr. »Zumindest bin ich hier weit weg von … von Marcel«, flüsterte sie, und sofort waren die Traurigkeit und ihre Wut zurück.

*

Lotta schrie auf. Sie schaffte es, sich dem Würgegriff der eisigen Pranken zu entwinden, ließ das Buch fallen und sprang entsetzt vom Sofa auf. Ohne sich umzusehen, schoss sie panisch auf die Tür der Hütte zu. Sie hoffte, dass sie den Angreifer für einen Moment erschreckt hatte und er stehen geblieben war. So blieb ihr ein Vorsprung von wenigen Augenblicken. Panisch riss sie die knarrende Holztür auf und lief, nur in Jogginghose, leichtem Sweatshirt und auf Socken, in die Dunkelheit hinaus. Die Haare wehten ihr ins Gesicht und hingen ihr wenig später in nassen Strähnen vor den Augen. Lotta hörte, dass, wer auch immer sie angegriffen hatte, ihr folgte. Sie vernahm ächzendes Stöhnen unmittelbar hinter sich. Weiter, ich muss weiter. Sie stolperte durch den Wald. Es blitzte, sie erschrak und blieb wie erstarrt stehen. Weiter, Lotta, du musst dich verstecken. Jeder Baum, der genügend Deckung bot, wurde zum Schutz gegen den vermeintlichen Eindringling, der ihr dicht auf den Fersen schien. Ihr Körper zitterte und sie presste die Faust an die Lippen, um ihren keuchenden Atem zu verdecken. Tränen rannen über ihre eiskalten Wangen. Die Brandung und das Donnergrollen, die sie vorhin noch wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, dröhnten jetzt schmerzhaft in ihren Ohren. Ich muss mich auf näher kommende Geräusche und knackende Äste konzentrieren. Wieder hielt sie die Luft an. Dass es ein Mann war, hatte sie sofort erkannt, auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte. Das tiefe Atmen, die schweren Schritte, der männliche Geruch.

Wie von einem Tier und … diese großen Hände. Alles ging so schnell. Sie hielt den Atem an und lauschte, während ihr Herz bis zum Hals schlug.

In kürzester Zeit war sie komplett durchnässt. Lotta lehnte sich zitternd gegen einen dicken Baumstamm. Hinter ihr brach Holz. Sie hielt den Atem an.

Ein weiterer Blitz erhellte die jetzt furchterregende Umgebung. Zweige bogen sich bedrohlich in ihre Richtung, und sie hatte das Gefühl, als würden sie nach ihr greifen wollen. Realität und Fiktion verschmolzen. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne klapperten, und befürchtete, der Verfolger könnte es hören. Ihre Füße waren nass und schmerzten. Sie wagte kaum mehr, Luft zu holen. Was will der? Es gibt nichts, was …

Lotta liefen fortwährend Tränen über die Wangen. Ihre Haut glühte, obwohl sie erbärmlich fror. Ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie musste es bis zur Straße schaffen, um Hilfe zu finden. Hier im Dickicht war sie dem Angreifer schutzlos ausgeliefert. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf und sah sich um. Nichts! Es waren keine Schritte mehr zu hören. Vielleicht ist er in die andere Richtung gelaufen? Lotta nahm all ihren Mut zusammen und rannte los. Sie lief um ihr Leben. Die Dunkelheit machte es unmöglich, den Weg zu erkennen, der aus dem Wald herausführte. Sie stolperte immer wieder über dicke Äste, spitze Zweige und Steine bohrten sich in ihre Fußsohlen. Humpelnd hastete sie in die Richtung, in der sie die Straße vermutete. Ich muss hier raus! Lotta streng deinen Kopf an. Weg, ich muss weg!

Als sie den Waldrand erreichte, hatte sie vollständig die Orientierung verloren. Und – es gab keine Straße!

Sie weinte verzweifelt, beugte ihren Oberkörper, um zu verschnaufen. Sie hielt sich die Seite, weil Schmerzen ihr den Atem nahmen. Sie musste einen anderen Weg einschlagen. Sie richtete sich auf und rannte los, als sie plötzlich gegen ein Hindernis prallte. Aufschreiend sprang sie einen Schritt zurück, strauchelte und fiel zu Boden. Hastig versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen. Mit schreckgeweiteten Augen erkannte sie den riesigen dunklen Schatten, der sich vor ihr aufgebaut hatte. Ihr Peiniger war ihr gefolgt und hatte sie eingeholt. Lotta ließ entmutigt die Schultern sinken. Sie wusste, dass sie verloren hatte. »Was wollen Sie?«, flüsterte sie und hielt sich den Handrücken vor ihre Augen, weil das einer Taschenlampe Licht in ihren Augen schmerzte. Ich muss ihn beruhigen, dachte sie. »Ich gebe Ihnen, was sie wollen, und meine Freunde kommen gleich. Bitte, lassen Sie mich gehen!« Sie vermied es, von ihren Freundinnen zu sprechen. Dann würde er sofort wissen, dass er mit ihnen leichtes Spiel hatte. Sie konnte nicht erkennen, wer sie verfolgt hatte. Lotta blieb bewegungslos stehen. Sie hoffte, dass er sich wieder verzog. Aber sie wusste, dass es nicht so sein würde. Sie hatte nur eine Chance. Sie öffnete die Lippen zu einem Schrei, als er mit einer Hand ihren Arm packte und die andere auf ihren Mund presste. Sie schmeckte nach Gummi. Er hat Handschuhe an …

Die dunkle Gestalt hielt inne, Regentropfen krochen seinen Nacken hinunter, als er die zitternde Frau betrachtete. Er neigte den Kopf, sah ihre entsetzt geweiteten Augen. Sie wusste, wenn nicht jemand ihren Schrei gehört hatte, war sie verloren. Sie wand sich unter seinem Arm.

»Pst, ganz ruhig, ich möchte dir nicht wehtun«, warnte er. Er drückte ihre Schultern hinunter, bis sie auf die Knie sank. »Leg dich hin«, befahl er mit ruhigem Ton. Langsam beugte Lotta ihren Oberkörper Richtung Boden. »Dreh dich um«, befahl er. Gebrochene Äste bohrten sich in ihren Rücken. Sie presste die Lippen zusammen, um keinen Laut von sich zu geben. Übelkeit stieg in ihr auf.

Der Unbekannte hielt den Strahl der Lampe auf ihr Gesicht gerichtet, sodass seines im Dunkeln blieb. Er wusste genau, was er tat. In aller Ruhe zerrte er ihr die Hose bis zu den Knien herunter und schob anschließend ihr Shirt hoch. Lotta hörte sein erregtes Schnaufen. Sie fühlte die gierigen Blicke auf ihrem Körper. Sie schämte sich. Die Finger des Angreifers fuhren sanft über ihren Venushügel hinauf bis zu den Knospen ihrer Brüste. Er stöhnte. Dann nahm er die Hand zurück, als schreckte er vor irgendetwas zurück. »Nur ansehen, ich will dich nur ansehen.«

Lotta blieb wie versteinert liegen.

*

Ungefähr zur selben Zeit fuhren die Freundinnen mit laufendem Scheibenwischer den schmalen Feldweg hoch, der vor dem Wald endete. Tilda knipste die kleine Taschenlampe an, die sie in der Schublade der Küchenkommode entdeckt und vorsorglich mitgenommen hatte. »Für alle Fälle«, kicherte sie. Ein schmaler Lichtschein erhellte die Baumkronen, als Tilda den Lichtstrahl in die Höhe lenkte. »Lass das, das sieht unheimlich aus«, wisperte Stina, und ihre Laune kippte von einer Sekunde auf die andere. »Ich glaube, wir sollten uns sputen, wenn wir nicht komplett nass werden wollen«, murmelte Tilda und schloss den obersten Knopf ihres Mantels. Schlecht gelaunt zog sie die Kapuze wieder über den Kopf. Stina nickte und sie setzten sich in Bewegung, so schnell es ihnen im dichten Unterholz möglich war. Im Wald regnete es zwar nicht so heftig wie vorhin auf der Straße, dennoch fielen dicke Tropfen von den Blättern auf ihre Köpfe, was die Sache nicht angenehmer machte. Tilda fuchtelte mit dem Lichtstrahl ihrer Lampe unkonzentriert durch den Wald. »Da vorn … gleich sind wir da.« Erleichtert stapften sie durch das dunkle Gestrüpp. »Wenigstens das Gewitter hat aufgehört«, stellte Stina fest. Hinter ihr knackte es. Erschrocken fuhr sie zusammen und blieb regungslos stehen. Tilda hielt ebenfalls inne und lauschte. »Ist da wer?«, fragte sie in die Dunkelheit. Dann sah sie einen Hasen zwischen den Baumstämmen davonlaufen. Sie schüttelte beruhigend den Kopf, zog Stina am Jackenärmel und sie marschierten weiter. »Los, komm, Angsthase.« Endlich erreichten sie die Hütte. »Sieht aus, als wäre sie schon schlafen gegangen. Alles ist dunkel«, sagte die Sportstudentin und wollte klopfen, während sie zeitgleich die Klinke herunterdrückte. Mit ungutem Gefühl bemerkte sie, dass die Tür nicht verschlossen, sondern nur angelehnt war. »Die ist nicht abgesperrt?« Ihre Augenlider flatterten ängstlich, und sie warf Tilda einen fragenden Blick zu. »Die hat sie für uns aufgelassen, du Dummerchen. Wie hätten wir ohne Schlüssel reinkommen sollen?«

»Aber nicht einfach so. Das ist doch verrückt!«

Tilda schob sich an der Freundin vorbei, trat als Erste in die Hütte und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Ofen brennt, und Lottas Buch liegt am Boden«, wisperte Stina, während sie sich hinter Tilda verschanzte.

»Die schläft längst, wetten? Der ist der Thriller aus der Hand gefallen, das hat sie geweckt, und sie ist todmüde auf die Matratze«, grinste Tilda und öffnete die Tür zum Bad. Alles war dunkel. »Ich schau oben nach. Die liegt längst in den Federn.« Die dunkelhaarige Studentin knöpfte ihren Mantel auf, streifte ihn ab und legte ihn über die Stuhllehne. Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln, ließ sie achtlos am Boden liegen und stieg die knarrenden Stufen der Dachgeschossleiter hoch. Stina verharrte stocksteif in Jacke und Mütze, als müsste sie die Hütte gleich wieder verlassen. »Komisch, sie ist nicht da!«

»Vielleicht ist sie in dem Schlafzimmer unten, damit sie ihre Ruhe hat. Ich sehe mal nach«, stotterte Stina, wickelte den Schal vom Hals und war im Begriff, die Zimmertür zu öffnen, als Tilda sie mit gedämpfter Stimme zurückhielt. »Dann lass sie schlafen. Vielleicht möchte sie einfach nur ihre Ruhe haben und war deshalb nicht mit. Wollen wir die zusammen leer machen?« Sie blieb neben der Leiter stehen und deutete auf die halb volle Flasche, die noch immer auf dem Tisch stand. »Ne, ich möchte eigentlich auch zu Bett, ich bin todmüde.« Sie hielt sich demonstrativ die Hand vor den Mund, um zu gähnen. Als sie die Klinke erneut herunterdrücken wollte, um sich zu vergewissern, dass Lotta wirklich im Bett lag, fauchte Tilda: »Untersteh dich. Lass sie in Ruhe«, Stina zog die Hand zurück.

 

Eine halbe Stunde später lagen sie unter warmen Decken und schliefen beide tief und fest.

*

Der schlanke Mann betrachtete die hilflos am Boden liegende Frau, die sich zitternd die Jogginghose hochzog und das Shirt über die Brust zerrte. Er setzte sich rittlings auf Lottas Schoß. Befriedigt streichelte er mit behandschuhten Händen ihren nackten Bauch, während sein Gewicht ihr den Atem nahm. Wimmernd liefen Tränen über ihr Gesicht, als die Pranke des Angreifers sich bleischwer auf ihren Mund legte. »Pst, nicht weinen. Ich tue dir nicht weh.« Er griff mit seiner anderen Hand in die feuchte Jackentasche. Ihr Peiniger schwitzte und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Langsam zog er ein Tuch heraus. Mit Daumen und Zeigefinger zwang er Lottas Lippen auseinander, die weiter mit schwindender Kraft versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien.

Er lächelte. »Pssst …« Langsam schob er ihr das Stück Stoff in den Rachen, das er in der Tasche der Watjacke gefunden hatte. Es roch nach Öl und Motorschmiere. Ihre angstgeweiteten Augen starrten in seine Richtung und sie stieß einen erstickten Schrei aus. Lotta würgte. Der Wind hatte den Himmel an einigen Stellen aufgerissen und nur wenig Mondlicht erhellte die Gegend unwirklich. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war gefangen in einem menschlichen Schraubstock. Die Schockstarre und der unsägliche Schmerz im Hals bissen sich in ihr fest. Ihr Peiniger beugte sich zu ihr herunter, anscheinend wollte er ihr angsterfülltes Gesicht besser sehen. Dann hob er den Kopf wieder und sah sie verächtlich lächelnd an. »Geile Sau … schade, dich nicht gefickt zu haben. Aber das wäre nicht klug … sehr schade.« Bedächtig legte er beide Hände um ihren Schädel und führte eine schnelle ruckartige Bewegung aus …

Der regungslose Körper der jungen Frau lag mit weit aufgerissenen Augen vor ihm.

Seine Erregung stieg erneut. Er schob das Shirt wieder hoch und stöhnte. Dabei massierte er seine Hosenwölbung lange und hart, bis er in seiner Hose zum Orgasmus kam. Zufrieden zog er das Stoffknäuel aus ihrem Mund und verstaute es in seiner Jackentasche. Dann stand er auf, zerrte ihren Körper in die Höhe und wuchtete ihn auf seine linke Schulter. Befriedigt stapfte er über freies Feld, bis er die Klippe erreicht hatte. Ein kurzer Blick Richtung Strand, dann hob er sie mit beiden Händen und einer erstaunlichen Leichtigkeit in die Höhe. Wie eine Puppe warf er sie den Abhang hinunter. Ein dumpfes Geräusch zeigte ihm, dass sie etwa vier Meter unterhalb am Fuß der Klippe aufgeschlagen war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er zufrieden den Weg zurück zur Hütte antrat.

*

Nico Weiland zog seinen Sohn außer Sichtweite und forderte ihn auf, sich in den kalten, feuchten Sand zu setzen. Der Junge war geschockt. »Du bleibst hier sitzen, und ich schau nach, ob sie nicht vielleicht noch lebt. Verstanden?« Der schlaksige Jonas nickte und zitterte am ganzen Körper. Der einen Meter 70 große Vater fuhr sich durch die kurz geschnittenen blonden Haare, öffnete seine dunkle Jacke, weil er anfing zu schwitzen, und eilte zurück zu dem Platz, an dem die vermeintliche Tote lag. Doch schon, als er sich der Stelle näherte, wusste er, dass ihr nicht mehr zu helfen war. Der gebrochene Blick hatte sich nicht verändert und er sah sofort, dass er hier nichts mehr tun konnte. Einige Ungereimtheiten störten ihn: Warum liegt sie mit dünner Kleidung und nur in Socken am Fuß der Steilküste? Er kniete sich neben die Frau und tastete nach ihrer Halsschlagader, um festzustellen, ob vielleicht doch noch ein schwacher Puls tastbar war. Doch sie fühlte sich ebenso kalt an wie der Sand unter seinen Knien. Sie muss schon länger hier liegen, vermutete er und erhob sich. Was für eine hübsche Frau, stellte er fest, betrachtete sie und verspürte einen dicken Kloß im Hals. Ihre schlanke Figur, ihr hüftlanges hellblondes Haar und ihre grünen Augen. Er schüttelte sich und eilte zurück zu seinem Sohn, der vor Angst und Aufregung schlotterte. »Papa, ich will nicht mehr ditschen, ich will nach Hause«, schluchzte der Achtjährige.

Kapitel 8


Jasper Veit öffnete die Tür zum Büro von Olaf Schütt. »Na, was gibt’s?«, fragte der Dienststellenleiter und sah den Kommissar mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt an. Er, den sie hinter vorgehaltener Hand einen harten Hund nannten und der nicht jedermanns Sache war, trat vor den Schreibtisch seines Vorgesetzten und sagte mit finsterer Miene: »Die haben am Strand von Staberhuk eine Frauenleiche gefunden.«

»Nein! Nicht schon wieder. Wer?«

»Nico Weiland. Er ist mit seinem Sohn am Strand.«

»Nein, ich wollte fragen, ob du weißt, wer die Frau ist.«

»Weiß ich nicht.«

»Jo, denn lass uns los. Hat er irgendwas gesagt?«

»Nein, nur dass sie tot ist. Er hat ihren Puls nicht mehr fühlen können, und sie soll seiner Meinung nach schon länger am Strand liegen. Und dass ihm das Ganze nicht geheuer vorkommt.«

»Wieso nicht geheuer?«

»Sie hat wohl nicht allzu viel an, wenn du verstehst.« Veit zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.

»Nackt?«

»Nein, aber ohne Schuhe, wie ich das verstanden habe. Und keine Jacke.« Der Dienststellenleiter sah ihn fragend an, stand auf und stöhnte. »Ich dachte, dass zumindest im Januar mal alles ruhig bleibt. Verdammt!« Er zog die Dienstjacke vom Haken und folgte Jasper Veit zum Ausgang.

Jan Becker sah von seinem Schreibtisch auf. »Gibt’s was Besonderes?«

»Ne, nur eine Leiche am Strand«, sagte Veit trocken und marschierte Richtung Parkplatz. »Zieh die Jacke an!«

Entschlossen liefen sie 20 Minuten später den unebenen Weg hinunter zum Strand. Schütt zog den Kragen seiner Jacke zusammen und rückte die Dienstmütze zurecht. Sein Kollege Becker folgte ihm auf dem Fuß. Der Dienststellenleiter ließ den Blick über den Strand streifen. Am Saum zur Wasserkante türmten sich Unmengen Algen, die einen mörderischen Gestank verbreiteten.

»Das sieht alles aus, als hätte jemand die Farbe aus allem rausgezogen«, sagte er, als er Sand, Wasser und Himmel betrachtete.

»Mann, bei dem Schietwedder kannst dich auch nur die Klippen runterstürzen. Aber so ist wenigstens der Strand leer«, grummelte Becker und stapfte dorthin, wo Nico Weiland aufgeregt winkte. »Fischkopp! … Jaja, wir kommen ja schon«, brummte Schütt und starrte den Kollegen kopfschüttelnd an. Man sah, dass er nicht erfreut darüber war, einen Ort aufzusuchen, an dem sich eine Leiche befand.

Als sie Nico und seinen Sohn erreichten, schlotterte der Junge noch immer erbärmlich. »Mann, Nico, de Jung muss in die warme Stube«, stellte Schütt fest. »Das hält der aus. Wie sollte das denn gehen? Ich musste schließlich auf euch warten.« Er deutete Richtung Leiche.

»Na, deine Frau hätte ihn ja abholen können.«

»Du kannst doch nicht allen Ernstes erwarten, dass ich ihr den Anblick hier antue, oder?

Reicht schon, dass der Lütte …«

Nico Weiland streichelte Jonas mit der Hand über den Kopf, der sich eng an seinen Vater gedrängt hatte und immer noch Rotz und Wasser heulte.

Unweit der Stelle, an der sie gewartet hatten, nahm Schütt eine Erhebung wahr. Zügig schritt er mit Veit darauf zu.

»Verdammt, das ist ja ’ne ganz junge Deern«, bemerkte Olaf Schütt, zog die Augenbrauen zusammen und schnaufte. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augen, und er ballte die Hände zu Fäusten. Mit hochrotem Gesicht kniete er sich neben sie. Die Tote lag circa zwei Meter vom Fuß der Steilküste entfernt. Das linke Bein lag merkwürdig verrenkt und unnatürlich vom Körper weggedreht. Ein Arm war abgespreizt und lag so neben ihrem Kopf, als würde sie winken. Der andere Arm lag verdeckt unter ihrem Rücken, ihr Blick war starr zum Himmel gerichtet. Fassungslos presste Schütt seine Fingerspitzen gegen ihren Hals und schüttelte den Kopf. »Nichts mehr zu machen.« Er sah den Kollegen an und verzog den Mund. Mit einem wütenden Schnauben zog der Hauptkommissar seine Schultern hoch und hielt den Schädel gesenkt. Der Dienstellenleiter wirkte wie ein Stier kurz vor dem Angriff. Es machte ihn zornig, dass es immer die Falschen traf, die ihr Leben lassen mussten. So oder so. »Wenn meiner Tochter so etwas passieren würde, ich würde es nicht überleben«, flüsterte er gefährlich leise. Er wollte der Toten gerade eine Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht streifen, als ihm schlagartig klar wurde, dass er Spuren verwischen könnte. Er riss die Hand zurück. »Es sieht nicht so aus, als wäre sie ertrunken und angespült worden. Es wirkt aber auch nicht, als hätte jemand sie ermordet.« Schütt schüttelte irritiert den Kopf und erhob sich schwerfällig. Sein Gesicht glühte trotz der Kälte. Schweißperlen traten unter seiner Dienstmütze hervor. »Ich glaube, die Deern hat sich die Steilküste runtergestürzt.« Veit steckte die geballten Hände in die Taschen und presste die Zähne zusammen. Sein Blick schien emotionslos und sein Kinn wirkte kantig, als er die Tote durch graue Augen betrachtete. Der Cop, wie sie ihn auf der Wache nannten, rückte die Dienstmütze zurecht, sodass sie an seinen Brauen aufsaß, umrundete das Areal, schritt um die Leiche, zog sein Handy aus der Jackentasche und schoss erste Fotos. Schütt sah sich um. Er hoffte, irgendetwas zu entdecken, was mit dem Tod der jungen Frau in Verbindung zu bringen war. »De Deern hät ja nich mal Scho an«, sagte er monoton. »Die muss entweder hier aus der Gegend gekommen sein und hat sich die Steilküste heruntergestürzt oder – ist schlimmstenfalls hier abgelegt worden. Was ich nicht glaube. Ich denke, die Deern hatte Liebeskummer, wie das oftmals so ist.« Jasper Veit fotografierte beharrlich weiter und sprach kein Wort. »Ich habe die Befürchtung, wir müssen unsere Freunde aus Oldenburg herzitieren und dann den Bestatter rufen«, murmelte Schütt. »Mir wird ganz übel, wenn ich sie hier so liegen sehe.«

»Was brauchen wir die aus Oldenburg? Das war Suizid. Das können wir alleine regeln.« Veit war einer der Sorte, die ihre Sachen ohne fremde Hilfe von außen erledigten und ihren Zuständigkeitsbereich mit der vollen Härte des Gesetzes sauber hielt. Es passte ihm nicht, dass sich seit einigen Jahren ständig Kollegen aus Oldenburg und Lübeck hier einmischten. »Jasper, das muss ich dir doch nicht erklären. Wenn wir nicht sicher sind und kein eindeutiger Suizid erkennbar ist, müssen wir mit der Kripo zusammenarbeiten. Das ist eine ungeklärte Todesursache, da können wir nicht … Das war einmal. Das Risiko gehe ich nicht ein. Ich denke, wir sollten da nicht lang Rummanövern. Lass das die Kripo klären. Angespült wurde sie jedenfalls nicht. Sie ist komplett trocken.« Schütt deutete auf ihre Haare. Er zog ebenfalls sein Handy aus der Tasche und rief die Dienststelle in Oldenburg an. Dann stöhnte er. »De arme Deern!«

*

»Moin, Schütt. Na, das ist ja eine nette Überraschung. Habe schon länger nichts mehr von dir gehört. Soll alles ruhig sein auf der Insel. Was hast du denn auf dem Herzen? Klingst nicht gerade fröhlich.«

Dirk Westermann stand auf, lauschte, was der Kollege aus Burg zu berichten hatte, zog die linke Augenbraue hoch, strich sich über den akkurat getrimmten Bart und sah Thomas Hartwig, der gegen die Fensterbank gelehnt stand, an. »Ja, dann wollen wir mal. Hast du die Spusi … okay, dann mach ich das. Ja tschüss, bis später.« Westermann beendete das Gespräch und legte das Handy auf seinen Schreibtisch. Unverwandt sah er Thomas und dann Watson an, der neben seinem Herrchen auf dem Boden lag und schlummerte.

»Nun red schon, was ist los? Haben sie wieder jemanden umgebracht auf deiner Sonneninsel?«

»Blöde Frage, was glaubst du, ist passiert, wenn die Burger Dienststelle sich meldet? Kaffeekränzchen ganz sicher nicht. Zieh dich an, wir müssen. Sie haben eine junge Frau am Strand vom Staberhuk aufgefunden. Mehr weiß ich auch nicht. Unklare Verhältnisse. Pack deinen Hilfssheriff ein und dann ab nach Fehmarn.«

 

Hauptkommissar Dirk Westermann griff nach seiner Jacke und der Pfeife, die in einem Aschenbecher auf dem Schreibtisch lag. Watson öffnete ein Auge und beobachtete den Kommissar. Als er sah, dass der seine Jacke anzog, schnellte er hoch. »Du bist schneller als dein Herrchen. Willst auf Verbrecherjagd, oder?« Er lächelte, steckte die kalte Pfeife in den Mund und öffnete die Tür. Im Gehen zog er die dunkelblaue Mütze über den Kopf. »Los, oder brauchst du eine Extraeinladung, Jungchen?«

Knapp eine halbe Stunde später lenkte Hartwig den schwarzen Kombi auf den Parkplatz am Marinestützpunk Staberhuk. »Nächstes Mal schaffst du garantiert den Rekord, so wie du rast.«

»Wieso, das war doch normal.« Hartwig grinste und stieg aus, um Watson aus dem Hundekäfig zu lassen. Er war gerade dabei, die Schutzkleidung überzustreifen, als er noch einmal innehielt. »Komm, mein Freund. Wir wollen zuerst eine Runde spazieren gehen.« Damit steckte er Füßlinge und Handschuhe in die Jackentasche und nahm Watson an die Leine.

»Ihr geht nicht spazieren. Was erzählst du ihm denn da?« Westermann schüttelte den Kopf. »Hat deine Trainerin dir das so beigebracht? Glaube ich nicht!« Watson machte einen Satz aus dem Wagen und sprang aufgeregt an seinem Herrchen hoch. »Ist ja gut, mein Bester«, knurrte Hartwig. Sein Vorgesetzter knöpfte seine Jacke zu, stieg in den weißen Overall und streifte Handschuhe und Füßlinge über. Schütt hatte ihm mitgeteilt, wo sie sich aufhielten. Ein Blick genügte, dann hatte er die Kollegen entdeckt. Der Fundort der Leiche war mittlerweile großräumig mit Flatterband abgesperrt. Schütt und Veit standen mit einem Mann und einem etwa neunjährigen Jungen vor der Absperrung. »Geh du mal mit Watson voran. Lass ihm seinen Auslauf, und ich schau mir die Geschichte schon mal aus der Nähe an.« Hartwig nickte, versperrte die Wagentür und stapfte hinter dem Hund her, der wie ein Wirbelwind durch den Sand tollte. Immer wieder hielt Thomas ihn zurück und kraulte sein grau-weißes Fell. Der Hund reichte ihm bis zu den Schultern, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte, und schleckte mit großer Hingabe über sein Gesicht. Dirk Westermann stiefelte zwischenzeitlich allein den Sandweg zum Strand hinunter.

»Na, Olaf, was gibt’s?«, wollte der Hauptkommissar wissen nachdem er die Kollegen begrüßt hatte. »Jasper …«

»Junge Frau, circa 20 − 30 Jahre alt. Die Todesursache konnten wir ohne genaue Untersuchung der Leiche nicht erkennen und wir wollten auch nichts vorwegnehmen. Ich nehme an, sie ist die Steilküste heruntergestürzt oder hat sich herunter… du weißt schon.

Keine sichtbaren Verletzungen, bis auf das anscheinend gebrochene Bein. Die beiden hier haben sie gefunden.« Olaf Schütt zeigte auf Nico Weiland und seinen Sohn, der immer noch zitterte und sich mit verweinten Augen an seinen Vater klammerte. »Brauchen Sie uns noch oder können wir endlich gehen? Sie sehen ja, der Junge muss ins Warme. Der steht total unter Schock.«

»Hat er die Frau gefunden?«, wollte Westermann wissen. Weiland nickte und sah den blonden Jungen an. »Habt ihr die Aussage?«, wandte er sich an Schütt. Der bejahte und stieg unter der Absperrung hindurch, gefolgt von Jasper Veit. »Dann können Sie gehen. Ihre Adresse haben wir?«, sagte er, an den Mann gewandt.

»Haben wir. Alles notiert.

Außerdem kennen wir uns seit … eigentlich schon immer!«, bestätigte Schütt.

»Gut, dann können Sie den mutigen jungen Mann nach Hause bringen. Der muss in die warme Badewanne.« Westermann beugte sich zu dem blonden Jonas und strich ihm mit der Hand über den Kopf. »Wahrscheinlich war die Frau krank, und es ist sehr gut, dass du besonders aufmerksam warst und sie gefunden hast.« Er reichte dem Jungen, der aufgeregt und stolz zu ihm aufblickte, die Hand, und Vater und Sohn verließen den Fundort. »Papa, hast du gehört? Ich war besonders aufmerksam!«

»Ja, mein Junge. Das warst du.«

»Die Spurensicherung ist unterwegs. Wird aber eine gute Stunde dauern. Habt ihr ein Zelt, damit wir den Fundort absichern können? Sieht verdammt nach Regen aus, wenn ihr mich fragt.«

Westermann guckte zum Himmel, schon spürte er erste Tropfen auf seiner Stirn. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sie ab. Veit nickte und lief zurück zum Parkplatz. Der Hauptkommissar aus Oldenburg hockte sich vor die Leiche und betrachtete sie eingehend. Auch er konnte außer dem verdrehten Bein keine sichtbaren Verletzungsspuren erkennen. Den Bruch könnte sie sich beim Sturz zugezogen haben, vermutete er, zur Sicherheit zog er aber den Ausschnitt des Shirts ein wenig nach unten. Sie wies keine Würgemale auf. Vorsichtig drehte er sie auf die Seite, um zu sehen, ob auffällige Verletzungen an Hinterkopf oder Rücken erkennbar waren, die auf Fremdeinwirkung schließen ließen. Westermann konnte nichts erkennen. Dass sie keine Schuhe trug und ihre Socken verdreckt waren, ließ nicht den Schluss zu, dass sie hier abgelegt wurde. Sie hatte sich auf jeden Fall draußen bewegt. Die Frage war, woher kam sie ohne Schuhe? Westermann registrierte die kleinen Zweige, die sich an ihren Socken und der Jogginghose verfangen hatten. Die Sohlen der Strümpfe wiesen getrocknetes Blut auf. Sie musste sich beim Barfußlaufen verletzt haben. Vielleicht gab es einen Streit mit ihrem Mann oder Freund? Sie war weggelaufen. Hatte im Dunkeln die Klippe nicht gesehen und war abgestürzt. Aber warum war sie barfuß durch die Gegend gelaufen? In einem der Socken entdeckte er ein spitzes Stück Holz, das vermutlich in der Fußsohle steckte. Er sah sich um. Im Umkreis von mindestens zwei Metern lagen keine Äste dieser Art im Sand. Richtig klar war die Situation nicht. Sie brauchten die Rechtsmedizin. Das konnten sie nicht allein entscheiden. Westermann erhob sich und zog das Handy aus der Tasche.

Hartwig kam mit Watson an der Leine zum Fundort der Leiche. »Thomas, gib dem Hund einen Hinweis und lass ihn suchen. Vielleicht führt er uns.«

Der Kommissar, den er aus Neustadt nach Oldenburg geholt hatte, nickte und ließ Watson für einen Moment die Witterung der Toten aufnehmen. Unruhig verfolgte der Hund eine Spur, die Richtung Steilküste führte, dann zurück zur Leiche und wieder zum Fuß der Klippe. »Er läuft im Kreis. Was immer passiert ist, sie ist nirgends entlang gelaufen. Wahrscheinlich tatsächlich gesprungen oder gestoßen worden«, folgerte Hartwig. Westermann nickte. »Wenn sie sich runtergestürzt hat, musst du am oberen Rand der Steilküste weitersuchen«, entgegnete sein Chef. »Da könnten Spuren sein.«

»Glaubst du wirklich, dass hier noch irgendwelche Hinweise zu finden sind? Das ist alles vom Regen zerstört«, mutmaßte der Kommissar und machte sich mit Watson auf den Weg.

Am Strand unweit des Fundortes stand ein Mann und warf wie zufällig Steine ins Wasser. Ab und zu wandte er den Kopf, als beobachtete er genauestens, was sich dort, wo die Polizisten sich aufhielten, abspielte. Er zog unauffällig mit einer Hand sein Handy aus der Hosentasche und zeichnete, so wie es aussah, ein Video der Szenerie auf. Westermann schüttelte den Kopf und erhob sich. Er kannte sie, die Neugierigen, die immer wieder versuchten, einen Blick auf den Ort eines Verbrechens und die beteiligten Opfer zu erhaschen und Videos von Unfällen oder Tatorten ins Netz stellten.

Sensationslust hatte bedenklich zu- und die Hemmschwelle erschreckend abgenommen. Das war Fakt und keine positive Entwicklung. Es war eine der negativen Seiten der Polizeiarbeit.

Außer diesem Mann waren keine weiteren Leute am Strand von Staberhuk. In Westermann kochte es.

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