Küstensturm

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»Ich muss mich einen Augenblick setzen, ich kann nicht mehr«, prustete Lotta und ließ sich mit hochrotem Kopf auf einen der Stühle sinken. Die beiden anderen kicherten und schleuderten ihre Haare durch die Luft. Die OP-Schwester sah ihnen dabei zu. Sie spürte einen kalten Luftzug im Nacken und hatte den Eindruck, jemand würde ihr etwas zuflüstern. Lotta drehte sich erneut um, weil die Empfindung, beobachtet zu werden, immer intensiver wurde. Allerdings behielt sie ihr Gefühl für sich, um Stina nicht zu ängstigen, die gerade alle Probleme vergessen zu haben schien. Sie stand auf und trat ans Fenster.

Im Wald war es stockdunkel. Das Licht aus dem Raum erhellte nur eine kleine Fläche vor dem Haus. Sie riss sich zusammen und gesellte sich zurück zu den Freundinnen. In Gesellschaft war ihr eindeutig wohler.

»Ist hier schon ein bisschen unheimlich mitten im Wald«, hauchte sie Tilda ins Ohr, die verschwitzt um sie herumtanzte. Die Philosophiestudentin warf einen Blick zum Sprossenfenster und rief, als hätte Lotta sie aufgefordert: »Geisterstunde! Was hat die Alte erzählt? Hier gibt es jede Menge Geschichten über den Wald und den Staberhof. Hat sie doch gesagt, oder?« Stina blieb augenblicklich stehen, sah sie an und nestelte nervös an ihren Haaren herum. »Lass das Thema endlich mal ruhen. Wir sind hier, und alles ist bestens. Mach mir nicht immer Angst.«

»Das ist doch um einiges besser, als über deinen Kerl zu reden, oder?« Lotta ging entschlossen zum Tisch und drückte auf das Handy, bis die Musik verstummte. Sie wollte sich lieber setzen, um sich weiter zu unterhalten. »Hey, was soll das?«, rief Tilda und blieb verschwitzt stehen.

»Dann eben Geisterstunde. Was haltet ihr von Gläserrücken? Ich finde, wir sollten die Stimmung nutzen, um ein bisschen Spaß zu verbreiten«, sagte Tilda und änderte ihre Meinung so schnell, wie Lotta das Handy ausgeschaltet hatte. »Brauch ich nicht, auf keinen Fall«, erwiderte Stina, setzte sich und zog ihre Füße auf die Stuhlkante, als hätte sie Angst, etwas könnte um ihre Beine schleichen. »Schisser!«, tönte die quirlige Freundin.

»Bin ich überhaupt nicht.« Sie nagte auf ihrer Unterlippe. »Dann machen wir das eben. Ich will hier nicht immer als Spielverderber dastehen. Ist doch sowieso alles nur fauler Zauber.« Stina rollte mit den Augen und täuschte Gleichgültigkeit vor. Sie stand auf, stapelte die Teller aufeinander und machte Anstalten, sie in die Spüle stellen. Dabei stolperte sie über die Kante des Sisalteppichs, der unter dem Küchentisch ausgelegt war, und ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen, bevor ihr die Teller aus den Händen gleiten konnten. Tilda zog die Augenbrauen hoch, als sie ein Stück wesentlich helleren Holzboden unter dem Teppich entdeckte. Sie sprang zum Tisch und sank davor auf die Knie. Sie hatten vielleicht einen geheimnisvollen Platz aufgespürt. Tilda zerrte am Teppich und schlug ihn zurück, soweit es möglich war. Begeistert stellte sie fest, dass der Holzboden darunter anders aussah als im Rest des Raumes. Sie klopfte gegen das Holz und sah die Mädchen an. »Klingt das nicht merkwürdig hohl?« Tilda presste das Ohr auf den Boden und lauschte den Geräuschen, die sie selbst verursachte. Lotta sah Stina kopfschüttelnd an.

»Was vermutest du denn unter dem Tisch?«, fragte sie ihre Freundin.

»Vielleicht ist darunter ein Keller. Und da liegen Schätze vergraben«, flüsterte Tilda verschwörerisch. »Wir sind hier in einer Hütte, tief im Wald.

Da könnte sich wer weiß was befinden …«

»Was sollte jemand in dieser Waldhütte mit einem Keller? Völlig unpraktisch«, entgegnete Lotta und zog das Haargummi aus ihren Haaren. »Es klingt aber hohl. Hört ihr das nicht? Vielleicht gibt es da tatsächlich einen Keller oder ein Verlies, und da unten liegt eine Leiche … uahh …« Lotta lachte, und Stina zog die Beine noch enger an ihren Körper. Ihre Miene verfinsterte sich immer mehr.

»Blödsinn! Ein Keller in einer Hütte im Wald.« Lotta schüttelte erneut den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Du mit deiner Fantasie. Da ist nichts als Erde unter dem Holz. Du spinnst!« Tilda klopfte, lauschte und untersuchte den Boden auf einen Verschluss. Sie verzog das Gesicht, schmollte und sah ein, dass die Freundin recht hatte. Ernüchtert zuckte sie die Schultern und zog den Teppich wieder zurück. »Dann eben nicht. Lass uns endlich mit dem Gläserrücken anfangen«, murrte sie.

Lotta folgte einem Instinkt, bewegte sich zur Tür und trat nach draußen. Sie nahm leise Geräusche wahr, die sich im Gehölz verbreiteten. Äste knackten, und ein undefinierbares Pfeifen tönte zwischen den Bäumen. Angestrengt blinzelte sie in die Dunkelheit und hatte erneut das Gefühl, als würde sie beobachtet werden. Schnell drehte sie sich auf dem Absatz um und schloss die Tür.

Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken.

*

Marcel raste mit über 200 Stundenkilometern über die Autobahn Richtung Fehmarn. Er hatte sich, als er Stinas Nachbarin aufgesucht hatte, auf den Weg machen wollen, um sie zu suchen. Allerdings hatte sein anschließender Alkohol- und Kokainkonsum ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er touchierte mit seinem Porsche einen Baum und war nach Hause gefahren, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden. Heute, drei Aspirin und zwei Liter Wasser später, klärte sich das Chaos in seinem Kopf. Mit dem Restalkohol im Blut setzte er sich frisch geduscht hinter das Steuer des schwarzen Wagens. Der Startupper wunderte sich über die Beule auf der Beifahrerseite. Es war nicht das erste Mal, und morgen würde er den Wagen in die Werkstatt bringen. Aber jetzt musste er handeln. Er würde seinen Charme einsetzen. Das hatte bei Stina bisher immer gewirkt. Er lächelte, und im nächsten Moment erstarrte sein Blick. Und wenn sie nicht funktioniert, wird sie mich kennenlernen, dachte er verbissen. Seine Hände umkrampften das Lenkrad. Die Knöchel traten bleich hervor. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm sein wutverzerrtes Gesicht. Die Anspannung steigerte sich mit jedem Kilometer. Was bildete die sich ein? Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und wühlte sich durch Pfefferminzbonbonpapier und missachtete Strafzettel. Dann ertastete er mit seinen Fingerspitzen ein kleines silbernes Päckchen. Er brauchte jetzt etwas, um herunterzukommen. Marcel öffnete das gefaltete Silberpapier mit zwei Fingern, während er sich weiter auf die Fahrbahn konzentrierte. Weißes Pulver kam zum Vorschein. Marcel warf einen Blick darauf, lächelte und hielt sich das Kokain unter die Nase. Dann sog er den Staub tief in seine Nasenlöcher. Die Geschwindigkeit des Wagens behielt er bei. Das Papier fiel achtlos zu Boden. Marcel zog noch einmal gierig Luft durch die Nasenflügel und schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Dann drehte er die Musik im Radio auf und hielt weiterhin das Gaspedal bis zur Bodenplatte durchgedrückt. So raste er dahin. Die Lichter der Autos zogen rote Fäden und verschwammen vor seinen Augen.

*

Eine halbe Stunde später saßen die Freundinnen um den hölzernen Couchtisch. Tilda breitete einen Bogen Papier aus, den sie aus einer alten Einkaufstüte gebastelt hatte, und kritzelte mit einem Kugelschreiber sonderbare Zeichen, Buchstaben und Zahlen darauf. In der Mitte des Papierbogens stand ein umgestülptes Wasserglas. Sie sah sich um und entdeckte auf dem Fenstersims eine Kerze. Lächelnd stellte sie die auf den Tisch zu den anderen Sachen. »Die ist zwar halb heruntergebrannt, aber das dürfte reichen.« Sie entzündete sie. »Stinchen, mach bitte das Fenster auf.«

»Und wozu soll das gut sein?«, wollte sie wissen und biss sich auf die Lippen. Ihre Hände schwitzten, und ihr Mut hatte sie längst verlassen. Sie hatte keine Lust mehr, Gläser zu verrücken, traute sich aber nicht, dies kundzutun. »Damit die Seelen der Verstorbenen, falls wir welche erreichen, auch wieder raus können.« Tilda holte einen Salzstreuer vom Regal und fing an, einen Salzkreis auf den Tisch streuen. »Was soll das denn werden?«, wollte Lotta wissen. »Um bösartige Geister fernzuhalten, die es nicht unbedingt gut mit uns meinen«, antwortete sie. »Und die weiße Kerze?«, fragte Stina mit glasigem Blick. »Damit wir nur Kontakt zu positiven Wesen bekommen«, flüsterte sie mit ernster Miene. »Und – nicht lachen. Das ist respektlos. Passt auf, dass das Glas nicht umkippt.« Die Mädchen sahen Tilda schweigend an. Lotta spürte erneut einen kalten Luftzug ihren Nacken streifen und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob dies alles hier eine gute Idee war. Jetzt hat sie mich mit ihrem Gerede über Geister völlig eingelullt. »Is was?«, wollte Tilda wissen. Lotta antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf.

»So, es kann losgehen. Und bitte bleibt ganz cool, egal, was passiert.« Die Krankenschwester glaubte weder, dass man Geister rufen konnte, noch an den Hokuspokus, den Tilda gerade veranstaltete. Aber sie war schon zu betrunken, um energisch einzuschreiten. Die ganze Veranstaltung ging ihr gehörig gegen den Strich.

Stina schien ebenso angetrunken zu sein wie sie selbst. Sie saß gleichmütig auf ihrem Stuhl und folgte dem Spektakel ohne einen Anflug von Angst. Stinas Blick wirkte abwesend. Tilda löschte das Licht der Deckenlampe und setzte sich zu ihren Freundinnen.

»Gebt mir eure Hände«, flüsterte die dunkelhaarige Studentin und reichte den Mädchen die Hände. Die drei schlossen einen Kreis. »Bist du da? Ist irgendjemand hier?«, fragte Tilda mit ernster Miene, während Lotta sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Die Einzige, die angetrunken versuchte, der Vorstellung zu folgen, war Stina. »Ist jemand hier? Geist, wenn du da bist, melde dich«, murmelte Tilda mit lallender Stimme. Ihre Augenlider verengten sich, und sie schüttelte vielsagend den Kopf.

Es folgte Schweigen. Lotta zog einige Minuten später ihre Hand zurück, lächelte und wollte aufstehen. »Das darfst du nicht. Du sollst den Kreis nicht unterbrechen.« Tilda sah sie wütend an. »Ach, du mit deinem Hokuspokus«, sagte Lotta und stand auf. Sie zog ihre Jogginghose hoch und trollte sich Richtung Badezimmer. Sie drehte sich um und murmelte: »Lass uns endlich schlafen gehen. Der Unfug hier nervt, und ich habe keine Lust mehr. Morgen können wir weiter auf Geisterjagd gehen. Sieh dir Stinchen an. Sie ist grottenmüde, und wir sind alle drei ziemlich betrunken, wenn du mich fragst.« Sie öffnete die Tür zum Badezimmer, als mit lautem Knall das Fenster zuschlug.

 

»Da siehst du, was du angerichtet hast«, rief Tilda und wurde bleich.

Kapitel 6


Marcel erwachte, und sein Schädel drohte zu platzen. Was war das für ein scheiß Zeug?, fragte er sich und hielt sich den Kopf. Ich muss hier augenblicklich weg. Sein Haar wirkte ungekämmt. Seine Gesichtsfarbe glich einem Berg Asche und ließ ihn erbärmlich aussehen. Er öffnete die Wagentür, stieg aus und schleppte sich zum Toilettenhäuschen, um wenigstens Wasser über sein Gesicht laufen zu lassen.

Benommen startete er wenig später den Wagen. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und wusste nicht, wo genau er sich befand. Nur, dass er auf einem Rastplatz gelandet war. Marcel warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Armaturenbrettes. Es war 16 Uhr. Mann, das Zeug hatte es in sich. Hat mir völlig den Kopf weggepustet. Er ließ den Porsche langsam auf die Fahrbahn rollen. Es dämmerte. Marcel wartete, bis ein Hinweisschild ihm zeigte, wo er gelandet war, und schaltete das Radio ein. Er öffnete das Seitenfenster und sog die eiskalte Nachtluft ein. Dann griff er zur Wasserflasche, die neben ihm in einer Halterung stand. Marcel leerte die Flasche in einem Zug. Ihm war übel, aber er wollte das zu Ende bringen. Nichts würde ihn davon abhalten, Stina zurückzuholen. Heiligenhafen: er war kurz vor der Insel. Ein verächtliches Grinsen zog über sein Gesicht. An Fehmarn hatte er Erinnerungen. Er war viele Sommer zum Surfen auf der Insel gewesen. Und wo gesurft wurde, war auch jede Menge hübscher Mädchen. Er leckte sich die Lippen.

Jetzt musste er nur herausfinden, wo seine Freundin untergetaucht war.

*

Nächster Abend

»Warum willst du denn nicht mit?«, fragte Tilda und sah Lotta verständnislos an. »Ich habe einfach keine Lust auf eine Liebesschmoranze und ich halte es auch nicht unbedingt für sinnvoll, Stina so eine Schnulze vorzuführen. Ich dachte, wir wollten gemeinsam hier etwas in der Hütte unternehmen.«

»Was willst du hier denn machen? Mensch ärgere dich nicht spielen? Die Séance hast du ja bereits gekillt.« Tilda

streifte ihren Mantel über. »Wir können uns doch unterhalten. Da gibt es so viele Themen, über die es sich zu philosophieren lohnt«, versuchte Lotta, das Ruder herumzureißen und Tilda zu locken. »Reden können wir noch die ganze Zeit, die wir hier verbringen. Ich habe jedenfalls Lust auf einen romantischen Film, und du, Stinchen?«

»Ne, ist schon in Ordnung. Ich möchte auch lieber einen Film anschauen, als ständig ins Grübeln zu geraten oder nochmal diesen Geisterscheiß zu erleben. Mein Handy habt ihr mir schon abgenommen. Ich brauche Abwechslung, sonst drehe ich in dieser Einsamkeit durch. Und reden, da hat Tilda recht, können wir die ganze Zeit über.«

Lotta Freimann gab sich geschlagen. Gegen die Argumente der Freundinnen hatte sie nichts mehr einzuwenden und überlegte, ob sie nicht doch mitfahren sollte. Wenn sie genau darüber nachdachte, fand sie es aber auch ganz prickelnd, für ein paar Stunden sich selbst überlassen zu sein. Tilda vereinnahmte Menschen um sich herum, und oft war sie ziemlich anstrengend. Sie würde ihr angefangenes Buch weiterlesen und fand, es war genau die richtige Atmosphäre, alleine in der Hütte, im Wald … Lotta lächelte. Dann wieder dachte sie an die Ablenkung in Burg. Hinterher vielleicht noch einen Cocktail trinken …

Stina hatte ein schlechtes Gewissen und sah sie fragend von der Seite an. Sie drehte sich noch einmal um, während Tilda längst die Hütte verlassen hatte. »Fahrt ihr nur los. Ich bleibe hier und mache mir einen gemütlichen Abend. Wein haben wir ja genug.«

»Nun komm mit«, bettelte Stina. Lotta war hin und her gerissen. Sie setzte sich auf, als wollte sie aufstehen, um sich dann doch wieder ins Sofa zurückfallen zu lassen. Dann hatte sie sich entschieden. »Alles bestens, mach dir keinen Kopf. Habt einen schönen Abend«, zwinkerte sie Stina zu. »Du passt aber bitte gut auf meinen Wagen auf«, mahnte sie ihre Freundin und reichte ihr den Wagenschlüssel, der vor ihr auf dem Tisch gelegen hatte.

»Was glaubst du?«

Dann war sie verschwunden.

Es fing an zu regnen, und der Wind nahm zu.

Kapitel 7


Das Boot schlug bei jeder kurzen, harten Welle gnadenlos auf die Wasseroberfläche auf. Er hatte Mühe, den Küstensaum zu erkennen, weil der Regen sich zu einem undurchdringlichen Vorhang verdichtet hatte, der ihm die Sicht erschwerte. Seine Lippen waren zu schmalen Strichen zusammengepresst, als erneut eine wuchtige Welle das GFK Boot gefährlich von der Seite erfasste und Gischt in sein Gesicht peitschte. Er war dankbar, als die letzte Woge, die ihn an den Strand drängte, sich hinter ihm brach. Mit steif gefrorenen Fingern drückte er den roten Knopf, der den Motor des Außenborders zum Schweigen brachte. Die Küstenlinie lag direkt vor ihm. Das etwa sechs Meter lange Boot schob sich mit der letzten Welle Richtung Strand. Er zog den Motor hoch und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, um das Salzwasser aus den Augen zu entfernen. Kaugummi kauend kletterte er aus dem Kunststoffboot. Mit dunkler Regenjacke und Wathose bekleidet, die er im Boot neben einem Anker und mehreren Dosen gefunden hatte, watete er mit unsicheren Schritten durch das knöcheltiefe Wasser. Konzentriert zog er das Schiff an einem Tampen hinter sich her, griff nach dem Anker und warf ihn in die Ostsee. Er musste schließlich irgendwie wieder zurück zum Hafen kommen und wartete, bis sich das Boot in den Wind gelegt hatte. Angespannt zerrte er den Rucksack aus der offenen Schale und schulterte ihn. Mühsam stapfte er an den Strand, um durch den feuchten Sand den Fuß der Steilküste zu erreichen. Er warf einen Blick nach oben und hoffte, dass der Aufstieg nicht zu anstrengend würde. An einer nicht einsehbaren Stelle kletterte er den zum Teil weggebrochenen Hang hinauf, bis er das freie Feld erreichte. Mit schweren Schritten stapfte er an Knicks entlang. Ein missbilligendes Lächeln umspielte den Mund in seinem finster aussehenden Gesicht. Es war sehr viel leichter gewesen, als er für möglich gehalten hatte. Niemand hatte seinen Weg und seine lang ausgegrübelten Pläne bisher durchkreuzt, und so steuerte er unerkannt sein Ziel an. Die Dunkelheit spielte ihm hervorragend in die Karten.

Der Mann setzte seinen Weg Richtung Lichtung fort, zog den Kragen der Watjacke hoch, die ihm um den Körper schlotterte, damit nicht noch mehr Kälte und Feuchtigkeit den Nacken hinunter kriechen konnte. Seine Bewegungen wirkten mechanisch und schleppend, als wäre er angetrunken. Jeder seiner Schritte erzeugte ein glucksendes Geräusch, wenn der Stiefel im morastigen Grund versank. Dann sah er durch den zunehmenden Regen den düsteren Umriss des Waldes. Die kühlen Böen peitschten unentwegt in sein Gesicht. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und er stiefelte weiter. Sein Ziel lag direkt vor ihm, und er würde es zu Ende bringen. Die Gestalt versuchte, die Kälte zu ignorieren, die sich eisig um seinen Körper schloss, und zog den Rucksack fester an sich. Bindfadenartiger Regen rieselte zwischen dunklen Baumstämmen hindurch. Jeder Schritt knatschte. Angespannt erreichte er das eng gedrängte Gestrüpp, das für ungeübte Spaziergänger einen undurchdringbaren Eingang darstellte und durch das er in das Innere des Waldes gelangte. Als wäre der Regen nicht genug Behinderung, dröhnte einsetzendes, fernes Donnergrollen neben der Brandung. Zusammen ergab es eine unheimliche Atmosphäre, die ihm perfekt erschien, um nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Niemand würde ihn bei seinem Vorhaben stören.

Er zog die Augenbrauen hoch, als er weiter in den Wald eindrang. Dann suchte er mit seinen Blicken die Dunkelheit ab. Irgendwo hier musste die verdammte Hütte sein. Ich kann mich nicht so in der Richtung geirrt haben. Erleichtert blieb er stehen, als er einen kaum wahrzunehmenden Lichtschein entdeckte. Der Mann stapfte weiter und hoffte, dass das Licht nicht aus der Hütte kam. Dort konnte, nein, durfte niemand sein. Nicht zu dieser Jahreszeit. Die Erkenntnis, dass er seinem Ziel verdammt nah war, ließ seinen Herzschlag beschleunigen, aber trotz allem ein ungutes Gefühl in ihm aufsteigen und seinen Puls weiter nach oben schießen. Bei jedem seiner Schritte zerbrachen Äste unter seinen Füßen. Die Taschenlampe in seiner Jackentasche ließ er ausgeschaltet. Er wollte unter keinen Umständen gesehen werden und schlich weiter durch die schützende Dunkelheit. In seinen Ohren dröhnte die Brandung, und im zunehmenden Donnergrollen ging das Geräusch seiner Schritte unter. Er liebte die anschwellende Geräuschkulisse, deren Intensität immer mehr zunahm, je länger er sich hier aufhielt.

Das Szenario rief ein Ereignis aus seiner Jugendzeit in ihm wach. Er hatte mit einem Freund in einem Waldstück ein neues Zelt ausprobieren wollen. Es war eine Nacht, an die er sich sein Leben lang erinnern würde. Die Angst hatte ihn und seinen Freund damals fast wahnsinnig werden lassen. Die unheimlichen Geräusche hatten die beiden 14-Jährigen in Angst versetzt und die ganze Nacht wachgehalten. Sie hatten in dem Zelt gekauert und bei jedem unerklärlichen Laut gedacht, dass Monster sie holen würden. Nie wieder würde er im Wald kampieren. Wie konnte ich das vergessen? Er schüttelte sich und sah das fahle Licht direkt vor ihm durch die Bäume schimmern.

Der Schein dieser Lichtquelle beunruhigte ihn. Nur noch wenige Meter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Schlagartig fragte er sich, ob es eine gute Idee gewesen war, ohne Vorbereitungen hier aufgekreuzt zu sein. »Verdammt, ich hätte mich vorab informieren sollen.«

Ein Blitz erhellte den Himmel, und er zuckte zusammen. Hinter einem Baum, direkt vor der Hütte, stoppte er. Sein Hals war ausgetrocknet und er schluckte, während er sich mit der Hand über die von Wasser getränkte Kapuze fuhr.

Dann donnerte es wieder, und ein Blitz folgte. Das Gewitter rückte näher. Er zerrte am Kragen der wattierten Jacke. Ihm wurde heiß, obwohl es eisig kalt war. Er überlegte, wie er sich jetzt, wo er das Ziel direkt vor Augen hatte, verhalten sollte. Was würde er vorfinden? Entschlossen schlich er zur Treppe.

Sein Kiefer knirschte, als er mit zusammengebissenen Zähnen die Treppe hochschlich. Er wandte den Kopf. Alles um ihn herum war dunkel und ruhig, nur eine Krähe flog mit einem unheimlichen Schrei dicht über seinem Schädel hinweg. Er verbarg sich im Dunkeln neben der Tür, lehnte sich gegen die Wand und drehte den Kopf Richtung Fenster. Mit einem Blick erfasste er die Situation im Inneren der Hütte.

Eine Frau saß auf dem Sofa und hatte es sich mit einer Wolldecke und einem Buch gemütlich gemacht. Der kleine Kaminofen brannte, und ein Glas Rotwein stand, halb geleert, auf dem flachen Holztisch vor ihr. Die ist jung, vielleicht Mitte 20. Ihre langen blonden Haare betonten die dunklen blauen Augen. Sie trug einen Jogginganzug. Er schnaubte und riss den Kopf zurück. Ein weiterer Blitz zuckte über den nachtschwarzen Himmel, und unmittelbar darauf hallte ein Donnerschlag. Schnell presste er seinen Körper gegen die Holzfassade und hoffte, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Entschlossen schlich er auf der Veranda um die Hütte. Wut breitete sich in seinem Körper aus. Ihm war kalt. Er hatte sich vorgenommen, seinen Plan umzusetzen. Die Frau, die allein auf dem Sofa saß, hatte ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Das war nicht das, was er vorzufinden gehofft hatte.

Er warf einen Blick ins Innere des zweiten Raumes. Niemand hält sich da auf, so viel ist schon mal sicher. Also ist sie offensichtlich alleine. Oder ist noch jemand im Dachgeschoss? Ich muss es riskieren. Vorsichtig fasste er an das marode Sprossenfenster. Leise fluchend rüttelte er daran, als er das Licht einer Taschenlampe auf sich zukommen sah.

*

Lotta Freimann war nicht anwesend. Zumindest nicht im Geiste. Vertieft in ihren mystischen Thriller hatte sie Raum und Zeit um sich herum vergessen. Draußen prasselte der Regen unaufhörlich gegen das Fenster. Der Wind ließ die Äste eines Baumes an der Scheibe entlang schaben. Es klang wie die passende Untermalung zu ihrem Buch und hörte sich an, als tobte die Ostsee direkt an der Hütte vorbei. Sie empfand keine Angst, als ein Blitz das gemütliche Zimmer der Waldhütte erhellte. Im Gegenteil. Ein wohliger Schauer stellte ihre Nackenhaare auf, der genau zur Stimmung der Handlung in ihrem Buch passte. Eine Frau, die sich vor einem Killer in einem Wald versteckt hatte, beflügelte ihre Fantasie. Sie sah auf und zählte nach dem Blitz die Sekunden, bis zum Einschlag des ersten Donners. Eins, zwei, … das Gewitter muss direkt über der Hütte sein, mutmaßte sie, beugte sich nach vorn und griff zur Rotweinflasche. Langsam füllte sie ihr Glas und hielt es gegen die weichen Lippen, um einen Schluck zu sich zu nehmen. Lotta stellte das Weinglas zurück auf den Holztisch und schlang die rote Wolldecke um ihre Füße, die sie entspannt auf dem Sofa ausgestreckt hatte. Ihre langen, glatten Haare fielen weich auf die Schultern. Die behagliche Wärme des Kaminofens erfüllte all ihre Sinne mit Geborgenheit. Zumal sie genügend Holz im Korb hatte, der ihr Gewissheit verschaffte, zumindest solange in dieser gemütlichen Stimmung verbringen zu können, bis ihre Freundinnen zurückkehrten. Sie räkelte sich unter ihrer Decke. Ein weiterer Blitz erhellte den Raum und sein Inventar. Ihr Blick fiel auf den hüfthohen Tisch aus verwittertem Holz, der das Zentrum der Hütte bildete. Lotta hatte diverses Obst aus ihrer Tasche hervorgezaubert, und nun lag es dekorativ in einer getöpferten Schale und lockte zum Verzehr. Die attraktive Krankenschwester fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, stand auf und huschte zum Tisch. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Sisalteppich, der unter dem Holztisch lag, und stolperte, genau wie vorher Stina, über die gesäumte Kante. Jetzt, wo sie allein war, wollte sie selbst ein Auge auf den Holzboden werfen, der beim Abendessen für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Sie rückte den Stuhl zur Seite, schlug den Teppich zurück und begutachtete den Boden. »Da ist nichts«, murmelte sie und klopfte mit der Faust gegen die Dielenbretter. Es klang zwar hohl, dennoch konnte Lotta keinerlei Verriegelung entdecken, die auf eine Luke hinwies. »Zu viele Geistergeschichten. Alles nur Einbildung.« Sie schüttelte den Kopf und erhob sich. Sie rollte mit ihrem Fuß den Teppich in seine vorherige Position, griff zur Obstschale und nahm sich einen Apfel heraus. Gutgelaunt begab sie sich zurück auf ihr gemütliches Sofa.

 

Fortwährend kratzten die Äste der alten Buche wie magere Finger an der Fensterscheibe, als wollten sie sie warnen. Lotta mochte diese gruselige Atmosphäre, die sie nicht mit dem spannendsten Kinoabend hätte tauschen mögen. Was sollte sie im Kino, wenn die Umgebung dieser Waldhütte genügend Raum für Fantasie bot? Leises Knarzen an der Eingangstür ließ sie aufhorchen.

*

Als Marcel auf dem Parkplatz stand, überkam ihn plötzlich bleierne Müdigkeit. Der Alkohol und das Kokain hatten ihn zermürbt. Dennoch ließ er nicht locker.

Niemand würde ihn davon abhalten, sich selbst von der Lage zu überzeugen. Und wenn sie ihn betrog, dann …

Er zog sein Handy aus der Tasche und suchte nach der Tourismusinformation. Die mussten wissen, wo diese verdammte Hütte stand. Tatsächlich befand sich das Büro unweit der Stelle, an der er gerade parkte.

Marcel grinste. »So einfach ist das!«

Zehn Minuten später verließ er zufrieden den Infokiosk. Ein smartes Lächeln, eine freundliche Geste … und er hatte die gewünschte Information in der Hand. Er wusste, wie er seinen Charme einzusetzen hatte.

Eilig lief er zurück zum Wagen. Der Regen hatte die Jacke in der kurzen Zeit völlig durchnässt. Er zog sie aus und legte sie auf die Rückbank. Gott sei Dank trug er einen dicken Pullover, der ihn zumindest nicht frieren ließ. Marcel sah auf sein Navi und gab die Wegbeschreibung ein. Zwölf Minuten, das ist ja ein Witz. Marcel Andresen startete den Motor und fuhr die Kopfsteinpflasterstraße bis zum Ende. Er folgte den Anweisungen des Navis und befand sich nach der angegebenen Zeit auf einer Privatstraße. Ungeachtet des Fahrverbotes fuhr er weiter. Er ahnte, dass ihn niemand bei diesem Wetter von seinem Vorhaben abhalten würde … und auch nicht könnte. »Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«

Da ist gar nichts. Marcel sah sich um. Sein Kopf dröhnte. Er konnte kaum etwas erkennen, außer dem Waldgebiet, das direkt vor ihm lag. Er parkte den Wagen am Straßenrand, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Aus dem Kofferraum holte er seine Steppjacke, die er bei seiner letzten Sauftour durch die Kneipen dort vergessen hatte. Marcel zog die Jacke über, zog die Kapuze des Pullovers über den Kopf und machte sich auf den Weg. Er würde sie zurückholen, so viel war sicher.

*

Erneut zuckte ein Blitz durch die Fenster. »Eins, …«, zählte Lotta, als krachend der Donner folgte, um in der Dunkelheit ohrenbetörend seinen Schrecken zu verbreiten. Sie legte das Buch auf ihren Schoß, zog die Decke bis zum Kinn und warf einen letzten Blick in den Raum, der nur durch das Kaminfeuer und die Deckenlampe erhellt wurde. Dann schüttelte sie den Kopf, leerte ihr Glas und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Sekunden später hielt sie die Geschichte erneut gefangen.

Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Dach der Hütte, während draußen direkt über ihr das Gewitter tobte. Wie schon an den Tagen zuvor überkam sie auf einmal wieder das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Stimmung kippte, und sie bereute bereits, nicht doch mit den Mädels in die Stadt gefahren zu sein. Lottas Gesichtsausdruck wurde zunehmend ernster. Sie zog sich schützend die Decke über den Körper und wandte sich wieder ihrem Thriller zu, der jetzt weitaus mehr Angst verursachte, als sie abzulenken. Lotta schlug das Buch zu. Sie legte es auf ihren Schoß und lauschte zur Tür, bis … sie aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten auf sich zuspringen sah und zwei eiskalte Hände von hinten ihren Hals packten.

*

Zufrieden verließen sie das Filmtheater in der Altstadt von Burg. Es goss nach wie vor in Strömen. Tilda zog die Kapuze ihres schwarzen Ledermantels über den Kopf und hakte sich bei Stina unter, die vorsorglich einen Schirm in ihre Tasche gesteckt hatte, ihn aufspannte und über sie beide hielt. Tilda grinste. »Das war ein toller Film, aber das Ungetüm in deiner Hand kannst du vergessen«, sagte sie, als plötzlich eine Windböe den Regenschirm erfasste und ihn nach außen stülpte. Stina stemmte sich gegen den Wind und raffte den Schirm, so gut es ging, zusammen. »Der ist hin!« Sie zuckte die Schultern und klemmte das Ungetüm unter ihren Arm. »Aber das Kino in Burg ist auch wirklich superschön. Hab lange nicht mehr so gemütlich gesessen.« Sie stiefelten den Kinogang entlang, der sie wieder auf die Breite Straße führte.

»So, wie ich gelesen habe, ist es eines der schönsten Filmtheater im Norden. So etwas wie ein Kulturzentrum«, erklärte Tilda. »Ne, war okay«, sagte sie und hakte sich bei Stina unter »Wollen wir noch einen trinken?«

»Ach, ich weiß nicht. Ist schon 22.30 Uhr. Ich finde, wir sollten Lotta nicht zu lange alleinlassen.« Sie stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß beiseite. »Ich hätte jede Menge Schiss ohne euch in dieser Hütte. Mich gruselt’s schon, wenn ihr bei mir seid. Alleine wäre ich niemals hergekommen. Lass uns heimfahren.«

»Ach, sei kein Frosch. Was soll denn passieren? Ist doch easy und cool in der Hütte.« Tilda grinste ihre Freundin von der Seite an. Tiefe Grübchen zeichneten sich in ihren Wangen. »Okay, wir fahren bald zurück. Aber einen Absacker musst du uns genehmigen. Pack den Schirm ins Auto und dann los.« Stina nickte, wenngleich sie überhaupt keine Lust hatte, sich in eine Kneipe zu setzen. Dennoch wollte sie nicht schon wieder die Spielverderberin sein. Sie lief auf die andere Straßenseite, öffnete das Auto und legte den kaputten Regenschirm auf die Rückbank. »Ich habe da vorhin ein Schild gesehen, nur ein paar Häuser weiter. Ein Gläschen und dann fahren wir sofort zur Hütte.« Wenig später betraten sie eine Diskothek, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, die sich abseits der Hauptstraße in einer Gasse befand. Sie öffneten die Tür, und deutsche Schlager jaulten ihnen unüberhörbarer entgegen. »Oh, mein Gott. Hier ist ja der Hund begraben«, maulte Tilda, als sie sich in der fast leeren Kneipe umsah. Am Tresen saßen zwei Gestalten, die sich augenblicklich umdrehten, als die Mädchen den Raum betraten. Die Philosophiestudentin verzog das Gesicht. »Altersheim hier, oder was meinst du?«, flüsterte sie Stina zu, die erleichtert schien, dass in dieser sogenannten Diskothek nichts los war. »Alles leer, und die Musik ist nicht auszuhalten.«