Sturm im Zollhaus

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»Mit wem?« Lükka hatte mitgeschrieben und notierte jetzt die Adresse eines Greetsieler Fischers, der vielleicht seinen Kutter porträtieren lassen wollte.

»Aber nur, wenn die Granatpreise wieder steigen, hat er gesagt«, ergänzte Thedinghausen wenig zuversichtlich.

Roman fand die Granatpreise eigentlich hoch genug, aber das hing wahrscheinlich davon ab, ob man ein Krabbenbrötchen kaufen wollte oder mit dem Fang seine Familie ernähren musste.

7.

»Was hältst du davon?«, fragte Roman, während sie die Sielstraße hinunter in Richtung Hafen schlenderten, wo sie den Wagen abgestellt hatten. Die Sonne schien immer noch heiß und sie hielten sich im schmalen Schattenband der eng stehenden Häuser, bis sie die Hafenmauer erreichten. Mit der Nase zur Kaimauer lag der rot-weiße Kutter von Thedinghausens Staffelei.

»Meinst du den weinerlichen Maler oder seine schauderhaften Bilder?« Lükka blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Ich weiß nicht, was schlimmer war!«

Unten am Anleger hatte gerade die Fähre aus Petkum festgemacht. Die beiden warteten oben auf der Mauer über dem Sieltor, um den Schwarm bunter Fahrradurlauber abfließen zu lassen, die nach der aufregenden Reise über die Ems erst einmal die Ditzumer Hafenrestaurants ansteuerten, aus denen fettiger Fischgeruch durchs Dorf schwappte.

Roman hatte trotzdem Hunger. »Lass uns eben was essen«, schlug er vor, aber Lükka winkte ab. »Du kannst dir gerne einen toten Fisch holen. Aber mir ist von diesen Bildern übel genug.«

Roman lachte. »Du bist ganz schön hart. Der Kerl kann einem doch wirklich leid tun. Seine ganzen Bilder, einfach futsch. Für ihn war das echte Kunst, bestimmt mit viel Herzblut gemalt …«

»Dunkelblau und rosa.« Lükkas Gesicht war todernst, nur ihre grauen Augen funkelten.

»Ach, Mensch, du weißt doch, was ich meine«, sagte Roman. »Da hat er jahrelang dran rumgepinselt, ein Vermögen an Farbe auf die Leinwand getüncht, offenbar ohne dass ein Aas ihm was abgekauft hat. Verkaufen kann er nur das Zeug, von dem er selber nichts hält, und dann auch nur, wenn die Krabben nicht zu billig sind. Sein Geld verdient er also nicht mit dem, was er mag, sondern mit etwas, das ihn sichtlich ankotzt.«

»Mir kommen gleich die Tränen. Na und? Wem geht’s denn besser? Frag doch mal den Bandarbeiter bei VW, ob er den Job so liebt, der ihm Kohle bringt. Oder die Frauen, die in der Hähnchenschlachterei die Kadaver ausnehmen.« Lükka hatte sich in Rage geredet. »Die haben vielleicht ein Recht, sich zu beschweren, aber doch nicht dieser Thedinghausen mit seinem Häuschen in Ditzum, dem schnieken Atelier und dem großen Campingwagen!« Sie hob grüßend die Hand, als vom Fähranleger her ein großer, kräftiger Mann heftig herüberwinkte. »Der da drüben kann dir schon eher leid tun, wenn du so auf erfolglose Künstler stehst. Paule malt auch, aber das Geld für seine Tuschfarben verdient er sich, indem er hier den Dreck vom Deich sammelt oder für ein paar Kröten auf Baustellen oder bei der Werft Hilfsarbeiten erledigt. Aber ihn habe ich noch nie über einen frustrierenden Job jammern gehört.«

Sie hatten den Parkplatz erreicht und Paule kam strahlend auf sie zu, um Lükka zu begrüßen. Lükka stellte Roman vor und wechselte ein paar Worte mit dem freundlichen Riesen. Seine Einladung, eben mitzukommen und sich seine Bilder anzuschauen – »Zweitausend inzwischen!«, verkündete er stolz – lehnte sie allerdings nachdrücklich ab und beeilte sich, das Auto aufzuschließen.

»Eigentlich wollte ich auch nicht deine Meinung über Thedinghausens Bilder hören«, nahm Roman den Faden wieder auf, während Lükka den Wagen über die schmale Allee steuerte. »Ich meinte eher seine Anspielung auf Bungeroth. Meinst du, da könnte was dran sein?«

So richtig glaubte er nicht daran, dass der verhinderte Erlebnisgastronom das Zollhaus in Brand gesteckt haben könnte, auch wenn der dafür bekannt war, mit harten Bandagen zu kämpfen. Es war ihm zwar nicht nachzuweisen, aber dass der Verein immer wieder Ärger bekam, weil Schankkonzessionen für die großen Parties fehlten, auf die Einnahmen keine Vergnügungssteuer abgeführt wurde oder Zweckmäßigkeit bisweilen wichtiger genommen wurde als der Denkmalschutz, schrieb Roman auf Bungeroths Rechnung. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit auch dessen Verdienst, dass eine wahre Goldgrube von Altstadtcafé dichtmachen musste, weil im Rathaus nach mehr als zwanzig Jahren ganz plötzlich jemand bemerkt hatte, dass für die Größe des Lokals nicht genügend Parkplätze ausgewiesen waren. Bungeroth war ein neidisches Aas, aber blöd war er nicht. Wenn der Unternehmer das Zollhaus kaufen und zu einem Multifunktionslokal mit zugkräftigen Shows, teurem Essen und exklusiven Boutiquen umbauen wollte, hatte er jetzt eindeutig sein Ziel verfehlt.

Offensichtlich waren Lükkas Gedanken in dieselbe Richtung gegangen. »Ist ja nicht mehr viel übrig, was er kaufen könnte. Aber wer weiß, vielleicht wollte er mit der Aktion die Zollhausleute nur so mürbe machen, dass sie die Lust verlieren. Und dann hat er es beim Zündeln etwas übertrieben und ärgert sich jetzt die Pest an den Hals.«

Roman nickte nachdenklich. Möglich war das und besser als nichts allemal.

Donnerstag

8.

»Bis auf deinen kleinen Fahrraddieb haben wir jetzt alle zu packen gekriegt, die an dem Morgen beim Zollhaus waren. Rausgekommen ist dabei allerdings nichts. Sieh zu, dass du den Knaben möglichst bald ausfragst, warum er es so eilig hatte. Vielleicht bringt uns das ja weiter.«

Roman war dankbar für Lükkas Gelassenheit. Sein Besuch im Supermarkt war am Morgen ein glatter Reinfall gewesen. Chalid hatte frei, am Spezialitätenstand war ein jüngerer Mann, aus dem außer Chalids Nachnamen nichts rauszubekommen war, und Supermarktchef Eigenbrood war auch nicht im Haus.

Lükka machte Roman keine Vorwürfe, weil er den Jungen gestern nicht gleich in der Flaschenannahme festgenagelt hatte, statt sich um sein eigenes Abendbrot zu kümmern, aber das war auch gar nicht nötig. Niemand war besser darin, Roman Sturm seine Fehler unter die Nase zu reiben als er selbst, allerhöchstens der Leiter des Fachkommissariats, aber Hauptkommissar Stahnke hatte zum Glück Urlaub.

Verbissen hackte Roman den Namen »Chalid Bihal« in alle zugänglichen Datenbanken, aber der Computer kannte weder den Jungen noch irgendeinen Angehörigen. Roman besuchte sogar Dirk Baukloh, der zwischen seinen Regalen voller konfiszierter Bongs und Pfeifen hockte wie in einem Secondhandladen für Kiffer. Dixis Aftershave war nicht völlig verdunstet, hatte es aber schwer, gegen den Schweißgeruch anzustinken. Roman war nicht sicher, ob der aus Bauklohs Poren dünstete oder von den Platten Cannabisharz stammte, die Dixi gerade abwog und deren Gewicht er in eine Liste eintrug.

Ohne etwas über Chalid erfahren zu haben, stand Sturm kurz darauf wieder in dem Büro, das er sich mit Lükka teilte, und atmete erst mal tief durch, obwohl die Kollegin seine Abwesenheit offenbar dazu genutzt hatte, eine halbe Schachtel Zigaretten durch die Bronchien zu jagen.

»Baukloh hat auch keinen Kunden, der Bihal heißt oder auf den die Beschreibung passt«, berichtete er. »Wenn ich bei dem war, bin ich heilfroh, beim 1. FK zu sein und nicht beim Rauschgift. Der Gestank da ist einfach unschlagbar.«

»Du warst zu lange nicht bei einer Obduktion. Danach denkst du bestimmt anders.«

»Oh nein, bitte nicht.« Roman starrte Lükka an, die sich angelegentlich einen Fussel vom Ärmel zupfte. Wie schaffte sie es bloß, bei dieser Hitze in einer langärmeligen schwarzen Bluse herumzulaufen und trotzdem so frischgeduscht zu wirken? »Sag nicht, dass ich nach Oldenburg muss.«

Sturm hatte schon bei vielen Leichenöffnungen die Staatsanwaltschaft vertreten müssen, aber daran gewöhnt hatte er sich immer noch nicht. Es gab Kollegen, die Bilder von Verbrechensopfern, die auf dem kalten Granittisch ihre letzten Geheimnisse preisgaben, nach Feierabend abschalten konnten wie eine DVD, aber Roman hatte jedes Mal in den Nächten danach seine ganz private Kinovorführung. Horrorfilme aus der untersten Schublade unterm Ladentisch und keinen Pfennig dazubezahlt. »Eigentlich will ich heute …«, er überlegte fieberhaft, wie er diesmal den Knochenjob an Lükka abdrücken könnte. Ach ja! »… noch zum Landkreis. Vielleicht hat die Ausländerbehörde irgendetwas über die Kinder in den Akten.« Das konnte klappen, denn Lükka Tammling stand mit Wilma Poppen vom Ausländeramt schon seit der Schulzeit auf Kriegsfuß. Angeblich, weil für die große Blonde der Name schon früh Programm geworden war. Gute Chancen also, dass Lükka den Termin in der Gerichtsmedizin vorziehen würde.

»Außerdem ist mein Wagen in der Werkstatt«, zog Roman noch einen Trumpf aus dem Ärmel.

»Da habe ich gute Neuigkeiten. Oder schlechte – je nachdem. Deine Karre ist fertig und so fahrbereit, wie sie nur sein kann. Wenn sie das überhaupt jemals war. Ich übernehme Wilma Poppen, du den netten Onkel Doktor, so haben wir heute Nachmittag beide unseren Spaß.«

Ein energisches Klopfen an der Bürotür vereitelte Romans Versuch, eine neue Verhandlungsrunde zu starten. Wer so aussah wie der Mann, der nach Lükkas »Ja, bitte« im Raum erschien, suchte das Fachkommissariat für Todesermittlung in der Regel nicht persönlich auf, sondern wartete auf einen Hausbesuch. Das freundliche Lächeln, das die fensterlederartige, bleiche Haut spannte, vertiefte die Schatten um die tiefliegenden Augen, die hinter der getönten Brille fiebrig leuchteten. Volker Noormann, so stellte der Spuk sich mit überraschend kräftiger Stimme vor, pflegte allerdings ein höchst lebendiges Hobby: Er fotografierte. Seinen Motiven stellte er regelmäßig nach, genau nach Fahrplan, und an ausgefahrenen Gleisen. Gegenüber einem Tierfotografen war er als passionierter Eisenbahnknipser eindeutig im Vorteil, denn anders als Waschbären oder Blaukehlchen ließen die Züge der deutschen Bahn höchstens mal eine Stunde auf sich warten und waren deutlich spurtreuer. Vergleichsweise leichte Beute also. Für Roman reichte das allein nicht aus, um die Faszination zu erklären, die einen Menschen dazu brachte, seine Tage an staubigen Schotterbetten zu verbringen. Aber einen Vorteil lernte er schätzen, als Noormann den obersten Reißverschluss seiner großen, schwarzen Kameratasche aufzog und einen Packen Fotos auf den Tisch legte. Züge hielten sich gewohnheitsmäßig auf den Schienen zwischen zwei Bahnhöfen auf und traten an solchen Orten mehr oder weniger so zuverlässig auf wie die Tapire an der Tränke. Deshalb war auch Noormann gerne am Bahnhof und hatte im ersten Büchsenlicht des frühen Dienstagmorgens auf der Lauer gelegen. Direkt gegenüber vom Zollhaus. Am Dienstagmorgen war aber der Regionalexpress nach Münster nicht planmäßig um 5.02 Uhr gekommen, so dass Noormann die erhoffte Begegnung des RE 14103 mit der Regionalbahn RB 34530 entgangen war.

 

Nicht entgangen war ihm aber, dass sich jemand am Zollhaus herumgedrückt hatte. Die Fotos, die Noormann geschossen hatte, waren trotz des Dämmerlichts erstaunlich scharf, die Anschaffung eines lichtstarken Objektivs hatte sich zumindest aus Sicht der Kripo gelohnt.

»Ein bisschen weit weg ist es ja.« Zweifelnd nahm Lükka das klarste der Fotos in die Hand, drehte es um und hielt es verkehrt herum gegen das strahlende Sonnenlicht, das durch die fleckige Fensterscheibe fiel, um die Schärfe und den Kontrast einzuschätzen. »Aber vielleicht kann ich in unserem Bildbearbeitungsprogramm genug rauskitzeln, damit es für ein Fahndungsfoto reicht. Haben Sie die Bilder auf CD dabei oder können Sie uns den Speicherchip Ihrer Kamera hierlassen?«

Noormann sah sie gekränkt an. Einen Speicherchip? Seine Kamera? Nicht doch! »Ich fotografiere noch richtig. Digitalbilder haben doch überhaupt keinen künstlerischen Wert.«

Lükka seufzte leise und Roman konnte das gut verstehen. Ein Dinosaurier mit Kleinbildfilm. Den Nachmittag würde sie also nicht nur damit verbringen, Wilma Poppen ein paar Informationen zu entlocken, sondern auch mit dem Einscannen von Volker Noormanns hochkünstlerischen Technikidyllen. »Trotzdem vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen.«

9.

Brummend mühte sich der Lichtbalken unter der Glasplatte entlang, während der Scanner das Negativ Zeile für Zeile abtastete. Den Papierabzug des Fotos einzulesen, war reine Zeitverschwendung gewesen. Auch in der höchsten Auflösung konnte Lükka auf dem Bildschirm nicht mehr erkennen, als dass eine schlanke Gestalt mit langen, offenbar blonden Haaren beim Zollhaus herumgelaufen war. Lükka vermochte nicht einmal zu sagen, ob die Aufnahme einen Mann oder eine Frau zeigte. Direkt vom Negativ konnte sie hoffentlich mehr Details herauskitzeln, sonst brauchten sie erst gar keine Fahndung anzuleiern. Such mal in Ostfriesland einen bestimmten Blonden …

Das Brummen stoppte, der Abtastbalken fuhr zurück in seine Ausgangsposition und das Foto baute sich langsam im Bildbearbeitungsprogramm auf. Na, mal schauen. Lükka markierte den hellen Fleck, an dem sie das Gesicht des – oder der – Unbekannten vermuten durfte, und vergrößerte ihn, bis er den Bildschirm beinahe ausfüllte.

Fehlanzeige. Ein Gesicht war es wohl, aber die Darstellung war noch immer viel zu pixelig. Aus diesen unterschiedlich hellen Vierecken war nichts Verwertbares zu erkennen. Also noch mal.

Die Arbeitsteilung heute war schon in Ordnung. Roman Sturm war am Seziertisch nicht schlechter aufgehoben als Lükka, aber am Computer war Lükka Tammling eindeutig die bessere Besetzung. Auch diesmal bereitete ihr der Kampf mit der Technik ein grimmiges Vergnügen. Ein Computer konnte ein hartnäckiger Gegner sein, aber in den meisten Fällen behielt die Kommissarin die Oberhand.

Sie ließ den Ausschnitt wie beim vorigen Mal, stellte dafür aber die Auflösung doppelt so hoch ein. Vergrößerung 300 Prozent, Auflösung 1200 dpi, allerfeinste Druckqualität. Das Scanprogramm drohte mit einer enormen Dateigröße und bot eine geringere Auflösung an.

»Denkste«, brummte Lükka. Sie klickte die Warnung weg und wählte stattdessen Scan akzeptieren. Die Mechanik ließ ein sonores Brummen hören. Lükka legte die Hand auf die Abdeckplatte des Scanners und das Vibrieren übertrug sich über ihren Arm in den ganzen Körper, bis es den Magen erreichte. Dort vereinte es sich mit dem Hunger, der sich schon seit geraumer Zeit zu Wort meldete. Mittag war vorbei, das Frühstück hatte sie ausfallen lassen. Auch jetzt hatte sie eigentlich keinen Appetit. Trotzdem zog Lükka einen Apfel aus der Tasche und legte ihn vor sich auf ihren Schreibtisch, der deutlich übersichtlicher war als der ihres Kollegen. Ein Wunder, dass Roman Sturm nicht alle Nase lang wichtige Dinge verschlampte.

Das Brummen des Scanners stoppte und langsam, Zeile für Zeile, baute sich das Foto auf dem Bildschirm auf. Ein bisschen unscharf war es noch immer, aber die Gestalt hatte jetzt ein Gesicht, ziemlich sicher ein Männergesicht. Na also. Lükka speicherte das Bild und bereitete eine Rundmail mit dem Fahndungsaufruf an alle Dienststellen vor. Dann schob sie den Apfel an die Seite. Er musste warten. Jetzt fühlte sie sich bestens gewappnet für ein Telefongespräch mit Wilma Poppen.

10.

»Feierabend!«

Sturm schaffte es, keine Miene zu verziehen und dem schnauzbärtigen Mann, der ihn erwartungsfroh anstrahlte, ungerührt die Hand zum Gruß entgegenzustrecken. Dr. med. Feierabend bewies seinerseits trotz seiner knappen einssechzig wahre Größe: Er ließ sich die Enttäuschung darüber nicht anmerken, dass der Kommissar nicht auf seinen Köder anbiss, weder überrascht die Augenbrauen hob, noch erstaunt fragte, ob er zu spät gekommen sei oder sich im Termin versehen hätte.

»Kann gleich losgehen, Moment noch.« Mit einladender Handbewegung lotste der Gerichtsmediziner Sturm in sein Büro. Während Feierabend aus einer Plastikdose auf seinem Schreibtisch ein handfestes Leberwurstbrot nahm und herzhaft hineinbiss, sah sich der Kommissar in dem großen, dunkel möblierten Raum um. Von den deckenhohen Regalen erwiderten rund sechzig Paar Augenhöhlen seine Blicke. In der scheinbaren Gleichförmigkeit des fleischlosen Grinsens entdeckte Roman auf den zweiten Blick erstaunliche Vielfalt, kein Schädel glich dem anderen. Nicht nur die Größen zeigten deutliche Unterschiede, auch die Farben variierten zwischen einem hellen Elfenbeinton und dunkel rötlichem Graubraun. Glatte Oberflächen wechselten sich mit spröde abblätternder Struktur ab. Kantige Kiefer bleckten neben schmalen Gebissreihen. Hohe, gerade Stirnen sah Roman ebenso wie ausgeprägte Augenbrauenwülste. Von wegen: Der Tod macht alles gleich.

Auf Augenhöhe lag neben einem der helleren Schädel ein Gegenstand im Regal. Roman ging näher heran und erkannte einen Zimmermannshammer.

»Eines unserer schönsten Stücke.« Feierabend war auf leisen Sohlen neben Roman getreten und nahm nicht den Hammer, sondern den daneben liegenden Schädel vom Bord. »Hier, sehen Sie!« Er drehte die knöcherne Schale und deutete auf ein trapezförmiges Loch oberhalb der Hutkrempenlinie. »Das Loch hier ist ganz charakteristisch für das Tatwerkzeug, diesen Zimmermannshammer hier. Als Ihre Kollegen nach der Obduktion die Waffe kannten, hatten sie auch ganz rasch den Täter.«

Roman brummte anerkennend und nickte. Er versprach sich von seinem heutigen Besuch keinen so unmittelbaren Erfolg. Er wollte diesen Pflichttermin im gerichtsmedizinischen Institut einfach nur möglichst schnell hinter sich bringen und war froh, dass Feierabend sich jetzt zur Tür wandte und ihm bedeutete mitzukommen. Na ja, ungefähr so froh, wie wenn eine Zahnarzthelferin ihn ins Behandlungszimmer bat.

Auf dem Granittisch in der Mitte des neonhellen Raumes hatten der Präparator und die assistierende Ärztin schon einen entkleideten Körper bereitgelegt. Feierabend legte seine Tupperdose auf ein Regal, streifte ein Paar Latexhandschuhe über und holte ein Diktiergerät aus der Schublade.

»Am besten unterschreiben Sie gleich, dass Sie bei der Leichenöffnung dabei waren«, empfahl er Sturm. »Wer weiß, ob Sie später noch einen Stift halten können.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf ein Formular und Roman unterschrieb sofort, ohne gekränkt zu sein. Feierabend hatte sich bereits dem Toten zugewandt, während Roman sich noch ein paar Tropfen japanischen Heilpflanzenöls unter die Nase tupfte. »Männlicher Leichnam, Name: unbekannt. Geburtsdatum: unbekannt. Alter ungefähr zwölf bis vierzehn. Sterbedatum.« Er nannte das Datum des Brandes, diktierte Kommata und Doppelpunkte akribisch mit.

Sturm wandte sich ab und lehnte sich an einen Schrank nahe der Tür. Es langte ihm völlig, von oberflächlicher Karbonisation der epidermalen Schichten, von Verbrennungen ersten, zweiten und dritten Grades und postmortalen Verletzungen zu hören. Sehen mochte er sie nicht auch noch.

Auf ein Kommando des Gerichtsmediziners drehten der Präparator und die Ärztin den Körper des toten Jungen um.

»Zweifellos hat er bei Brandausbruch noch gelebt.« Feierabend wandte sich jetzt direkt an Sturm und winkte ihn heran. »Hier sehen Sie deutlich die Krähenfüße. Sie entstehen durch das feste Zusammenkneifen der Augen. Die Hautfalten, die sich dabei bilden, verbrennen nicht und sind auch nicht rußig. Und hier: Die Wimpern sind nur an den äußersten Spitzen versengt – noch ein vitales Zeichen.« Er unterbrach sich und sah Roman Sturm an, dessen Kiefermuskulatur sich verkrampft hatte. »Ich dachte, das wollten Sie wissen.«

Roman nickte wenig überzeugend. Dass die Opfer noch gelebt hatten, als das Zollhaus zu brennen begann, hatte er ohnehin nie bezweifelt. Aber nun hatte er es offiziell, wunderbar.

»Ob Brandbeschleunigungsmittel eingesetzt wurden und wenn ja, welche, steht hinterher im Bericht«, fuhr der Gerichtsmediziner fort.»Dazu müssen wir erst das Lungengewebe durch den Gaschromatographen jagen. – Außen sind wir fertig, lasst uns mal nachsehen, wie’s drinnen aussieht.«

Die Ärztin setzte das Skalpell an der Halsgrube an und zog einen feinen, geraden Schnitt in Richtung Nabel. Der Präparator am Kopfende des Steintisches ließ den Elektromotor seiner Säge summen und der Kommissar murmelte eine Entschuldigung, ehe er auf den Flur stürmte.

»Den Gang runter, dritte Tür links!«, erinnerte ihn Feierabend.

Als Roman zurückkam, mümmelte Feierabend bereits wieder an seinem Leberwurstbrot, während die junge Ärztin dabei war, Lunge und Leber des Toten zu wiegen und Probenbehälter zu beschriften. Der Gerichtsmediziner hob die Hand mit der angebissenen Stulle und winkte in Romans Richtung. »Sorry«, nuschelte er mit vollem Mund, als er Romans Blick bemerkte. »Zu Hause darf ich keine Wurst essen, höchstens heimlich auf dem Lokus.«

»Sie kommen genau richtig zum zweiten Gang«, verkündete der Präparator. Er hatte den Steintisch gereinigt und wandte sich der Tür zum Nebenraum zu, um die fahrbare Liege mit dem zugedeckten Körper in die Kühlung zurückzubringen.

Er verschwand mit der Liege, kam aber nur Augenblicke später mit einer weiteren zurück. Das Tuch darauf hatte einen wesentlich kleineren Berg und Roman spürte, wie sich sein Zwerchfell zusammenzog und seine Kiefer sich wieder verkrampften. Den Jungen hatte er hier in der Gerichtsmedizin zum ersten Mal gesehen. Das Mädchen mit den weichen Locken aber hatte noch gelebt. Er hatte die Kleine in ihrem dunkelblauen Schlafanzug mit den gelben Sternen aus dem brennenden Zollhaus getragen und hatte daneben gestanden, als der Notarzt ihr die Sauerstoffmaske über Mund und Nase gehalten hatte, hatte das bedauernde Achselzucken des Arztes gesehen, der den Kampf um das Leben dieses Kindes verloren hatte. Roman zwang sich zu einem tiefen Atemzug, ließ die Luft bewusst durch die Nase bis in den Bauch strömen und durch den Mund entweichen. Das Pfefferminzöl brannte sich dabei durch die Atemwege und trieb ihm die Tränen in die Augen, aber seine verkrampften Muskeln lösten sich nach dem dritten Atemzug.

Der Präparator sah Roman mitfühlend an.

»Ich mach diesen Job jetzt fast zwanzig Jahre«, sagte er. »Aber bei Kindern ist es immer noch schlimm. Ich sag mir dann immer: Ich mach das, um zu helfen, damit ihr den Täter findet.«

Roman nickte wortlos. Es war Unsinn, dass er sich schuldig fühlte. Er hätte nicht mehr tun können, um das Mädchen zu retten. Und trotzdem blieb dieses Nagen, das quälende Gefühl, er hätte schneller sein müssen.

 

An seinem rechten Oberschenkel spürte er ein Brummen, unmittelbar danach lärmte seine Hosentasche. Roman brauchte einen Moment, um das Geräusch seinem Handy zuzuordnen und das kleine Gerät herauszufummeln. »Ja?«

»Bist du es, Roman?«

»Lükka. Was gibt’s?«

»Ich weiß, dass du zu tun hast. Aber wenn du in Oldenburg fertig bist, solltest du besser schnell herkommen. Ich weiß jetzt, wer die Kinder sind.«

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