Der tote Rottweiler

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Er macht eine Pause und fügt dann hinzu:

„Ey, dem sein bester Freund ist erschossen worden, einfach so, weil dieser Arsch die Knarre von seinem Papa klauen konnte. Das geht doch gar nicht! Mein Cousin, der war zwar nicht verletzt, also am Körper, aber den lässt das nicht mehr los, auch wenn’s schon lange her ist. Er hat immer noch Alpträume. Bloß weil der Typ so ´ne Scheißknarre hatte.“

Er schweigt, kneift die Lippen zusammen und macht kurz die Augen zu.

„Eh, der kann noch nicht mal einen Film sehen, in dem geschossen wird. Kriegt er Panikattacken!“, sagt er dann noch.

Die anderen rühren sich nicht. So was erlebt haben sie noch nicht, aber an ihrer Schule gibt es in regelmäßigen Abständen Amokalarm – als Übung. Mit Sirene und in Deckung gehen und allem, was dazugehört. Gruselig. Weil’s so unwirklich ist, und gleichzeitig irgendwie nah dran. Passiert ja auch in echt.

Nach einem Moment steht Manuel auf, winkt Natalie zu und sagt wieder so locker wie sonst:

„Jetzt du. Ich nehm deine Angel und fisch dir die Worte aus dem Mund.“

Natalie lächelt und drückt ihm den Stab in die Hand, zeigt ihm, wie er ihn halten soll, und hängt ihm das Aufnahmegerät um.

Dann nimmt sie auf dem Stuhl Platz. Schlägt die Beine übereinander, winkelt die Arme an, faltet die Hände im Schoß. Lange, feine Finger. Die blonden Haare frisch gestylt, bürstenkurz auf der einen Seite, schulterlang auf der anderen. Das Gesicht rosa-rosig, die Nase platt, als hätte einer mit dem Finger draufgedrückt. Sie schminkt sich nicht, dennoch sind ihre Lippen knallrot.

„Ich heiße Natalie, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Meine Eltern haben in der DDR gelebt, in Thüringen, aber nach der Wende hat ihr Betrieb dichtgemacht. Arbeit futsch, alles futsch. Da haben sie rübergemacht, hierher. Hier im Werk gab’s Arbeit, meine Mutti hat in der Kantine angefangen, mein Vati als Lagerarbeiter. Vati ist inzwischen Pförtner, Mutti schafft immer noch in der Kantine.“

Sie legt den Kopf in den Nacken und streicht sich mit der Hand über den Hals, bevor sie fortfährt:

„Irgendwie stimmt das schon, was Patrick gesagt hat. Ich meine, dass wir hier alle von der Waffenherstellung leben, ich doch auch. Und nicht schlecht. Das hatte ich so noch gar nicht gesehen.“

Sie guckt direkt in die Kamera.

„Muss ich drüber nachdenken. Ja.“

Und schweigt.

Bobi schwenkt die Kamera zu Amal, weil sie so angespannt guckt, und fängt ein gedankenverlorenes Nicken ein.

Manuel sagt:

„Später. Mach erst mal weiter.“

Bobi richtet die Kamera wieder auf Natalie.

„Äh, ja. Also. Ich habe eine große Schwester, die lebt in Stuttgart und arbeitet als Erzieherin. Sie hat ein Kind gekriegt, und dann hat sie gesagt, na, dann kann sie ja gleich lernen, wie das geht. Finde ich gut, aber ich will erst mal keine Kinder, ich will eine Ausbildung als Gärtnerin machen oder auf einem Bio-Bauernhof Landwirtschaft lernen, irgend sowas, ich will auf alle Fälle was mit Natur machen und draußen arbeiten. Und das Projekt will ich nicht nur wegen Krieg machen, das auch, klar, aber das mit der Natur finde ich auch wichtig. Ich finde, die Menschen haben nicht das Recht, die Umwelt zu zerstören, nur damit sie bequemer leben können und immer reicher werden. Ich finde, Tiere und Pflanzen haben auch ein Recht zu leben. Ich möchte im Einklang mit der Natur sein.“

Amal hebt die Hand, und Manuel schwenkt die Angel zu ihr.

„Okay, verstehe ich“, sagt sie. „Aber was hat das mit Frieden schaffen ohne Waffen zu tun?“

Natalie legt die Finger übereinander, so dass sie ein Zelt bilden, und drückt sie gegeneinander.

„Also, ich finde, Frieden und Waffen, das ist ein totaler Widerspruch. Und als ich den Satz Frieden schaffen ohne Waffen gelesen hab, dachte ich, genau das ist es, so muss das sein, Waffen müssen weg. Meine Schwester sagt immer, man kann nicht Kinder schlagen, damit sie anständige Menschen werden. Ist doch richtig, oder?“

Sie hält einen Moment inne, blickt allen ins Gesicht, als erwarte sie Zustimmung. Und es nicken auch alle, selbst Bobi hinter der Kamera. Sie fährt fort:

„Und ja, mit der Natur, da ist das auch so. Wenn man die schützen will, darf man das nicht mit Gewalt tun. Ich will Frieden mit der Natur. Und keinen Krieg. Aber genau das machen Jäger mit ihren Waffen.“

Ihre blaugrünen Augen blitzen zornig, sie gerät immer mehr in Fahrt, spricht schnell und hektisch.

„Ich glaub, Jäger sind sowas wie Soldaten. Ich hab mir mal eine Website für Jagdwaffen angeguckt, und da sieht man ganz genau, dass Jagd irgendwie dasselbe ist wie Krieg: Jäger wollen den Feind – sie sagen, das Wild – aufspüren, töten; sie wollen sich beweisen, stärker sein, Herr über Leben und Tod sein – so was eben. Müsst ihr mal gucken. Widerlich ist das, so … so … großkotzig! Also ich bin gegen Krieg, gegen die Jagd, ich bin gegen Waffen. Ich finde, das hängt irgendwie zusammen. Krieg abschaffen ist schwer. Aber vielleicht kann man ja mit der Jagd anfangen? Keine Ahnung, wie man das durchsetzen kann. Da hängt so viel dran. Ist echt ein Riesending.“

Sie legt die Hände an die Wangen, die sich rot gefärbt haben, und guckt für einen Moment ganz verloren. Dann steht sie auf, nimmt Manuel die Angel ab und nickt Bobi zu. Er ist dran.

Schon puckert sein Herz wie wild, und er bekommt Schwitzefinger. Hinter der Kamera ist deutlich entspannter als vor der Kamera, schießt ihm durch den Kopf. Jetzt chill mal, sagt er sich, hören dir doch nur drei Leute aus deiner Klasse zu, und die haben gerade selber was erzählt. Er holt tief Luft, guckt noch mal aufs Display der Kamera, prüft, ob sie richtig ausgerichtet ist, drückt auf den Auslöser und setzt sich auf den Stuhl.

Bobi ist nicht besonders groß und ziemlich dünn, er selbst findet sich ein bisschen mickrig. Er hat dunkle Augen, eine unauffällige Nase, zwei kleine Pickel direkt daneben, seine Haut ist eher blass, das Haar dunkelbraun, lockig und so fest, dass seine Mutter Drahtwolle dazu sagt. Zu Bobis großem Bedauern hat er diese Wolle nicht nur auf dem Kopf, sondern fast überall auf dem Körper. Im Gesicht, auf der Brust, den Beinen, den Armen, auf dem Rücken, sogar auf dem Po. Seit ihm diese Haare mit zwölf, dreizehn gewachsen sind, hadert er damit. Er wollte sich das Zeug abrasieren, aber Xabier hat ihm dringend davon abgeraten:

„Mach das bloß nicht! Dann kriegst du überall Stoppeln! Gewöhn dich dran, es gibt Schlimmeres.“

Als Bobi vor der Kamera sitzt, versteht er sofort, warum Manuel erst gar nichts rausgebracht hat. Wahrscheinlich war dem auch einfach die Spucke weggeblieben so wie ihm jetzt. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Bobi schluckt, fährt mit der Zunge über die Lippen, zappelt wie früher in der Schule, wenn er sich nicht konzentrieren konnte. Dann fällt sein Blick auf Amal. Die lächelt ihn so aufmunternd an, dass er denkt, okay, ihr erzähl ich das. Und auf einmal ist die Spucke wieder da, und die Beine halten still.

„Also, ich bin Bobi. Eigentlich heiße ich Borislav, aber da, wo meine Eltern mich geholt haben, haben alle Bobi zu mir gesagt, und dabei ist es dann …“

„Wie, deine Eltern haben dich geholt?“, fragt Amal, ohne den Finger gehoben zu haben. „Hat dich auch der Storch gebracht?“

In ihrer Wange kringelt sich das Grübchen wie ein kleiner Strudel.

„Nö, das nicht. Aber meine Eltern haben mich adoptiert, als ich vier war. Aus einem Kinderheim in Bulgarien. Weil sie selber keine Kinder kriegen konnten. Im Waisenheim haben sie uns immer gesagt, eines Tages kommen eure Eltern und holen euch. Und für mich waren das dann Sofia und Xabier.“

„Wie – dann bist du Bulgare? Hast du bulgarisch gesprochen? Kannst du das immer noch?“, fragt Manuel erstaunt.

„Ach was. Ich bin Bobi, weiter nix. Bulgarisch hab ich vergessen, Sofia und Xabier haben Spanisch mit mir gesprochen, im Kindergarten hab ich Deutsch gelernt.“

„Weißt du was von deinen richtigen Eltern?“, fragt Manuel.

Er hat schon zum zweiten Mal den Finger nicht gehoben, und Natalie kommt mit dem Schwenken kaum hinterher.

„Ich weiß nix mehr, kann mich auch nicht mehr an das Heim erinnern. Ich bin total happy mit Xabier und Sofia.“

„Aber du hast doch zwei kleine Geschwister, oder?“, fragt Amal nach. „Haben deine Eltern doch noch Kinder gekriegt?“

„Nö, das sind Pflegekinder. Der Vater von Maja und Kevin sitzt im Knast, ihre Mutter ist völlig verpeilt. Kevin war erst in einer anderen Pflegefamilie, dann wollte er unbedingt zu uns.“

„Und, wie ist das für dich?“, fragt Amal.

„Ey, jetzt hör doch mal auf. Die Kleinen sind okay. Ich bin ihr großer Bruder, und gut“, fährt es aus Bobi heraus.

Amal schaut ihn sichtlich getroffen an, und Bobi ärgert sich sofort, dass er sie so angemacht hat.

„Äh, sorry. Kann ich jetzt weitermachen?“, schiebt er hinterher.

Niemand sagt etwas. Also macht er einfach weiter.

„Ich bin Bobi, bin siebzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule mache, vielleicht gehe ich nach Spanien. Keine Ahnung. Ich will nicht gleich wieder in so eine Anstalt wie Schule oder Betrieb oder so was.“

Manuel hebt die Hand:

„Und wovon willst du leben? Zahlen dir deine Eltern das?“

„Keine Ahnung. In Spanien hab ich Freunde, und da sind meine Großeltern. Mann, ich bin erst siebzehn, und da soll ich mich schon auf irgendeine Zukunft festlegen? Nö, mach ich nicht.“

Bobi zögert einen Moment, überlegt, ob er das wirklich sagen soll, aber dann denkt er, was soll’s, die anderen sind ja auch ehrlich gewesen.

„Eigentlich würde ich gerne Filme machen. Dokumentarfilme. Keine Ahnung, ob das geht, aber das würde ich wirklich gerne machen. Später mal.“

 

„Cool“, sagt Natalie. Und Amal guckt auch wieder freundlich.

„Ja. Äh … jetzt zu unserem Thema. Also ich … Ich finde auch, dass Frieden nur ohne Waffen geht. Was ich so sehe, in den Nachrichten, im Internet, im Fernsehen, die Bilder vom Krieg, die ganzen Leichen und so, Männer, die mit Knarren rumfuchteln, sogar kleine Jungs manchmal, das finde ich total gruselig. Warum haben die alle Waffen? Wo haben die die her? Wer Waffen hat, benutzt sie auch; wer angegriffen wird, schießt zurück, und so weiter. Ich glaube, wenn’s weniger oder am besten gar keine Waffen gäbe, wäre das anders. Keine Ahnung. Eigentlich würde ich am liebsten die Augen zumachen, so wie Maja beim Versteckspielen. Leider bin ich schon groß. Ich hab mit meinen Eltern über unser Projekt gesprochen. Die kannten den Spruch von früher und haben mir ´ne Menge erzählt von der Friedensbewegung, wo sie mitgemacht haben. Damals, in den Achtzigern, hatten alle Angst vorm Atomkrieg, da gab’s Blockaden gegen Raketenstützpunkte, riesige Demos und jede Menge action, irre Sachen haben die gemacht. Sogar ein Orchester hat Musik für den Frieden gemacht, bei Blockaden von Armeestützpunkten, richtige Konzerte haben die gegeben, vor Kasernen und so. Ich hab die mal gegoogelt – das Orchester gibt’s immer noch! Eh, und wisst ihr, wo die demnächst spielen? Hier bei uns, vor den Toren vom Werk! Da müssen wir hin!“

5

Julika ist verzweifelt. Bello ist und bleibt verschwunden, es gibt nach wie vor keine Spur von ihm. Ein Hund kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Onkel Justus hat angerufen und noch einmal versichert, dass Bello nicht von einem Jäger erschossen wurde. Kein Kollege habe sich gemeldet, und die seien alle sehr zuverlässig. Julika hat stundenlang im Netz gesucht, um herauszufinden, ob Bello irgendwo zum Kauf angeboten wird, aber Fehlanzeige. Beim Tierarzt war sie auch noch mal, aber da weiß niemand was.

Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit: Bello hat sich verletzt und liegt irgendwo hilflos im Wald und wartet darauf, dass er gerettet wird. Wie lange kann ein verletzter Hund ohne Nahrung und Wasser überleben? Vielleicht ist er längst tot? Aber sie haben doch die Gegend rund ums Schützenhaus gründlich abgesucht, und das nicht nur einmal.

Trotzdem möchte Julika nach der Schule noch mal losziehen, aber das darf sie nicht. Denn ihr Opa hat Geburtstag, und da wird hingegangen. Zwar findet Julika diese Familienfeiern endlos öde, aber dass sie nicht teilnimmt, kommt überhaupt nicht in Frage. Selbst Christian muss mit. Er war zwar am Morgen noch nicht in der Schule, hat aber kein Fieber mehr und ist damit in den Augen seines Vaters gesund. Der Junge brauche sich ja nur ins Auto und dann an den Kaffeetisch zu setzen, die paar Schritte dazwischen werde er schon schaffen. Er selber habe ja auch noch mit dem Jetlag zu kämpfen, weil er erst am Morgen aus Mexiko zurückgekommen sei.

Diese Logik erschließt sich Julika zwar nicht, aber sie hat längst aufgegeben, die Entscheidungen ihres Vaters unter logischen Gesichtspunkten zu betrachten. Sie arrangiert sich auf ihre Weise.

Wenn sie schon mitmuss, wird sie mit dem Fahrrad fahren, verkündet sie ihren Eltern; die Stadt hat einen neuen Fahrradweg angelegt, der bis hinaus in den Vorort führt, wo die Großeltern wohnen. Den möchte sie ausprobieren.

Die Mutter findet, das sei viel zu weit fürs Fahrrad, der Vater zuckt die Achseln, kassiert aber ihre Kopfhörer, sie solle sich voll aufs Fahren konzentrieren. Widerspruch ist zwecklos, das weiß Julika, und Betteln ist längst unter ihrer Würde.

Sie macht, dass sie loskommt. Sonst fällt ihren Eltern noch ein, dass sie den Helm aufsetzen soll. Sie will aber ihren Kopf nicht einsperren.

Der neue Radweg verläuft nicht parallel zur Straße, sondern führt über eine eigene, breite Trasse durch den Wald und dann am Fluss entlang. Das Wasser glitzert, die Blätter schimmern im Sonnenlicht. Am Ufer steht reglos ein Fischreiher.

Julikas Rad rollt so leicht auf dem glatten Asphalt, dass sie immer schneller tritt, bis sie jeden Muskel spürt. Der Fahrtwind fährt ihr in die Haare und streicht sie nach hinten. Julika reckt ihr Gesicht in die Sonne und trampelt mit aller Kraft. Schneller, immer schneller. Wenn sie Flügel hätte, flöge sie hinauf in den Himmel.

Irgendwann biegt der Weg vom Fluss ab und führt leicht aufwärts durch eine Siedlung, lauter kleinere Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten drum herum, bis er schließlich in eine Straße mündet, die Julika zwar vom Auto aus kennt, aber bislang nie weiter zur Kenntnis genommen hat. Sie fährt langsamer und orientiert sich. Da vorne, an der nächsten Kreuzung muss sie rechts ab, dann die dritte Straße links, und sie ist da.

Als sie um die erste Ecke biegt, taucht plötzlich ein Fahrrad vor ihr auf. Vor Schreck bremst Julika so scharf, dass sie beinahe über den Lenker schießt, kann sich aber gerade rechtzeitig fangen. „Boah eh!“, stößt sie wütend hervor und stellt einen Fuß auf den Boden.

Die Fahrerin des anderen Rades, ein Mädchen in Julikas Alter, mit schwarzen, stoppelkurzen Haaren, hat auch scharf gebremst, springt lachend ab und sagt:

„Uups! Sorry! Das war knapp! Jetzt hätte ich dich beinahe umgefahren.“

Bevor Julika noch irgendwie darauf reagieren kann, ruft das Mädchen voller Freude:

„Hier ist es ja! Super.“

Sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig, lehnt es an den recht wackeligen, verblichenen Jägerzaun des Eckgrundstücks und zeigt auf ein helles Schild zwischen wild wuchernden Büschen: Mahnmal gegen Krieg und Faschismus.

Die Fröhlichkeit des Mädchens und die Neugier auf dieses ungewöhnliche Schild lassen Julikas Wut im Nu verpuffen. Auch sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig und stellt sich neben das Mädchen.

Links neben dem Schild stehen zwei große, fast ins Gestrüpp eingewachsene Steinbrocken mit reichlich verwitterten Holztafeln daran. Die Inschriften sind aber noch gut zu lesen:

Zur Erinnerung an die fremden Zwangsarbeiter im Krieg 1939-45.

Während des Zweiten Weltkrieges mussten weit über 5000 ausländische Männer und Frauen Zwangsarbeit in der hiesigen Rüstungsindustrie leisten. Über 300 kamen dabei ums Leben. Eines der zahlreichen Lager mit über 2000 Zwangsarbeitern wurde „Russenlager“ genannt. Es befand sich etwa 250 m von hier entfernt.

POLEN RUSSEN FRANZOSEN HOLLÄNDER BELGIER TSCHECHOSLOWAKEN UND ANDERE.

„Hast du das gewusst?“, fragt das Mädchen Julika und guckt sie dabei so eigenartig an, dass Julika nervös wird.

Was soll das? Was will die von ihr?

„Nein“, antwortet sie abwehrend. „Das wusste ich nicht. Ich sehe das zum ersten Mal.“

Dann fällt ihr Blick auf den Namen der Firma, für die diese Menschen arbeiten mussten. Es ist das Werk. Da sind ihre Eltern angestellt, genau wie ihr Opa und ihr Uropa früher. Weiß das Mädchen das?, überlegt Julika. Guckt sie mich deswegen so schräg an?

„Ich glaub, ich kenn dich“, sagt das Mädchen zögernd. „Du bist doch Julika, oder?“

„Äh, ja“, sagt Julika zögerlich. „Wieso? Und wer bist du?“

„Amal. Meine Mutter putzt bei euch.“

„Oh.“

Die Tochter von Sanya. Dass Sanya Kinder hat, weiß Julika, sie hat sie sicher auch schon mal gesehen, aber erkannt hätte sie Amal nicht. Obwohl ihr jetzt auffällt, wie ähnlich sie ihrer Mutter sieht – ihr Gesicht ist genauso rund und freundlich wie Sanyas, und sie hat das gleiche lustige Grübchen. Nur sind Amals Haare kohlschwarz und ganz kurz.

„Und – was machst du hier? Wohnt ihr hier?“, fragt Julika und stellt dabei fest, dass sie keine Ahnung hat, wo Sanya wohnt. Sie war noch nie bei ihr zu Hause.

„Nein, nein“, erwidert Amal. „Wir wohnen in den Hochhäusern auf der anderen Seite vom Fluss. Ich bin hier, weil wir ein Projekt für die Schule machen. Da geht’s um Waffen – Frieden schaffen ohne Waffen. Und ich habe gedacht, ich fang mal mit der Rüstungsindustrie hier bei uns an, wo so viele aus der Stadt arbeiten. Deine Eltern doch auch“, sagt Amal.

„Ja“, antwortet Julika verwundert.

Worauf will die hinaus?, überlegt sie.

„Genau.“

Amal blickt nachdenklich auf den Stein.

„Fünftausend Zwangsarbeiter, dreihundert Tote. Krass, oder?“

Julika nickt.

„Und ich soll auch da …“, sagt Amal und atmet durch. „Also … deine Mutter, die hat mir einen Ausbildungsplatz im Werk besorgt, fürs nächste Jahr, als Industriekauffrau. Und das ist total wichtig, weil, also …“

Sie bricht ab und zieht die Augenbrauen hoch.

„Und wo ist das Problem?“, fragt Julika.

„Na ja. Erst fand ich das ja auch super, weil, mein Vater …“

Sie zögert wieder und setzt noch mal neu an:

„Egal, ich will Geld verdienen, wenn ich mit der Schule fertig bin, und ich will einen guten Beruf haben. Und ich glaub schon, dass mir Industriekauffrau Spaß macht. Aber jetzt … Ich meine, im Werk produzieren die ja nicht irgendwas. Sondern Waffen.“

„Ja klar“, sagt Julika. „Seit zweihundert Jahren. Und richtig gute. Die ganze Welt kauft bei uns ein.“

Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, denkt Julika: Warum sage ich das? Ich klinge genau wie Papa.

Amal nickt energisch.

„Genau. Und mit den Waffen wird Krieg gemacht. Will ich das? Also ich meine, will ich da mitmachen? Und das tue ich doch, wenn ich da arbeite, oder?“

„Musst du wissen“, murmelt Julika.

Das geht ihr jetzt alles viel zu schnell. Zudem ist ihr völlig unklar, wie jemand mit siebzehn Industriekauffrau werden wollen kann. Das klingt in ihren Ohren sowas von öde, egal, in was für einem Betrieb. Nicht ihre Welt.

„Sicher“, sagt Amal. „Bloß – ich weiß es eben nicht.“

Julika guckt auf die Uhr. Halb vier. Spätestens um vier wird sie bei Opa erwartet.

„Von dem Denkmal hier hat mir eine alte Frau aus unserem Haus erzählt“, erklärt Amal, ohne auf Julika zu achten. „Das haben Privatleute gemacht, gleich nach dem Krieg, auf ihrem Grundstück, weil die Stadt es woanders nicht erlaubt hat. Die Stadt wollte überhaupt kein Denkmal, auf keinen Fall, nirgends, hat die Frau gesagt. Niemand wollte sich an die Verbrechen der Nazis erinnern oder womöglich daran erinnert werden. Ist ja allen immer gut gegangen mit dem Werk, hat sie gesagt.“

Amal zieht ihr Handy aus der Tasche und fotografiert.

„Außer denen, die mit den Waffen umgebracht wurden, denke ich mal. Und den Zwangsarbeitern, natürlich“, fügt sie hinzu, nachdem sie das Foto gemacht hat.

„Wo soll das Lager denn gewesen sein?“, fragt Julika.

Ihr will das alles gar nicht so recht in den Kopf. Ringsum sieht sie nur Einfamilienhäuser mit schmucken Gärten, über die jetzt dunkle Schatten grauer Wolkenbänke ziehen.

„Da hinten“, sagt Amal und zeigt auf eine Wiese am Ende der Straße. „Da ist noch ein Mahnmal, das hat die Stadt machen lassen, vor ein paar Jahren, hat die Frau gesagt. Auf einmal! Über siebzig Jahre später!“

Amal nimmt ihr Rad, schwingt sich drauf und meint:

„Ich guck mir das an. Kommst du mit?“

„Okay. Ich mach nur noch schnell ein Foto.“

Als sie sich der Wiese nähern, sehen sie in deren Mitte ein gepflastertes, aus mehreren runden Steinblöcken umfasstes Rund mit einer gewaltigen, aufrechtstehenden Platte in der Mitte. Von weitem sieht es aus wie ein riesiges Buch.

Und das soll es auch sein. Vorne drauf steht Buch der Erinnerung, Zwangsarbeit von 1939-1945. Die Seiten bestehen aus mehreren beweglichen grausilbernen Metall-Tafeln, auf die jede Menge Informationen eingraviert sind.

Beide Mädchen stellen sich davor und lesen stumm. Von 1940 bis 1945 waren mindestens zwölftausend Menschen aus ihren von der deutschen Wehrmacht besetzten Heimatländern hierher verschleppt worden. Ohne diese Zwangsarbeiter wäre die Produktion im Werk und in den anderen Rüstungsfirmen des Ortes zusammengebrochen, denn die deutschen Arbeiter waren ja an der Front. Die zur Arbeit gezwungenen Menschen wurden in den örtlichen Rüstungsfabriken ausgepresst, in Lager eingepfercht, in Baracken gesteckt, sie litten unter Hunger, Ungeziefer, Kälte, Krankheiten. Und ganz sicher auch unter Heimweh, Sehnsucht nach ihren Familien und Freunden.

„Das ist doch Wahnsinn, oder?“, sagt Amal. „Ich meine, die Leute, die mussten Waffen herstellen, damit deutsche Soldaten Leute in ihrer Heimat damit umbringen konnten! Wie krank ist das denn? Wie haben diese Menschen das bloß ausgehalten?“

 

Julika hat das Gefühl, in ihrem Kopf ist ein Sturm ausgebrochen. Ihr Blick bleibt an den Namen der Menschen hängen, die im Lager gestorben sind.

„Wasili Kurtschuwi“, liest sie laut. „Guck mal, der ist nur siebzehn geworden, so alt wie ich jetzt bin.“

Sie versucht sich vorzustellen, wie das wäre, wenn sie in ein fremdes Land verfrachtet werden würde und dort von morgens bis abends in einer Fabrik schuften und als Gefangene in einem Barackenlager leben müsste.

Niemals würde sie das durchhalten.

„Sogar Kinder sind im Lager geboren …“, sagt Amal, „… und gestorben: Anatoli, Wanda, Tamara, Fernando, Lydia …”

Sie zählt stumm weiter.

„Einundvierzig. Manche haben noch nicht mal einen Vornamen bekommen.“

„Mein Opa Gunter ist zu der Zeit geboren, im Krieg. Auch hier im Ort. Aber nicht im Lager. Und er lebt noch“, sagt Julika tonlos. „Ich geh gleich zu seinem Geburtstag.“

Amal betrachtet jetzt die Karte, auf der alle Lager eingezeichnet sind. Zwölf hat es im Ort gegeben, aber Spuren davon gibt es so gut wie keine mehr.

Als die beiden Mädchen alles durchgelesen und angeguckt haben, setzen sie sich auf zwei der Granitsteine und sagen eine Weile lang gar nichts.

Julika ist unbegreiflich, wieso sie bis jetzt nichts von den Zwangsarbeitern gewusst hat. Das hätten sie doch in Geschichte machen müssen. Was für ein ungeheuerliches Verbrechen! Einfach Menschen verschleppen und für sich schuften lassen. Wie Sklavenhalter. Julika ist die freundliche Wiese mit dem idyllischen Fluss dahinter auf einmal unheimlich. Als säßen sie auf einem Friedhof.

„Wo sind die Gestorbenen eigentlich begraben?“, sagt sie schließlich. „Davon steht nichts auf den Tafeln.“

„Stimmt. Und wie sah das hier aus früher? Baracken mit einem Zaun drum herum? Mit Wachen? Und Strammstehen?“, fragt Amal. „Waren die Häuser hier schon da?“

„Und was haben die Leute hier darüber gedacht? Das Lager war doch nicht zu übersehen“, meint Julika. „Und die aus den Lagern mussten ja irgendwie in die Fabriken kommen, also sind sie durch die Straßen gelaufen oder sind gefahren worden. Das müssen doch alle gesehen haben!“

„Bestimmt“, meint Amal. „Das müssen alle gewusst haben! Aber hätten sie was dagegen machen können?“

„Keine Ahnung“, meint Julika. „Vielleicht nicht, vielleicht hatten sie Angst, selber ins Lager zu kommen. Also ich glaub, das war nicht so unrealistisch. Aber …“

Julika fährt sich mit den Zähnen über die Lippen.

„Aber wer sagt denn, dass sie was dagegen machen wollten? Vielleicht fanden die es ja gut?“

„Meinst du?“, fragt Amal skeptisch. „Und haben erst nach dem Krieg gemerkt, was sie eigentlich gemacht haben?“

Julika zuckt die Achseln.

„Ja, kann doch sein“, meint Amal. „Und dann war denen das nach dem Krieg so total peinlich, dass sie nicht drüber reden konnten und alles ganz schnell vergessen wollten? Meine Eltern reden auch nicht über den Krieg.“

„Weil es ihnen peinlich ist?“

„Nee, das nicht, stimmt. Okay, dann haben sich die Leute hier vielleicht schuldig gefühlt? Waren sie ja auch irgendwie, oder?“

„Weiß ich nicht, doch, schon, keine Ahnung. Aber trotzdem, als es vorbei war mit den Nazis, nach dem Krieg – wie konnten die dann einfach so weiterleben, einfach alles wegschieben und vergessen und so tun, als wär nichts gewesen? Mein Uropa, der muss das doch alles mitgekriegt haben, der hat doch im Krieg in der Firma gearbeitet!“

Julika hat das Gefühl, eine Lawine rollt auf sie zu.

„Frag ihn doch!“, sagt Amal.

Sie zupft zwei Grashalme ab, legt sie zwischen die Finger und bläst Luft durch. Erst jagt sie einen schrillen Pfiff über die Wiese, dann variiert sie die Töne, so dass es beinahe melodisch klingt. Julika zieht auch zwei Halme aus dem Boden und lässt sich von Amal zeigen, wie’s geht. Ist gar nicht so schwer, ein paar Mal üben und Julika hat es raus.

Dann pfeift ihr Handy. Eine Nachricht von ihrem Vater.

„Wo bleibst du?“

„Ich muss los“, sagt sie zu Amal und fügt hinzu: „Meinen Uropa kann ich nicht mehr fragen. Der ist tot. Aber ich frag seinen Sohn, meinen Opa.“

Julika schnappt sich ihr Rad.

„Bist du auf Facebook?“, fragt Amal.

„Ja. Julika Schaaf. Schick mir `ne Freundschaftsanfrage!“

„Okay.“

Julika steigt auf, winkt Amal zu und fährt los.

Vor dem Haus von Julikas Opa und Oma, einem rechteckig geschnittenen, aus gelben Ziegeln gemauerten Flachbau in einem Meer von bunten Blumen und Büschen, steht der silberne SUV von Julikas Vater. Julika stellt ihr Rad vor die Garage und will gerade an der Haustür klingeln, da wird die Tür schon von ihrer Mutter aufgemacht.

„Na, endlich“, sagt sie ungeduldig und reicht Julika die Tüte mit den frischen Sachen. Sogar an das Deo hat sie gedacht.

Super, denkt Julika, dass bloß nichts schiefgeht, als sie sich in der geräumigen Gästetoilette neben dem Eingang umzieht und kurz darauf in Bluse und Rock perfekt angezogen herauskommt. Opa und Oma legen Wert auf angemessene Kleidung. Shorts und T-Shirt sind an einem Geburtstag auf keinen Fall angemessen.

Im Wohnzimmer stehen die Terrassentüren offen, aber alle sitzen drinnen an dem mit Löwenmäulchen aus dem Garten geschmückten Kaffeetisch, denn für den Nachmittag ist Regen angesagt, und der Himmel zieht sich auch schon zu.

Offensichtlich wurde auf Julika gewartet. Denn kaum steht sie in der Tür, kommt Bewegung in die Runde. Für einen Moment meint Julika, vor ihr spielte sich eine Filmszene ab, nachdem jemand „action“ gesagt hat. Oma erhebt sich und gießt Kaffee ein, ihre Tochter nimmt den Tortenheber, verteilt saftigen Pflaumenkuchen auf die Teller der Gäste und reicht die Schüssel mit der Schlagsahne herum. Der blasse Christian nuckelt an seiner Cola und tippt auf seinem Handy rum. Kuchengabeln klappern, Gesprächsfäden werden wieder aufgenommen.

„Julika!“, posaunt Opa Gunter mit seiner dröhnenden Stimme quer durch den Raum und reckt ihr voller Freude sein rundes, rötliches Gesicht entgegen.

Julika drückt ihm hastig einen Geburtstagskuss auf das kleine Stückchen freie Wange zwischen weißem Backenbart, Nase und Auge, lässt sich von ihrer Oma Barbara, die für diesen Moment ihre Kaffeekanne abstellt, an den rundlichen, weichen Körper ziehen, gibt den anderen Gästen brav reihum die Hand und lässt sich dann auf den freien Platz neben ihrem Bruder aufs Sofa fallen.

Alles wie immer, stellt sie fest. Wie an jedem Familiengeburtstag der Familien Ritter/Schaaf, jahraus, jahrein, gefühlte hundert Mal pro Jahr. Am Nachmittag Kaffeeklatsch, wie Oma zu dieser Veranstaltung sagt, Einladungen sind nicht nötig, alle wissen Bescheid. Und wie immer scheinen sich alle zu amüsieren.

Abgesehen von Julika.

Ihr will nicht aus dem Kopf, was sie eben gesehen und gelesen hat. Und das passt überhaupt nicht hierher, wo alle nur mit sich selbst und ihrem guten Leben beschäftigt sind. Am liebsten würde Julika aufstehen und gehen. Doch das wagt sie nicht, und außerdem hat sie Amal gesagt, sie würde ihren Opa fragen. Im Moment kann sie sich allerdings nicht vorstellen, wie das gehen soll. Also lässt sie sich von Oma ein dickes Stück von dem mampfigen, zimtigen Pflaumenkuchen auftun, klatscht sich einen fetten Berg Schlagsahne drauf und verkriecht sich dahinter.

Heute sind außer Julikas Familie noch Opas ältere Cousine Gabriele da, wie immer in einem grellbunten Kostüm, sowie Opas ältester Freund und Ex-Kollege Klaus mit Frau Britta, die quasi zur Familie gehören. Sie wohnen auch gleich um die Ecke.

Die Eltern von Julikas Vater sind nicht angereist, sie kommen nur zu runden Geburtstagen.

Der ältere Bruder von Julikas Mutter, Opas und Omas Sohn Mark, kommt nie, weil er schon seit vielen Jahren mit seiner Familie in Australien lebt. Julika kennt sie nur vom Bildschirm.

Und Uromi fehlt. Zum allerersten Mal, seit Julika denken kann. Uromi will nicht mehr aus dem Bett, auch nicht zum Geburtstag ihres geliebten Sohnes. Das will was heißen.