Das Rauschen der Stille

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So ist Jeremey nun einmal, also macht es mir nichts aus.

Ein paar Tage nach dem vierten Juli liefen wir über den Campus und Jeremey bat um eine Pause. Wir waren vor der Beardshear Hall, dem Administrationsgebäude, und setzten uns auf die Stufen, sodass wir über die Grasanlagen blicken konnten. Ich wartete darauf, dass Jeremey etwas sagte, aber dieses Mal brauchte er wirklich lange, um das Gespräch zu beginnen.

»Meine Eltern versuchen immer noch, mich dazu zu bringen, mich fürs College zu bewerben. Sie haben endlich aufgehört, mich nach Iowa City zu drängen und sagen, dass ich mich auch hier einschreiben könnte. Das wäre in Ordnung, glaube ich, weil du ja auch hier bist.«

Er spielte mit seinen Fingern, wie es nicht autistische Menschen taten, wenn sie nervös waren. Es war mir immer aufgefallen, weil ich keinen Unterschied zum Wedeln mit den Händen sehen konnte, und ich mochte es, wenn Menschen das mit dem Fummeln machten. Es bedeutete, dass sie starke Gefühle hatten. Ich war mir ziemlich sicher, dass Jeremey ängstliche Gefühle hatte. »Ja, ich würde immer noch hier sein. Möchtest du naturwissenschaftliche oder Mathe- oder Computerkurse belegen?«

»Ich weiß nicht, welche Kurse ich belegen würde. Ich will überhaupt nicht aufs College.«

»Was möchtest du dann?«

»Ich weiß es nicht. Mich ausruhen. Ich wünschte, alles würde sich beruhigen.«

Jeremey sagte oft, dass er sich ausruhen wollte. Aber er ging jeden Tag zur selben Zeit ins Bett wie ich und schlief oft bis zum Mittag. An manchen Tagen kam er gar nicht aus dem Bett und musste unsere gemeinsame Zeit absagen. Aber er hatte nie viel in seinem Terminplan. Ich verstand nicht, was sich beruhigen sollte, aber ehe ich entscheiden konnte, ob eine Frage in Ordnung war, sprach er weiter. Dieses Mal zitterte seine Stimme, er war so nervös.

»Das ist… wahrscheinlich… ich meine…« Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Ich weiß nicht, ob du Interesse hättest, aber ich dachte, vielleicht könnten wir im Studentenwohnheim Mitbewohner sein.«

Viele Gedanken und Gefühle strömten gleichzeitig auf mich ein. Als ich mich zum ersten Mal fürs College beworben hatte, hatte ich gefragt, ob ich im Studentenwohnheim bleiben könnte, aber Mom hatte mir die Räumlichkeiten gezeigt und ich wusste von Anfang an, dass es niemals etwas für mich werden konnte. Zu laut, zu viele Menschen, zu viele Gemeinschaftsräume. Ich glaube, dass sie es deshalb getan hatte, weil ich genauso sein wollte wie alle anderen, aber ich hatte vorher nicht gewusst, wie das Leben im Wohnheim aussehen würde. Aber wenn ich daran dachte, mit Jeremey zusammenzuwohnen, konnte ich nur daran denken, die ganze Zeit mit ihm in einem Raum zu sein.

Wenn ich mit ihm zusammenziehen würde, könnte ich mit Sicherheit den Mut finden, ihn zu küssen und ihn zu fragen, ob er mein fester Freund sein wollte.

»Es tut mir leid.« Jeremey zog die Schultern nach oben und richtete seinen Blick fest auf den Boden. »Das war eine dumme Frage.«

Ich hasste es, dass Jeremey so oft sagte, dass er dumm war. »Es ist eine gute Frage. Ich hab versucht, darüber nachzudenken, ob es funktionieren würde. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir Mitbewohner sein würden.« Ich dachte an die brüllenden, jungen Männer und die öffentlichen, dreckigen Duschen und fing an zu wippen. »Aber ein Wohnheim ist nicht gut für meinen Autismus. Aber die ISU hat Wohnungen, die so ähnlich sind wie ein Wohnheim.«

»Aber wahrscheinlich teuer.«

Das wusste ich nicht. Ich zog mein Handy aus der Tasche und machte einen Vermerk auf meinem Notizzettel, damit ich mich später nach den Wohnungen erkundigen konnte. »Ich müsste mit meinen Eltern reden. Das Problem ist, dass ich nicht gut darin bin, mir all die Dinge zu merken, die man in einem Haus machen muss. Und Mom sagt, dass es schwierig wird, die ganze Zeit zu kochen. Aber ich glaube, der Frederiksen Court hat einen Speiseraum auf dem Gelände.« Ich summte ein wenig, während ich versuchte, mir alles vorzustellen. Eine nette, ruhige Wohnung mit Jeremey.

Ich könnte ihn auf der Couch küssen. Wenn sich herausstellen sollte, dass er auch schwul ist. Und wenn er mit mir ausgehen und nicht nur beste Freunde sein wollte.

»Ich frage mich, ob in diesen Wohnungen viele Partys gefeiert werden. Das wäre sicher nicht gut für deinen Autismus. Oder für mich.«

Nein. Partys wären schrecklich. Ich summte und wippte stärker. Das war ein kniffliges Problem. Ich würde darüber nachdenken und ein wenig recherchieren müssen – aber ich wollte, dass es funktionierte.

Während ich so dasaß, summte und wippte, ging eine Gruppe junger Männer vorbei und ich hörte einen von ihnen murmeln: »Verdammte Freaks.«

Ich schloss die Augen, damit ich mich darauf konzentrieren konnte, meine Wut zu kontrollieren.

Ich verstand, dass ich nicht um mich schlagen konnte, wenn mich jemand beschimpfte. Hin und wieder passierte es, wenn ich mit Jeremey unterwegs war, und es ärgerte mich. Ich hasste es, mich nicht vor meinem besten Freund verteidigen zu können, von dem ich wollte, dass er mein fester Freund wurde. Es frustrierte mich, machte mich wütend und verlegen.

»Was für Arschlöcher«, sagte Jeremey.

Durch das Wissen, dass er sie ebenso hasste, fühlte ich mich besser. »Ich hätte nicht wippen und summen sollen. Deswegen haben sie was gesagt.«

»Warum solltest du nicht wippen und summen? Du hast nachgedacht. Das hilft dir. Die Menschen haben die ganze Zeit lustige, kleine Macken. Was ist so schlimm an deinen?«

All meine Gefühle wallten auf. Es waren gute Gefühle, aber manchmal machten sie es mir noch schwerer, zu reden. Wäre ich mit meiner Familie zusammen gewesen, hätte ich eines meiner Zeichen gegeben, aber ich hatte sie Jeremey noch nicht gezeigt. Also holte ich mein Handy hervor. Es schien ihn nie zu stören, wenn ich ihm eine Nachricht schickte, anstatt laut mit ihm zu sprechen.

Jeremey, hier ist Emmet. Du bist ein wundervoller Freund. Danke.

Jeremey lächelte, als er die Nachricht las und er beugte sich zu mir, als würde er seinen Kopf an meine Schulter legen wollen. Ich erstarrte, weil ich nicht wusste, ob ich das wollte. Ehe ich mich entscheiden konnte, setzte er sich jedoch ruckartig wieder auf. Er schrieb zurück.

Hier ist Jeremey. Du bist auch ein wundervoller Freund. Ich rede mit meinen Eltern über die Wohnung. Das wäre großartig, wenn es klappen würde. Aber mach es nicht, wenn du der Meinung bist, dass es schlecht für deinen Autismus ist.

Normalerweise hatte ich kein Problem mit meinem Autismus, aber in diesem Moment hasste ich ihn. Ich konnte nur daran denken, dass ich zusammen mit Jeremey im Wohnheim sein könnte, wenn ich nicht autistisch wäre. Das war verkehrte Logik, denn wenn ich keinen Autismus hätte, wäre meine Familie nicht in eine andere Stadt gezogen, um bei mir zu sein, während ich aufs College ging, und damit hätte ich auch Jeremey niemals kennengelernt. Ich würde auch nicht ich sein.

Aber es war nicht fair, dass Autismus es so schwer machte, mit Jeremey zusammenzuwohnen.

Als ich meine Mom nach der Wohnung fragte, trug ich mein Stitch-T-Shirt. Das war mein Code dafür, dass mir die Frage sehr wichtig war.

Ich habe Zeichen und Codes, die ich mit meiner Familie benutze. Feinheiten in der Sprache kann ich nicht immer verstehen und Gesichtsausdrücke sind für mich unmöglich zu lesen und Mom sagt, dass Unterhaltungen an dieser Stelle für gewöhnlich stecken bleiben. Sie sagt, dass das Internet deshalb so voller Missverständnisse ist. Ich komme im Internet eigentlich gut klar, aber das liegt vielleicht daran, dass ich mich nicht auf verbale oder sichtbare Zeichen verlasse, wenn es um das Verstehen geht.

Wenn ich im richtigen Leben mit Menschen spreche, erwarten sie von mir, dass ich mich wie eine Person ohne Autismus verhalte, und Mom sagt, dass sogar sie manchmal vergisst, es nicht vorauszusetzen. Deshalb haben wir den Code ausgearbeitet. Ich habe T-Shirts, die unterschiedliche Dinge bedeuten, und wenn ich sie trage, wissen alle, dass ich etwas sehr intensiv empfinde. Wir haben Handzeichen, damit Mom mir in der Öffentlichkeit signalisieren kann, dass ich mich unhöflich verhalte und sie hält mich auf, damit ich nicht jeden aus Versehen wütend mache. Wenn ich überfordert bin, fällt mir das Sprechen manchmal schwer, also haben wir alle vor langer Zeit die amerikanische Zeichensprache gelernt, die wirklich sehr praktisch ist. Jeder sollte sie als Zweitsprache lernen, wirklich.

Auf meinem Stitch-T-Shirt steht Ohana heißt Familie, Familie heißt, dass alle zusammenhalten und füreinander da sind. Ich trage dieses T-Shirt, wenn ich über etwas sprechen möchte, das mir wichtig ist. Als ich sie in unsere Rede-Sessel im Wohnzimmer setzte und sie das T-Shirt sah, sagte sie nicht, dass sie es für keine gute Idee hielt, eine eigene Wohnung zu haben. Sie erinnerte mich auch nicht daran, wie das Wohnheim gewesen war. Stattdessen sagte sie: »Erzähl mir, warum das für dich wichtig ist, Emmet.«

Ich hatte meine Gründe auf Karteikarten geschrieben und in meinem Zimmer geübt und ich hatte sogar ein Essay geschrieben, das ich ihr vorlesen oder überreichen konnte, aber ich wollte ihr zeigen, wie sehr ich mich bemühte, und wählte stattdessen den Redeweg.

»Jeremey ist mein bester Freund. Er hat Angst davor, aufs College zu gehen, aber seine Eltern zwingen ihn. Ich glaube, seine Depression ist genauso nervös darüber, in einem Wohnheim zu sein, wie mein Autismus. Außerdem glaube ich, dass er einen Angstgehirnoktopus hat, von dem er nichts weiß. Und ich möchte mit ihm in einer Wohnung leben, wie ein ganz normaler Collegestudent. Auf dem Frederiksen Court gibt es eine Kantine und einen eigenen Supermarkt. Es ist der perfekte Ort für uns, um in unsere Selbstständigkeit zu starten.«

 

»Liebling, haben sie spät im Jahr noch freie Plätze?«

Ich wusste es nicht und machte mir deswegen Sorgen. Wir würden eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern für zwei Personen brauchen und auf der Website hieß es, dass diese Wohnungen sehr begrenzt waren. Sie hatten das Wort sehr in Großbuchstaben und kursiv geschrieben, also war es ihnen ernst. »Mom, ich muss das tun.«

»Das verstehe ich. Unglücklicherweise richtet sich die Welt nicht immer nach dem, was wir wollen.« Sie rieb über ihren Oberschenkel, als sie sich zurücklehnte. »Das ist eine schwierige Situation, Schatz. Ich bin nicht sicher, ob du für eine normale Wohnung bereit bist, selbst auf dem Campus. Du arbeitest hart und bemühst dich, aber wenn du von etwas frustriert bist, brauchst du schnell Hilfe. Wir würden unser Bestes geben, dich zu unterstützen, aber es ist nicht so einfach, wenn du nicht mehr mit uns unter einem Dach wohnst. Vielleicht können wir mit deinem Dad reden, endlich den Keller in eine Wohnung umzubauen.«

»Ich mag den Keller nicht. Da riecht es komisch.«

»Deine Wahl könnte der Keller oder nirgends sein, Liebling.«

»Dann will ich ins Wohnheim. Wir können ein ruhiges suchen.«

Mom seufzte. »Ich weiß zu schätzen, wie sehr du das willst. Bitte denk daran, dass ich es auch für dich möchte. Ich kann versprechen, dass ich mir die Möglichkeiten ansehe, sobald unser Gespräch beendet ist. Aber du musst auch verstehen, dass es eine Weile dauern kann, und meine Lösung ist vielleicht nicht genau die Antwort, die du haben möchtest.«

Ich verstand die Logik ihrer Worte, aber sie machte mich traurig und wütend. Ich erinnerte mich an die Jungs, die mich Freak genannt hatten, wie so etwas immer passierte, wenn ich allein in der Öffentlichkeit unterwegs war. Ich erinnerte mich daran, wie nervös Jeremey gewesen war, als er mich gefragt hatte, ob wir zusammen wohnen wollen, weil er es genauso wollte wie ich und er Hilfe brauchte.

Ich mochte es nicht, mich selbst zu hassen, und meinen Autismus zu hassen hieß, mich selbst zu hassen, aber im Moment war ich so wütend, dass ich eine andere Person sein wollte.

Ich machte mir Sorgen, dass Jeremeys Eltern ihn nach Iowa City schicken und wir nicht mehr beste Freunde sein würden. Ich hatte Angst, dass er jemanden ohne Autismus kennenlernen und ihn mehr mögen würde als mich. Zwar hatte ich nicht gesehen, dass sein Freund Bart ihn auf Instagram verlinkt hatte oder zu seinem Haus gekommen war und Jeremey sprach auch nie über ihn, aber ich hatte immer Angst, dass Bart mir Jeremey wegnehmen würde. Ich dachte an all die nicht-autistischen Barts auf dem College, die mutig genug waren, Jeremey von ihrer Homosexualität zu erzählen und ihn vielleicht sogar küssen würden.

»Emmet.« Moms Stimme war sanft und sie legte ihre Hand neben mein Bein. Es war ihre Art, mich zu berühren, ohne dabei eine weitere Empfindung auszulösen. »Ich weiß, was du für Jeremey empfindest. Ich weiß, wie wichtig er für dich ist und deswegen tut es so weh, ihm nicht geben zu können, worum er dich gebeten hat.« Sie streckte ihre flache Hand aus und das war ihr Zeichen für Bei diesem Teil musst du gut aufpassen. »Ich bin dein Beistand. Ich passe auf dich auf und kämpfe für dich, selbst wenn du es nicht bemerkst. Ich weiß, dass du aufgebracht bist und ich glaube, dass du ein bisschen Zeit mit dem Schaumstoffhammer brauchst, wenn wir hier fertig sind. Aber lass nicht zu, dass diese bösen Stimmen dir einreden, ich würde dir nicht helfen.«

Ich weiß, dass sie meine Fürsprecherin ist und bin froh darüber. Aber ich war so wütend. Vielleicht war es auf meinem Gesicht nicht zu erkennen, aber innerlich fühlte ich nur Feuer und Traurigkeit. »Ich bin zu anders, Mom. Ich will nicht so anders sein.«

»Jeder ist anders. Manchen Menschen gelingt es besser, ihre Unterschiede in die Dunkelheit zu schieben, sich anzupassen und einfach Schafe zu sein, aber das ist nicht immer gut.«

»Ich wäre lieber ein Schaf als allein.«

»Aber das ist das große Geheimnis. Die Schafe sind einsamer als alle anderen.«

Sie hatte recht. Aber ich war noch immer aufgebracht und wollte, dass mir die Welt nicht mehr im Weg stand. »Du hast recht. Ich muss meinen Hammer benutzen.«

»Und ich muss ein paar Telefonate führen. Bekomme ich eine Umarmung, Jujube?«

Ich bin keine Frucht aus China, denn das ist eine Jujube, und ich war zu wütend für eine Umarmung. Aber Bekomme ich eine Umarmung, Jujube ist Moms Code dafür, dass sie eine Umarmung braucht. Sie ist eine Mom mit vielen Superkräften, aber sie sagt, dass die von Umarmungen angetrieben werden.

Im Moment mussten ihre Superkräfte wirklich aufgefüllt werden. Also umarmte ich sie und ließ zu, dass sie meine Haare küsste, in die sie auch hineinweinte.

Ich weinte nicht. Ich ging nach oben, holte meinen Schaumstoffhammer aus dem Schrank, schlug auf das Bett ein und schrie für fünfzehn Minuten. Ich sagte viele böse Wörter.

Als ich fertig war, widmete ich mich meinen Algebra-Aufgaben. Es beruhigte mich immer. Ich kann nicht im Wohnheim leben und ich kann die Leute nicht davon abhalten, mich Freak zu nennen, aber ich kann eine Gleichung immer nach x auflösen.

Kapitel 6

Jeremey

Ende Juli hatte ich mich an der Iowa State eingeschrieben und meine Eltern und ich stritten ununterbrochen.

Ich fühlte mich, als wären ihre Bitten unmöglich umzusetzen, aber selbst wenn ich es schaffte, waren meine Bemühungen niemals genug. Ich ließ zu, dass sie mich für die Kurse anmeldeten, aber ich bekam Ärger, weil ich nicht die Initiative ergriff, um Material für die Schule zu kaufen oder mein Zimmer im Wohnheim einzurichten. Mein Wohnheimzimmer, in dem ich ohne Emmet leben würde. Er hatte mir gesagt, dass es ihm leidtäte, ihm sein Autismus aber nicht erlauben würde, in einem Wohnheim oder einer Wohnung auf dem Campus zu leben. Dabei hatte er den Blick starr auf den Boden gerichtet.

»Meine Mom sieht sich andere Möglichkeiten an«, hatte er mir versichert. »Sie hat gesagt, dass ich Geduld haben muss. Sie hat eine Spur.«

Ich wollte, dass sie eine Spur hatte, mehr, als ich es mit Worten ausdrücken konnte, aber bis es Realität wurde, musste ich davon ausgehen, mit einem Fremden zusammenzuwohnen und darauf musste ich mich vorbereiten. Wenn es nach meiner Mutter ging, war ich nicht mal annähernd gut genug vorbereitet und als sie müde wurde, darauf zu warten, dass ich mich selbst kümmerte, übernahm sie die Führung. Nachdem sie mich eine Stunde lang wegen meiner mangelnden Verantwortung angeschrien hatte, schleifte sie mich zu Target, aber ich war mir sicher, dass ich auch eine Panikattacke zwischen Regalen mit Schulbedarf bekommen hätte, wenn sie gelächelt und mir gesagt hätte, dass alles gut wird.

Glaubt nicht, dass sie danach meine Hand gehalten hat. Sie hat mich auf dem ganzen Nachhauseweg angeschrien.

»Wie konntest du mich so blamieren? Alle haben uns angestarrt. Alle haben mich angesehen, als wäre es irgendwie meine Schuld.«

Ich fühlte mich schuldig, obwohl sie der Grund dafür war, dass ich aufgebracht war. Sie hatte mich gezwungen hinzugehen. Ich konnte nicht mit dem großen Billigsupermarkt umgehen, oder allem, was größer war als Wheatsfield, und an manchen Tagen war sogar der zu viel. Aber ich hasste es, die Menschen zu enttäuschen und ich hasste es auch, dass mich alle anstarrten. Ich verachtete die Tatsache, dass ich es nicht weiter als zur Grußkartenabteilung schaffte, ohne zu hyperventilieren, aber es war egal, wie sehr ich es versuchte, ich brach jedes Mal zusammen.

Im Moment brach ich ständig zusammen, auch zu Hause. Nicht so oft mit Emmet, aber wir mussten damit aufhören, über den Campus zu spazieren, weil es mich nur daran erinnerte, wie schrecklich das Leben dort ohne ihn sein würde, und ich würde wieder eine Panikattacke bekommen.

»Ich glaube, dass du noch nicht aufs College gehen solltest«, sagte Emmet. »Ich glaube, dass du mit meiner Mom über Medizin sprechen solltest. Sie könnte dir etwas verschreiben.«

Er hatte recht. Aber ich sagte ihm immer, dass ich nicht über Medikamente sprechen wollte. Um ehrlich zu sein, wollte ein Teil von mir, dass ich in der Schule zusammenbrach, um meinen Eltern zu zeigen, wie falsch sie lagen.

Dann wurde mir jedoch klar, wie viele Fremde meinen Zusammenbruch miterleben würden, und ich bekam eine weitere Panikattacke. Deshalb versuchte ich, überhaupt nicht übers College nachzudenken.

Marietta machte sich Sorgen um mich, so viel wusste ich. Sie sagte nicht, dass ich Medikamente nehmen sollte, aber sie schenkte mir jedes Mal, wenn ich vorbeikam, sehr viel Aufmerksamkeit und versicherte mir, dass sie nach alternativen Wohnmöglichkeiten für mich und Emmet suchte. Außerdem bereitete sie ein super spezielles College-Care-Paket vor. Auf dem Kindle, den ich mir von ihr geborgt hatte, erschienen ständig neue Bücher. Saturns Schatten. Das Monster, die Hoffnung und ich. Angstfrei leben. Es waren alles Bücher über Depressionen und Angstzustände.

Ich las sie nicht.

Es war nicht so, dass ich keine Hilfe wollte. Ich wollte sie, aber vor allem wollte ich, dass meine Eltern damit aufhörten, mich zu drängen, und ich konnte nicht erkennen, wie es sie verändern würde, wenn ich Medikamente nahm oder Bücher las. Sie mussten Medikamente nehmen oder Bücher lesen oder mir zumindest zuhören.

Sie hörten nicht zu, egal was ich sagte oder tat, egal wie schlimm meine Panikattacken wurden. Aber eines Tages rief mich meine Schwester an.

Jan lebt in Chicago und kommt nur selten nach Hause. Meine Mutter beschwert sich ständig darüber, dass meine Schwester niemals antwortet, wenn sie sie anruft. Zu Jans Verteidigung muss man sagen – Mom fragt sie nie nach ihrem Leben, sondern beschwert sich immer nur über ihr eigenes. Ich würde ihre Anrufe auch nicht beantworten, wenn ich Jan wäre.

Jan ruft uns nicht an und sie ruft mich nie an. Aber an diesem Tag tat sie es, als ich im Garten saß und darauf wartete, dass Emmets Unterricht vorbei war.

»Hey, kleiner Bruder. Wie laufen die Dinge?«

»Gut«, sagte ich, obwohl es ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach. Niemand möchte schlechte Dinge hören.

»Ich hab gehört, dass du ein bisschen nervös bist, was das College angeht. Und dass du mehr Panikattacken hast. Du machst mir Sorgen, Zecke.«

Mein ganzer Körper wurde vor Verlegenheit heiß. Woher wusste Jan das alles? Dass sie mich mit meinem alten Spitznamen ansprach, machte es nicht besser. »Es wird schon gehen.« Ich glaubte nicht daran, aber ich wollte nicht, dass eine weitere Person wegen mir den Aufstand probte. Ich verstand nicht, warum Jan sich Sorgen machte. Das tat sie nie.

Aber an diesem Tag hörte sie einfach nicht auf. »Ich weiß, dass ich nicht gut darin bin, mit der Familie in Kontakt zu bleiben. Das tut mir leid. Ich kann mit Mom nicht umgehen, also halte ich Abstand, aber das bedeutet, dass ich dich unbeabsichtigt ignoriere. Geht es dir wirklich gut? Soll ich nach Hause kommen und dir den Rücken freihalten?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie wollte nach Hause kommen und mir helfen? Ja, das wollte ich, aber diese ganze Sache fühlte sich seltsam an und es machte mich nervös. Außerdem schämte ich mich, dass sie meinetwegen überhaupt Schwierigkeiten hatte. »Es ist in Ordnung. Tut mir leid, dass ich dich belaste.«

»Schatz, du belastest mich nicht. Ich mach mir Sorgen um dich. Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Ich will nicht, dass dir unsere Eltern den Verstand rauben und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es im Bereich des Möglichen liegt. Sprichst du mit jemandem über die Panikattacken? Nimmst du irgendwelche… Medikamente zur Hilfe?«

Warum taten alle so, als wäre ich krank? Als hätte ich einen Herzfehler und nicht die dumme Angewohnheit, in der Öffentlichkeit in Panik auszubrechen und leicht vom Leben überfordert zu sein? »Es geht mir gut«, sagte ich erneut. Und erneut.

Irgendwann hörte sie auf zu fragen und Emmet schrieb mir aus dem Bus, also sagte ich meiner Schwester, dass ich gehen musste.

»Okay, aber ich werde mich wieder melden«, sagte Jan.

Ich war froh, dass sie mich warnte. Beim nächsten Mal würde ich nicht so überrascht sein und mich besser auf ihren Anruf vorbereiten.

Zwei Tage nach Jans Anruf erschien Marietta an unserem Haus.

Sie trug einen hübschen Weidenkorb, der mit Bananenbrot, Keksen und einer Flasche ausgefallenem Mineralwasser gefüllt war. Eine Stunde lang saß sie mit meiner Mutter in der Küche und sie unterhielten sich über nichts Bestimmtes, also verschwand ich in mein Zimmer. Aber nachdem Marietta nach Hause gegangen war, war Mom ganz aufgeregt und glücklich. Am nächsten Tag trafen sich Mom und Marietta zum Mittagessen in dem schicken, neuen Restaurant in Somerset und am Tag darauf tranken sie in der Innenstadt zusammen Kaffee.

 

Ein paar Tage später schlug Mom vor, dass Emmet doch zur Abwechslung mal zu uns kommen sollte.

Sie war nervös, aber Marietta war in die Charme-Offensive gegangen und spielte sie wie eine Violine. Ich hatte ihre Diskussion im Wintergarten vor dem Besuch gehört. Marietta hatte meiner Mutter gesagt, was sie bei Emmet zu erwarten hatte. »An neuen Orten wird er nervös und normalerweise begleite ich ihn, wenn er eine neue Umgebung erkundet, aber er besteht darauf, es allein zu tun. Ich habe ihm gesagt, dass er nur unter der Bedingung allein herkommen darf, nicht die Beherrschung zu verlieren. Wenn ihn also etwas wütend macht, wird er sich wahrscheinlich für ein paar Minuten zurückziehen, ohne dir etwas zu sagen. Wenn er es gut macht, wird er dir ruhig sagen, dass er wütend ist. Aber er ist weit entfernt davon, wirklich ruhig zu sein. Allerdings ist er ein guter Junge und er bemüht sich sehr. Ich bin sicher, dass alles gut laufen wird, aber falls es Probleme geben sollte, hast du meine Handynummer.«

Es war eine große Sache, dass Mom Emmet zu uns einlud. Er machte sie nervös. Unglaublich nervös.

Aber sie war höflich, als er zu Besuch kam, und er tat es ihr gleich. Er klopfte an der Tür und wippte nur, während er darauf wartete, dass ich aufmachte. Er überreichte meiner Mom einen Strauß Blumen, womit er sie sofort gewann, obwohl er ihr dabei nicht in die Augen sah. Ohne sich umzusehen, sagte er, dass sie ein hübsches Zuhause hatte und er froh war, hier zu sein. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das alles auswendig gelernt und geübt hatte.

»Ich möchte dein Zimmer sehen, Jeremey«, sagte er nach einer Weile und tippte rhythmisch mit zwei Fingern gegen seinen Oberschenkel. Davon hatte er mir erzählt – seine Mutter und er hatten eine Reihe von Zeichen und stummen Gebärden, sodass sie miteinander kommunizieren konnten, ohne dass jemand etwas bemerkte. Die Geste, die ich während meines ersten Besuchs gesehen hatte – zwei Fingern von ihr, drei von ihm –, war ihre Art, ihn für seine Unhöflichkeit zu rügen und seine Antwort und Entschuldigung darauf. Zwei Finger auf seinem Oberschenkel bedeuteten, dass er nervös war und das Zimmer verlassen musste, aber er wollte es nicht laut aussprechen.

Ich stand von der Couch auf und führte ihn zur Treppe. »Natürlich. Hier lang.«

Schweigend folgte er mir die Treppe hinauf. Ich freute mich darauf, ihn in meinem Zimmer zu haben, ihm meine Sachen zu zeigen und in meinem Bereich zu sein. Mittlerweile war ich oft in seinem Haus gewesen und wir hatten die Nachmittage in seinem Zimmer verbracht. Aber heute würde er zum ersten Mal mein Zimmer sehen.

Als ich jedoch die Tür öffnete, warf er nur einen Blick hinein und zuckte zusammen, ehe er sich in die hinterste Ecke des Flurs zurückzog und das Gesicht zur Wand drehte.

Vorsichtig ging ich auf ihn zu. »Emmet? Was ist denn los?«

Sein Körper war stocksteif und sein Gesicht blieb meinem Blick verborgen. »Ich kann jetzt nicht sprechen.«

Anspannung sammelte sich in meinem Bauch. »Warum nicht?«

Sein Nacken und seine Arme waren angespannt und er kniff krampfhaft die Augen zusammen. »Ich bin wütend. Ich hab versprochen, dass ich nicht wütend werde.«

Mir war heiß und kalt, als hätte jemand Gift in mein Herz gepflanzt, das sich nun über meine Arme und Beine ausbreitete. »Warum bist du wütend? Etwa auf mich?«

»Ja. Bitte lass mich allein.«

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mir war übel – das war so ziemlich meine größte Angst, dass ich jemanden verärgerte, der mir etwas bedeutete, ich aber nicht wusste, warum, dass ich Emmet verärgerte und es nicht wiedergutmachen konnte. Ich spürte, wie sich die Panikattacke in mir aufbaute, was alles nur noch schlimmer machen würde, aber ich konnte sie nicht aufhalten. Ich lief ans andere Ende des Flurs, setzte mich auf den Fußboden, zog die Beine eng an meinen Oberkörper, um meine Arme darum zu schlingen und meinen Kopf darauf zu legen, während ich versuchte, ruhig zu atmen.

Seine Hand legte sich erneut auf meinen Rücken.

»Jeremey, du kannst jetzt keine Panikattacke haben.«

Das war so eine lächerliche Aussage, dass ich beinahe gelacht hätte, aber das Atmen fiel mir schwer. Allerdings wurde es leichter, als er über meinen Rücken strich. Die Berührung war zögerlich, als würde er nicht wissen, wie man es machte – aber es gefiel mir trotzdem. Emmet hatte eine besondere Art, durch meinen Nebel zu schneiden und ich lehnte mich an ihn.

Er ließ es zu. Er wollte nicht immer berührt werden, aber jetzt berührte er mich. Schwer lag seine Hand auf meinem Rücken und dann strichen seine Finger durch meine Haare. Er hockte sich neben mich und streichelte mich. Unbeholfen, aber er tat es.

Es war wundervoll. Als die Panik langsam abebbte, erregte es mich sogar ein wenig. Und als er sich an mich lehnte und mein Bein gegen seinen Schritt drückte – stellte ich fest, dass er ebenfalls erregt war.

Ich sah zu ihm auf – und erstarrte.

Er hatte die Augen geschlossen, seine Finger waren in meinen Haaren vergraben und seine Erektion drückte sich an mein Bein. Sein Ausdruck war noch immer leer, wirkte aber konzentriert.

Er war wunderschön.

Schließlich öffnete er die Augen und sah zu mir hinunter. Seine Lider wirkten schwer und zum ersten Mal wandte er den Blick nicht ab.

Mit drei Fingern berührte er meine Lippen und ich erschauerte.

Er zog seine Finger nicht zurück, sondern fuhr die Konturen meiner Lippen nach. Sein Blick glitt zur Seite, aber irgendwie konnte ich noch immer spüren, dass er mich aufmerksam musterte.

»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«

Ich nickte, da ich nicht wollte, dass er seine Finger zurückzog.

Er rieb über meine Unterlippe. »Ich bin schwul.«

Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Ich hatte es schon vermutet, immerhin drückte sich seine Erektion an mein Bein, aber es war trotzdem wie ein Rausch, es zu hören.

Seine Finger hielten inne und ich sah zu ihm auf. Sein Blick richtete sich auf meinen Mund. »Ich darf nicht fragen, ob du es auch bist.«

Ich lachte – das war Emmet. Er stellte eine Frage, indem er sagte, dass er sie nicht stellen durfte. Na ja, ich könnte es ihm sagen. Aber es war noch immer schwer, die Worte auszusprechen. Trotzdem zwang ich mich dazu. »Ich bin es auch.«

Er lächelte – auch dieses Mal wich er meinem Blick aus, aber das machte ihn so wunderschön. »Gut.«

Zögernd berührte ich seinen Arm.

Er zuckte zurück. »Keine leichten Berührungen. Aber du kannst mich fester anfassen.«

Ich legte meine Hand schwer auf seinen Arm.

»Ja.« Die Hand auf meinem Rücken verstärkte ihren Griff. Seine Erektion an meinem Bein wuchs, während er sich weiter zu mir beugte. »Jeremey, ich fühlte mich zu dir hingezogen.«

Die Worte begeisterten mich, obwohl sie nichts sagten, was ich nicht selbst hätte herausfinden können. Sie sorgten dafür, dass die Gefühle hervorkamen, die ich zurückgehalten hatte, und machten mich mutig. Ich umklammerte seinen Arm. »Lass uns… in mein Zimmer gehen.«

Aber er zog sich zurück. »Ich kann nicht in dein Zimmer gehen. Es ist zu unordentlich.«

Zu… unordentlich. Ich blinzelte ihn an. »Du bist wütend, weil mein Zimmer unordentlich ist?«

»Ja. Ich wollte dich besuchen, aber dein Zimmer ist ein Desaster. Ich kann da nicht reingehen. Kein Wunder, dass du nervös bist. Niemand kann sich in diesem Raum wohlfühlen.«

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