Das Rauschen der Stille

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Kapitel 3

Emmet

Ich war begeistert, wie gut das Treffen mit Jeremey verlaufen war. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass seine Panikattacke vielleicht ein schlechtes Zeichen war, aber auch das hatte sich geklärt. Jeremey war alles, worauf ich gehofft hatte, und mehr.

Allerdings fühlte ich mich schlecht, weil er Depressionen hatte und seine Eltern ihm nicht mit der Therapie halfen. Ich machte mir Sorgen, dass er im Herbst aufs College gehen würde und keine Freunde hatte, die ihm helfen konnten.

Aber noch war es nicht Herbst. Wir hatten unsere Handynummern ausgetauscht und ich hatte bereits einen Termin in meinem Kalender vermerkt, an dem ich ihm morgens schreiben und ein Date vereinbaren würde. Außer dass Jeremey sich vermerkt hatte, mir zuerst zu schreiben.

Um einundzwanzig Uhr achtzehn arbeitete ich an einigen Matheaufgaben, als mein Handy vibrierte. Es war das einmalige Vibrieren, das mir eine Textnachricht von einer neuen Nummer anzeigte, was auch bedeuten konnte, dass es Spam war. Eigentlich ignorierte ich diese Nachrichten und ließ sie von meinem Dad aussortieren, weil der Spam einmal schlimm gewesen war und mich aus der Fassung gebracht hatte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich Jeremey noch kein Vibrationsmuster zugeteilt oder seinen Kontakt über Nummer und Namen hinausgehend eingespeichert hatte. Das war ungewöhnlich für mich und ich tue nichts Ungewöhnliches.

Jeremey war nicht gewöhnlich für mich.

Eine Minute summte ich vor mich hin und wippte auf meinem Stuhl, während ich darüber nachdachte, was ich tun sollte.

Also, mit meinem Gehirn läuft es so – es funktioniert wie ein Oktopus, sagt meine Mom. Das ist wieder eine Metapher, aber im Gegensatz zu der mit den Löffeln verstehe ich sie. Ich habe nicht wirklich ein Weichtier in meinem Schädel, aber ein Teil meines Gehirns funktioniert wie eins. Es sitzt still, bis jemand es anstupst und dann wedelt es mit all seinen Tentakeln, sodass ich nervös werde. Ich mag diese Metapher nicht. Ein Oktopus in deinem Gehirn ist schlecht, selbst ein ausgedachter, aber Mom sagt, dass wir ihn nicht rausholen können, ohne mir wehzutun, also muss ich mit dem Oktopus leben. Es ist eklig, aber ich kann es nicht ändern. Also summe ich, wippe hin und her und wedle mit den Händen.

Ich musste all das tun – summen, wippen und wedeln – bis es einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig war. Ich wollte mit Jeremey sprechen, aber ich konnte nicht wissen, ob es wirklich Jeremey war, bis ich das Handy entsperrte, um zu sehen, ob es Jeremey Samson oder eine unbekannte Nummer oder ekelhafter Spam war. Ich könnte meine Mom fragen, aber sie würde reden wollen und ich wollte im Moment nicht mit ihr reden. Ich wollte, dass das mit Jeremey mein Ding war. Ohne Mom, Dad oder Althea.

Falls es böser Spam ist, werde ich nach dem Schaumstoffhammer fragen, damit ich ihn auf mein Bett schlagen kann, versprach ich dem Oktopus und es funktionierte. Ich drehte mein Handy um und drückte auf den Home-Button.

Im Vorschaubenachrichtigungsfeld erschienen Jeremeys Name, seine Nummer und das Wort hi. Nun summte ich, weil ich glücklich war. Ich entsperrte das Handy mit meinem Fingerabdruck und musste lachen, als ich die Nachrichten-App öffnete. Die Nachricht, die ich mir selbst von Jeremeys Handy geschickt hatte, um seine Nummer zu bekommen, erschien auf dem Display.

Hallo Emmet, das bist du selbst von Jeremeys Handy. Es war immer noch lustig. Ich kann gut Witze erzählen. Ich wollte ihm zurückschreiben, aber zuerst vervollständigte ich seine Kontaktinformationen und wies ihm ein Vibrationsmuster zu, damit ich das nächste Mal gleich Bescheid wusste, wenn er mir schrieb. Ich wies ihm die Heartbeat-Vibration zu, weil er dafür sorgte, dass mein Herz seltsam schlug, und weil ich wollte, dass er mein fester Freund wird. Für feste Freunde benutzte man Herzen. Oder für feste Freundinnen, wenn man lesbisch oder nicht schwul ist.

Ich hoffte, dass Jeremey schwul war. Ich würde ihn gern fragen, aber Dr. North und meine Eltern hatten mir mit ernsten Gesichtern gesagt, dass ich das Leute nicht einfach so fragen konnte. Das ist etwas, was ich nicht verstehe. Wenn es natürlich und in Ordnung ist, homosexuell zu sein, warum ist es dann ein so großes Problem, ob ich jemanden frage, ob er schwul ist oder nicht? Sie sagten, dass es wegen der bösen Menschen im Fernsehen und in den schlechten Kirchen ist. Ihre Herzen sind krank, was sie zwar ändern könnten, aber normalerweise nicht wollen. Es ist gefährlich, in ihrer Nähe zu sein. Sie projizieren Hass auf Menschen, die sie nicht verstehen, und es kann mich und andere schwule Menschen verletzen. In manchen Ländern werden schwule Menschen getötet.

Ich bin froh, dass ich in Iowa lebe, nicht in diesen Ländern, und ich bin froh, dass unsere Kirche keine schlechte ist. Iowa ist ein guter Staat mit viel Gleichstellung. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist hier erlaubt und die erste weibliche Anwältin kam von hier und Iowa hat als erster Staat noch vor dem Bürgerkrieg gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe heiraten. Iowa ist ein guter Ort. Manche Menschen hier haben noch immer kranke Herzen, aber die meisten Leute sind in Ordnung.

Ich machte mir Sorgen, ob Jeremey in Ordnung war. Falls er ein krankes Herz hatte, würde ich meinen Schaumstoffhammer sehr lange benutzen müssen.

Hallo Jeremey. Hier ist Emmet. Man muss das in einer Textnachricht nicht sagen, aber ich mag es so lieber. Mir gefällt, wie es aussieht, als wäre ich selbst in diesen drei Worten. Ich freue mich, dass du mir geschrieben hast.

Er schrieb nicht sofort zurück, aber ich war geduldig, weil er vielleicht gerade ins Badezimmer gegangen war oder vielleicht lag seine Schlafenszeit auch vor meiner. Aber ich musste nicht lange warten, bis ich die Heartbeat-Vibration in meiner Hand spürte.

Danke, dass du dich heute vorgestellt hast. Ich hab es genossen, dich kennenzulernen.

Die Nachricht brachte mich zum Lächeln. Es war nicht so breit wie vorhin, als er zugestimmt hatte, mein Freund zu sein, aber es zeichnete sich trotzdem schön auf meinem Gesicht ab. Während ich antwortete, summte ich. Ich würde dich gern morgen treffen. Welche Unternehmungen gefallen dir? Wann hast du Zeit?

Ich wollte Jeremey morgen sehen. In meinem Zeitplan befanden sich noch einige Lücken. Es könnte funktionieren.

Er antwortete wieder. Ich hab nichts vor. Ganz offen.

Ich zögerte kurz, während ich versuchte zu verstehen, was ganz offen war. Bevor ich es jedoch herausfinden konnte, schrieb er erneut.

Was machst du gerne?

Ich entspannte mich. Diese Frage verstand ich. Viele Dinge. Mathe ist wunderbar, aber das sind Computerspiele auch. Manchmal mache ich selbst Computerspiele. Minecraft ist toll, aber nicht auf dem Server. Es gefällt mir nicht, Dinge in Spielen abzuschießen. Ich lese gern. Ich spiele gern Poker, aber die Leute wollen nicht mit mir Poker spielen.

Warum nicht?, schrieb er zurück.

Es gefällt ihnen nicht, wenn ich die Karten zähle, aber es macht mich nervös, wenn ich spiele, ohne zu zählen.

Hm. Na ja, ich weiß sowieso nicht, wie man Poker spielt. Ich spiele ein paar Computerspiele. Aber ich mag die alten, wie Pharao.

Ich legte das Handy zur Seite und googelte Pharao Computerspiel. Man muss das Computerspiel mit eingeben, weil Google sonst alles über das alte Ägypten anzeigt. Ich sah mir ein paar Spielebilder an und las einige der Bewertungen, dann schrieb ich Jeremey zurück. Ich hab es online gefunden. Sieht aus, als würde es Spaß machen.

Möchtest du morgen rüberkommen und es dir ansehen?

Wieder eine schwere Antwort. Ja, ich wollte, aber ich wurde nervös, wenn ich daran dachte, Jeremeys Haus zu betreten. Es wäre mir lieber, wenn er hierher kommen würde. Aber Pharao war ein PC-Spiel und ich habe nur Apple-Produkte, weil sie besser sind. Ich summte und wippte, während ich darüber nachdachte, was ich tun sollte.

Jeremey schrieb erneut, bevor ich antworten konnte. Oder wir gehen zu dir.

Sofort fühlte ich mich besser. Aber ich erinnerte mich daran, dass Jeremey Panikattacken hatte. Wirst du Angst haben, hierher zu kommen?

Ja, aber ich habe immer Angst.

Der Gedanke, dass Jeremey immer Angst hatte, machte mich traurig. Sein Hirnoktopus musste schlimm sein. Ich wollte sagen, dass wir in sein Haus gehen konnten, damit er keine Angst haben musste, aber ich glaubte nicht, dass ich es konnte. Wir steckten fest. Ich wollte nicht wieder dahin zurückkehren, ihn nur zu beobachten, wenn er den Rasen mähte. Wenn es nicht regnete, mähte er nur einmal die Woche und das nie nach einem geregelten Zeitplan, also verpasste ich ihn manchmal.

Dann hatte ich eine Idee.

Wir könnten uns an den Gleisen treffen. Wer am wenigsten Angst hat, geht in das Haus des anderen.

Nach dreißig Sekunden schrieb Jeremey zurück. Das könnte funktionieren. Wann wollen wir uns treffen?

Ich öffnete den Kalender, um meinen Zeitplan zu überprüfen. Er war immer voll, aber die Ereignisse waren farblich markiert. Rote Ereignisse konnten nicht geändert werden. Wie Schlafenszeit. Gelbe Ereignisse musste ich mit meiner Mom besprechen, bevor ich sie änderte. Aber grüne Ereignisse waren in Ordnung und ich konnte sie ganz ohne Nachfrage ändern. Ich hatte grüne Ereignisse um neun, zehn, elf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn und sechzehn Uhr. Ich wollte vielleicht mehrere Ereignisse nutzen, um mit Jeremey zusammen zu sein. Also würde ich einen frühen Termin auswählen. Aber ich wusste nicht, ob es Vormittag oder Nachmittag sein sollte.

Stehst du früh auf oder schläfst du aus?, fragte ich ihn.

Normalerweise schlafe ich lang, aber ich kann mir den Wecker stellen.

 

Der Gedanke, dass er seinen Schlafrhythmus für mich ändern würde, löste ein angenehmes Gefühl in mir aus. Obwohl er es nicht tun sollte. Schlaf war wichtig. Treffen wir uns um dreizehn Uhr. Passt das in deinen Zeitplan? Ich habe bis siebzehn Uhr Zeit. Ich wollte erklären, dass ich um siebzehn Uhr mit Althea zum Einkaufen ging, aber das war eine zusätzliche Information und die meisten Leute wollten es nicht unbedingt wissen. Außerdem würde ich auch Althea erklären müssen und das war nicht immer einfach.

Um eins klingt super. Wir treffen uns an den Gleisen.

Ich lächelte. Ich hatte ein Date. Mein erstes Date. Aber dann dachte ich an den Zug.

Manchmal kommt um dreizehn Uhr ein Zug. Sie haben einen unregelmäßigen Fahrplan, aber manchmal kommt einer zu unserer vereinbarten Zeit. Warte in deinem Garten, wenn ein Zug kommt, und wir treffen uns, wenn er vorbeigefahren ist. Du solltest nicht zu nah an Züge herangehen. Es können Unfälle passieren.

Okay. Ich halte nach dem Zug Ausschau. Und nach dir.

Meine Mom klopfte an der Tür – vier Klopfzeichen, damit ich wusste, dass sie es war. »Schlafenszeit, Liebling.«

Sie hatte recht. Mein einundzwanzig Uhr fünfzig Alarm würde bald losgehen, damit ich wusste, dass es Zeit war, meine Zähne zu putzen, den Schlafanzug anzuziehen, die Sachen für morgen rauszulegen und ins Bett zu gehen. Ich schrieb Jeremey zurück. Ich muss mich jetzt zum Schlafen fertig machen. Ich sehe dich morgen.

Okay. Gute Nacht. Danke, dass du mit mir geredet hast.

Jeremey brachte mich so oft zum Lächeln. Das Lächeln dehnte mein Gesicht, als ich ihm antwortete. Wenn du willst, kannst du mir morgen Früh schreiben, falls du nicht zu lange schläfst. Ich kann um zwölf nicht schreiben, weil da Mittagszeit ist, aber ich habe einen Vibrationsalarm für dich und werde immer wissen, wenn du mir schreibst. Ich werde antworten, es sei denn, ich bin an einem Ort, wo es unangemessen ist, auf eine Nachricht zu antworten.

Ich wollte ihm von der Heartbeat-Vibration erzählen, aber das war eine zusätzliche Information. Außerdem würde es bedeuten, dass ich erklären müsste, dass ich sein fester Freund sein wollte. Selbst ich wusste, dass es zu früh war, das laut auszusprechen. Manchmal mussten Gefühle warten.

Jeremey schrieb zurück. Danke. Vielleicht schreib ich dir.

Gute Nacht, Jeremey.

Gute Nacht, Emmet.

Kapitel 4

Jeremey

Niemand hat mich je gefragt, wie es ist, unter Depressionen zu leiden. Nicht Bart, nicht der Vertrauenslehrer der Schule, nicht unser Arzt, nicht meine Eltern. Alle behandelten mich wie einen Irren und schrieben mich ab.

Alle, bis Emmet kam.

Als wir uns um eins treffen wollten, fuhr tatsächlich ein Zug vorbei, aber ich konnte sehen, wie er im Garten wartete, auf den Fersen wippte und mit den Fingern auf seinem Bein tippte, während die Waggons vorbeirollten. Er sah mich nicht an, was sich noch immer seltsam anfühlte, aber um ehrlich zu sein, fühlte ich mich manchmal überfordert und musste wegsehen, wenn Menschen mich anstarrten.

Ich fragte mich, ob er auch überfordert war oder ob es mit Autismus etwas anderes war.

Ich überlegte, ob ich ihn danach fragen konnte.

Als der Zug vorbeigefahren war, stieg ich in den Graben hinab zu den Gleisen und er tat es mir nach. Er begegnete noch immer nicht meinem Blick, obwohl er ab und zu in meine Richtung sah. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Siebenundsiebzig Waggons, drei Lokomotiven. Eine am Ende.« Emmet schlang die Arme um seinen Körper und stand stocksteif da, während sich sein Blick auf etwas über meiner Schulter fixierte und er leicht auf den Fersen wippte. »Es tut mir leid. Das war eine unhöfliche Begrüßung. Hallo, Jeremey. Es ist schön, dich wiederzusehen.«

Lächelnd schlang ich die Arme um meinen eigenen Körper, wodurch ich seine Haltung spiegelte. »Es ist auch schön, dich zu sehen.«

Er schien aufgeregt zu sein, aber als er sprach, war seine Stimme klar und deutlich. »Es ist ein schöner Tag. Fünfundzwanzig Grad, nur siebzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Keine Regenwahrscheinlichkeit. Ich mag Regen, aber heute freu ich mich, dass es keinen gibt. Es ist sonnig, aber wir haben einen Sonnenschirm auf der Veranda und große Bäume. Es ist schattig und gemütlich. Würdest du gerne auf unserer Veranda sitzen?«

Die Kein Augenkontakt-Sache war nur halb so schwierig wie der Wortschwall, den er mir entgegenschleuderte. Ich gab mein Bestes, sie nach der Frage zu durchsuchen. Wollte ich mit ihm auf der Veranda sitzen? Ja, aber es dauerte eine Minute, bis ich antworten konnte. »Ja, danke.«

»Wenn du zu ängstlich bist, können wir auch auf deiner Veranda sitzen. Aber meine Mom hat Bananenbrot gebacken. Glutenfrei, kein Zucker. Wir benutzen Stevia. Der Einfluss von Gluten auf ASS ist unbegründet, aber es schadet nicht, darauf zu verzichten, für den Fall, dass es versteckte Nebenwirkungen gibt. Zucker wirkt entzündungsfördernd und ist schlecht für das Gehirn und den Körper. Gesundheit ist wichtig und Essen ist Gesundheit. Mein Dad nimmt mich aber trotzdem manchmal zum Eisessen mit, weil er sagt, dass Spaß auch wichtig für die Gesundheit ist.« Er hielt inne und wippte erneut. »Ich glaube, dass ich dir zu viele Informationen gebe. Es tut mir leid. Ich bin nervös. Es fällt mir schwer, daran zu denken, was ich dir nicht sagen soll.«

Das hier, seine Unverblümtheit, hatte mich gestern zu ihm hingezogen und heute zog es mich noch genauso an. Zu sagen, Emmet wäre ehrlich, war eine ebenso große Untertreibung wie die Aussage, dass die Oberfläche der Sonne warm war.

Außerdem war er süß und ich konnte ihn anstarren, weil er mich nicht ansah. Seine Lippen waren nicht zu dünn und nicht zu voll und hatten einen leicht rosigen Schimmer. Aber mehr als alles andere gefiel mir sein Hals. Die Sehnen, die Mulden seines Schlüsselbeins, seine glatte Haut. Ich machte mir Sorgen, ob es in Ordnung war, ihn als süß zu bezeichnen. Ich machte mir sehr große Sorgen, ob es mich zu einem Perversling machte, für ihn zu schwärmen. Dann machte ich mir Sorgen, dass es unverschämt war, ihn nicht lüstern anzustarren, da er mehr als deutlich gezeigt hatte, dass Autismus keine geistige Behinderung darstellte.

So, das bin ich, kurz zusammengefasst. Ich sorge mich um all die Regeln und breche schließlich in Panik aus, weil es keine eindeutige Antwort auf alles gibt.

Ich hatte ihm noch nicht geantwortet. Aber er war nicht wütend oder aufgeregt. Er wartete einfach.

Tief einatmend antwortete ich. »Ich bin ängstlich, aber das bin ich immer. Setzen wir uns auf eure Veranda. Das Bananenbrot hört sich gut an.«

Er entspannte sich. »In Ordnung. Gehen wir.« Er ging in Richtung Haus, redete aber weiter und drehte den Kopf ein wenig, damit ich ihn verstehen konnte. »Sie macht zwei Sorten. Eine mit Walnüssen und eine ohne. Ich mag keine Walnüsse im Essen. Die Konsistenz ist zu seltsam. Du kannst aber das Brot essen, das du möchtest. Aber sie wird wahrscheinlich darauf bestehen, dass wir Wasser trinken.«

Ich nickte, stellte jedoch schnell fest, dass er es nicht sehen konnte, weil er mich nicht wirklich ansah, also sagte ich: »In Ordnung.«

Emmet redete weiter und erklärte die Zutaten des Bananenbrots und wie unterschiedlich sich die Aromen beim Backen verhielten, dann die Bindungsfähigkeiten von Eiern im Vergleich zu Gluten und ich hörte einfach nur zu, obwohl ich größtenteils nachdachte. Ich hatte noch nie jemanden wie Emmet getroffen. Er erinnerte mich an einen Jungen aus unserer Klasse, Kyle, der eine Zerebralparese hatte. Manchmal gab es bei ZP Hirnschäden und manchmal nicht, aber die körperlichen Beeinträchtigungen machten ihn anders. In der Mittelschule waren Kyle und ich Freunde, aber er zog in der neunten Klasse um. Kyle war nicht dümmer als ich. Aber man vergaß leicht, dass sein bellendes Lachen, die seltsamen Geräusche, die er von sich gab, und die fuchtelnden Gesten nicht sein Innerstes widerspiegelten.

Mit mir ist es ebenso. Ich bin still und es fällt mir sehr schwer, meine Gefühle auszudrücken, aber ich fühle sehr viele Dinge und ich möchte Freunde haben. Mit Emmet war es jedoch ein bisschen knifflig. Normalerweise beobachtete ich die Menschen, um auf Zeichen zu warten, wie ich mich in ihrer Nähe zu verhalten hatte, und Emmet gab mir keines dieser Zeichen. Ich wünschte mir, ihn mehr über Autismus fragen zu können, aber ich hatte Angst, dass es unhöflich war. Ich wollte seine Gefühle nicht verletzen.

Als wir an der Veranda ankamen, deutete Emmet auf einen Stuhl. »Du sitzt hier. Ich stelle den Sonnenschirm auf und sage meiner Mom, dass wir bereit für einen Snack sind.«

Er drehte die Kurbel am Sonnenschirm, bis sich das Segeltuch über uns ausbreitete. Er beobachtete die Kurbel beim Drehen und ich glaubte, ihn einmal kurz summen zu hören. Als er fertig war, ging er jedoch nicht ins Haus. Er zog sein Handy hervor, schrieb etwas, legte das Telefon auf den Tisch und setzte sich schließlich.

»Ich lasse das Handy draußen, aber ich werde nur antworten, wenn es meine Mom ist. Sie hat vielleicht Fragen. Oh. Welche Art Brot möchtest du? Mit Walnüssen oder ohne?«

Einen Moment lang überkam mich Panik, während ich versuchte zu entscheiden, welche die richtige und welche die falsche Entscheidung war, aber es war schwer, nervös zu sein, wenn Emmet so harmlos war. Außerdem mochte ich auch keine Walnüsse. »Ohne, bitte.«

»Alles klar. Ich sage es ihr.« Er schrieb eine weitere Nachricht, dann schob er das Handy zur Seite. Er saß auf der Stuhlkante und ich hatte das Gefühl, dass er mit Absicht versuchte, nicht hin und her zu wippen. »Worüber sollen wir reden?«

Es war eine einfache Frage, aber es fühlte sich wie eine Landmine an, oder eher wie eine schnelle Rutsche, die mich einen Fluss hinunter in Gewässer schickte, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, worüber wir reden sollten. Das tat ich nie. Dieser Nachmittag würde ein Desaster werden. Ich schwitzte und fühlte mich unwohl und wollte nach Hause gehen. Dann fühlte ich mich schrecklich, weil ich so fühlte. Die dunklen Gewässer zogen mich tiefer hinab.

»Deine Schultern sind angespannt. Du bist ängstlich. Hab ich etwas Falsches gesagt?«

Seine Frage zog mich weit genug aus dem Morast, um überrascht zu blinzeln. »Was? Nein. Ich… Es tut mir leid. Ich bin nicht gut darin.«

Emmet richtete seinen Blick auf die Sonnenschirmkurbel. »Das ist nicht konkret. Das Wort darin ist ein Adverb, aber du hast mir kein Bezugswort genannt. Worin bist du nicht gut?«

Er war so intensiv. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. »Ich bin nicht gut in vielen Dingen. Es fällt mir schwer, mit Menschen zu reden.«

Emmet nickte. »Mir auch. Ich möchte mit Menschen reden, aber sie verstehen mich nicht. Sie werden oft böse. Oder sie werden gemein, was noch schlimmer ist. Das liegt an meinem Autismus, warum ich es nicht verstehe. Ich kann Gesichtsausdrücke nicht deuten und die Leute sagen verwirrende Dinge. Du hast gesagt, ich bin nicht gut darin, aber du hast mir nicht gesagt, was darin ist, also verstehe ich dich nicht. Ich versuche, eindeutig und genau zu sein, wenn ich spreche, aber manchmal ist das schlecht. Mit Menschen zu sprechen, ist knifflig für mich. Was ist für dich schwer?«

Es dauerte eine Sekunde, bis ich verdaut hatte, dass er so zwanglos über seine Behinderung gesprochen hatte wie über einen Mückenstich. Außerdem hatte er mir so viele Informationen über sich gegeben, hilfreiche Informationen. Intensiv und direkt. Ganz ehrlich, es war erfrischend.

Ich fragte mich, ob ich es wagen konnte, ebenso zu sein.

»Wenn ich etwas Falsches sage, tut es mir leid«, sagte Emmet. »Wenn du mir sagst, was schlecht war, werde ich es nicht mehr zu dir sagen.«

Ich zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen, als ich antwortete. »Es ist in Ordnung. Ich versuche nur, die richtige Antwort zu finden. Das ist einer der Gründe, warum es mir so schwerfällt, mit Menschen zu sprechen. Ich mache mir Sorgen, dass ich das Falsche sagen könnte und manchmal bedeutet das, dass ich überhaupt nichts sagen kann. Ich brauche sehr lange, bis ich auf eine Frage antworten kann.«

Emmets Gesicht hellte sich auf. »Deswegen können wir gute Freunde sein. Wenn du etwas Falsches zu mir sagst, kann ich dich darauf hinweisen. Dann kannst du aufhören und alles ist gut.« Er wippte auf seinem Stuhl und es war ganz eindeutig eine unbewusste Handlung. »Danke, dass du mir gesagt hast, dass du manchmal Zeit zum Antworten brauchst. Ich werde versuchen zu warten. Du wirst mir nur sagen müssen, ob ich nicht geduldig genug war.«

 

Bei ihm klang es so einfach. »Ich möchte dich aber nicht verärgern, auch wenn es aus Versehen passiert.«

»Unfälle passieren. Selbst wenn wir alle uns an einen Zeitplan halten, die Welt ist unvorhersehbar. Manchmal komme ich wegen des Verkehrs zu spät zu einem Termin. Manchmal fällt der Strom wegen eines Sturms aus oder die Straßen werden wegen des Wetters geschlossen. Es bringt mich durcheinander, aber ich kann nicht zulassen, dass es mein Leben ruiniert. Falls du etwas Falsches sagst und mich aus der Fassung bringst, würde ich es dir sagen und dann würdest du aufhören und es würde nichts mehr bedeuten, dass du etwas Falsches gesagt hast. Wir sind Freunde. Freunde vergeben einander.« Er begann, sich stärker zu wiegen, hörte jedoch wieder auf. »Stört es dich, wenn ich wippe? Manchmal stört es die Leute, aber es beruhigt mich.«

»Es macht mir nichts aus.« Ich beobachtete, wie er sich sachte hin und her wiegte. »Bist du nervös?«

»Ja, und ich weiß nicht warum, was mich nur noch nervöser macht. Aber ich will nicht, dass unser Date schon vorbei ist. Also beruhige ich mich.«

Je länger ich mit Emmet zusammen saß, desto faszinierender wurde er. Im Prinzip sprach er genau das aus, was ich fühlte, aber anstatt sich, wie ich selbst, zu schelten und unwohl zu fühlen… wippte er. Oder griff nach einer Art von Pragmatik, von der ich nur träumen konnte.

Ich wollte allerdings auch nicht, dass unser Date schon vorbei war. Obwohl es mir zu denken gab, dass er es Date nannte.

Bestimmt meinte er nicht so ein Date.

Außer vielleicht doch. Der Gedanke brachte mich ganz durcheinander und ich fühlte mich schwer, sodass ich ihn einfach zur Seite schieben musste.

Dann erschien seine Mutter mit einem Tablett, auf dem zwei Teller und zwei Gläser Wasser standen. Emmet nahm seinen Teller und ein Glas vom Tablett und überließ es seiner Mutter, mich zu bedienen, wofür ich mich bedankte.

»Gern geschehen.« Sie lächelte mich an und reichte mir die Hand. »Hi. Ich bin Marietta Washington. Es freut mich, dich kennenzulernen.«

Ich schüttelte ihre Hand. »J-Jeremey. Freut mich auch.«

Ihr Gesicht war lebhaft und hell, wohingegen Emmets ruhig war. »Wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid.«

»Mom, geh weg. Ich möchte mit Jeremey allein sein.«

Seine Unhöflichkeit irritierte mich, aber Marietta ging locker damit um. Sie wandte sich an Emmet und streckte wortlos zwei Finger vor ihm aus.

Er verzog das Gesicht und legte drei Finger an ihre.

»Ich bin drinnen, falls einer von euch etwas braucht«, sagte sie und ging zurück ins Haus.

Emmet wippte auf seinem Stuhl und starrte auf die Sonnenschirmkurbel. »Möchtest du essen oder weiterreden?«

Ich war verwirrt. »Können wir nicht beides machen?«

Emmet schüttelte den Kopf. »Nein. Getrennt ist besser. Ich möchte weiterreden, aber es ist unhöflich, einen Gast vom Essen abzuhalten. Ich kann warten, wenn du Hunger hast.«

»Reden ist in Ordnung«, sagte ich. Ich hatte überhaupt keinen Hunger.

Emmet wirkte noch immer aufgewühlt. »Ich wünschte, sie hätte mir geschrieben. Die Unterbrechung kam unerwartet. Ich wollte dir noch weitere Fragen über Depressionen stellen und wie es ist, Angst zu haben.«

Ich blinzelte. »Das wolltest du? Ich meine, du möchtest?«

»Ja. Ich möchte alles über dich wissen. Damit ich keine Fehler mache.«

Tja. Das war… pragmatisch. Nachdenklich lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. »Darf ich dich etwas über deinen Autismus fragen?«

Er lächelte. Nicht breit und auch nicht lange, aber es war da. Die Geste nahm mich gefangen.

»Ja. Du darfst immer Fragen über meinen Autismus stellen. Dann weißt du es. Wissen ist wichtig.« Sein Wippen wurde sanfter. Es ließ mich glauben, dass es sein glückliches Wippen war. »Aber ich habe dir schon einige Dinge über Autismus erzählt. Jetzt bist du dran, mir etwas über Depressionen zu erzählen. Heute Morgen habe ich meine Recherche darüber aufgefrischt. Es ist faszinierend, aber es scheint nur wenige bestimmbare Fälle zu geben, was eine Behandlung schwierig macht. Welche Medikamente nimmst du?«

»Ich nehme gar keine Medikamente. Sie haben darüber gesprochen, aber… Ich nehme im Moment nichts.«

»Es gibt viele verschiedene Sorten, aber einige Nebenwirkungen sind wirklich schlimm. Es ist ineffizient, dass sie durch Ausprobieren das richtige Medikament finden, und dann sind da noch die Rückfälle. Du solltest Sport und Omega-3-Fettsäuren in Betracht ziehen. Meine Mom ist Ärztin. Du kannst ihr immer Fragen über Depressionen stellen, wenn du möchtest. Und gesundes Essen. Das ist alles, was sie essen will. Aber meine Tante Althea ist schlimmer. Sie ist Veganerin. Mom und Althea streiten sich über Paleo und vegane Diäten. Manchmal lassen mein Dad und ich sie streiten und gehen zu Subway, um uns ein Fleischbällchensandwich zu holen und dann sehen wir zusammen The Blues Brothers.«

Ich lächelte, zog jedoch den Kopf ein, um es zu verstecken.

Er wippte weiter sanft hin und her, doch nun wedelte er auch hin und wieder mit den Händen. »Wie fühlt sich eine Depression an? In dem Artikel stand etwas von schlechter Laune und wenig Selbstbewusstsein, aber sie waren nicht sehr konkret. Bedeutet es, dass du die ganze Zeit traurig bist? In dem Artikel stand auch, dass generalisierte Angststörungen und Depressionen häufig gemeinsam auftreten. Hast du auch Angstzustände?«

»Ich… weiß nicht.« Generalisierte Angststörung? Was zur Hölle war das? Ich wollte sagen nein, das habe ich nicht, was auch immer es war. Es war nicht so, dass ich noch etwas finden wollte, was mit mir nicht in Ordnung war, aber es war schwer zu leugnen, dass ich Angst hatte, wenn ich mich in den Schultoiletten versteckte und nervös wurde, wenn ich nur daran dachte, einkaufen zu gehen.

Wahrscheinlich war eine generalisierte Angststörung die Kehrseite einer klinischen Depression. Warum hatte der Arzt nicht danach gefragt? Vielleicht, weil ich ihnen nichts von den Panikattacken erzählt hatte? Falls ich es ihnen erzählt hätte, hätten sie mir dann gesagt, dass ich auch eine generalisierte Angststörung hatte? Würde das bedeuten, dass ich zu verkorkst war und sie mich in eine Einrichtung stecken würden?

Winzige Klauen der Angst gruben sich in mein Gehirn und ich dachte: Ja, du hast definitiv eine generalisierte Angststörung. Du hast beides. Das muss etwas Schlimmes sein.

Ich pulte an dem Brot herum, hauptsächlich, um meine Hände zu beschäftigen. »Ich hatte nicht immer Depressionen. Aber ich war schon immer still. Erst auf der Highschool wurde es schlimmer.«

Ich versuchte, eine Antwort auf Emmets Frage zu finden, wie es sich anfühlte. Die Frage nach der Angststörung steckte ich in eine Kiste in meinem Kopf und verschloss sie gedanklich mit Panzertape. »Depression fühlt sich an, als würde eine Schüssel über dir liegen. Eine Glasschüssel, aus der du hinaussehen kannst, durch die die Welt jedoch weiter weg erscheint. Es fühlt sich einsam und schwer an. Aber manchmal ist die Schüssel wie in den Wolken.«

Ich konnte die Schüssel in meinem Kopf sehen, mich selbst im Glas. »Obwohl ich in der Schüssel bin, kommt alles von außen hinein, zu laut. Ich bin also unter dem Glas, das voller Wolken ist, mit einem Lautsprecher, der alle Geräusche hinein leitet, und die Gerüche und Lichter kommen auch rein. Manchmal sorgen sie dafür, dass ich in Panik verfalle, aber manchmal ist es laut und ich fühle mich einfach nur leer und stumpf. Oder ich fühle überhaupt nichts. Das macht es schwer für mich, mit anderen Leuten zusammen zu sein, aber wenn ich nicht mit ihnen zusammen bin, fühle ich mich noch einsamer.«