Das Rauschen der Stille

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 2

Jeremey

Wenn du ein unsichtbares Leiden hast, ist die Krankheit nicht dein größtes Problem. Das, wogegen du jeden Tag kämpfst, mehr als alles andere, sind andere Menschen.

Es dauerte sehr lange, bis ich das verstanden hatte, denn um ehrlich zu sein, wusste ich jahrelang nicht, dass ich krank war. Wenn ich zurückblicke, litt ich seit der Mittelschule an Depressionen und die Angst hatte in der Highschool angefangen. Oder vielleicht waren sie die ganze Zeit miteinander vermischt gewesen und ich hatte diese Gefühle erst damals im Einzelnen bemerkt. Das ist das Problem mit Depressionen und Angstzuständen. Sie finden vollständig in deinem Kopf statt. Menschen, die weder Depressionen noch Angstzustände haben, glauben deshalb, dass man negative Gefühle einfach ausradieren kann, sobald man sie bemerkt. Für diejenigen, die mit Problemen ihrer geistigen Gesundheit leben müssen, bedeutet es jedoch, dass sich deine Dämonen keinen Tag freinehmen.

In den ersten Monaten nach meinem Abschluss war ich nicht in der Lage, so deutlich darüber nachzudenken, was mit meinem Gehirn passierte und was es möglicherweise schlimmer machen konnte. Lange Zeit konnte ich meinen Zustand nicht benennen und als ich es schließlich konnte, fühlte es sich falsch an und ich schämte mich. Zu diesem Zeitpunkt überlebte ich größtenteils einfach nur, und das nicht gut. Menschen haben mich immer in Angst versetzt, selbst wenn sie mich nicht wahrnahmen.

In der siebten Klasse hat es einige Hänseleien gegeben, die ihren Höhepunkt erreichten, als mich einige der Jungs in der Umkleide ausgelacht und gedroht haben, mich nackt in den Gang zu schubsen, damit die Mädchen ebenfalls über mich lachen konnten. Seitdem hatte ich vor dem Sportunterricht immer Bauchschmerzen bekommen. Die Schulkrankenschwester dachte, dass ich es nur vortäusche, also hatte ich mich auch übergeben, als ich mich beschwert hatte. Letztendlich habe ich zurückgehen müssen, aber ich wurde gut darin, mich auf der Toilette zu verstecken, bis alle anderen rausgegangen waren. Ich glaube, dass der Lehrer bemerkt hat, was vor sich ging, da er mich nie zur Rede stellte, wenn ich zu spät kam.

Auf diese Weise wurde ich mit der Schule fertig. Menschen waren gefährlich und normalerweise gemein, also mied ich sie. Ich hatte einen Freund, irgendwie, aber ich glaube, dass ich für Bart eher eine Art Zubehör als ein wirklicher Kumpel war. Er ließ mich immerhin recht schnell fallen, als mich die Depression immer mehr vereinnahmte, was während meines gesamten Abschlussjahres der Fall war. Er war der Einzige, der davon wusste, bis ich im Mai während eines Vortrags im Sozialkundeunterricht zusammenbrach.

Das brachte mir einen Besuch beim Familienarzt ein, der bei mir eine depressive Erkrankung diagnostizierte. Irgendwie spuckte er die Diagnose aus, als hätte ich nur eine Erkältung, und ich hatte das Gefühl, dass er mir einen Stempel aufdrückte und mir nur ein paar Pillen verschrieb, anstatt wirklich Hilfe anzubieten. Die Tabletten wirkten nicht gegen die Angstzustände, aber ich wollte nicht noch einen Stempel aufgedrückt bekommen. Ich genierte und schämte mich, und als meine Mom wütend wurde und ihm sagte, dass er keine Ahnung hatte, wovon er redete, widersprach ich nicht. Größtenteils war ich einfach nur dankbar, dass mir erlaubt wurde, den Rest des Schuljahres von zu Hause aus zu beenden. Ich musste nicht einmal zur Abschlussfeier gehen.

Zu dieser Zeit hörte sich das alles super an, als hätte ich eine Freikarte aus dem Gefängnis bekommen, aber die Wahrheit war, dass ich nun ständig gegen meine Mutter kämpfte.

Sie hasste es, dass ich mich von der Welt zurückzog und machte es sich zur Aufgabe, mich mit dem Gesicht voran wieder hineinzustoßen. Obwohl ich seit meiner Konfirmation die Kirche schwänzen durfte, zerrte sie mich jeden Sonntag an den Haaren wieder hinein. Wenn ich schon davon spreche, gegen andere Menschen zu kämpfen – nach jeder Messe kam ein ganzer Schwall von Moms Freunden auf mich zu, lächelte mich übereifrig an und fragte mich, wo ich im Herbst studieren und ob ich mit jemandem ausgehen würde. Wenn ich schlecht auf diese Überfälle reagierte und eine Panikattacke bekam, schimpfte Mom mit mir und Dad sah mich finster an. Hätte ich gewusst, dass mein Zusammenbruch im Unterricht dazu führen würde, hätte ich mich stärker darum bemüht, wie immer erst in der Pause in der Toilettenkabine den Verstand zu verlieren.

Das Straßenfest war eine weitere Gelegenheit für meine Mutter, mich dazu zu zwingen, normal zu sein – und eine Gelegenheit für mich, um zu versagen.

Drei Tage vorher hatte sie mir den Flyer gezeigt und gesagt: »Wir sollten hingehen. Es wäre gut, wenn wir ein paar unserer Nachbarn kennenlernen. So viele junge Paare sind hergezogen.« Ich hatte nicht nein gesagt, was als Zustimmung hätte zählen müssen. Ich ließ zu, dass sie mich zum Einkaufen schleppte, obwohl ich im Supermarkt immer eine Panikattacke bekam. Am Tag der Feier stellte ich mich nicht krank, aber ich weinte in der Dusche, als ich von den rechtsorientierten Programmen, die mein Vater in Radio und Fernseher gleichzeitig verfolgte, überwältigt wurde.

Aber einfach nur anwesend zu sein, reichte meiner Mom nicht. »Hilf mir, den Salat zu machen, Jeremey«, »Geh für mich zum Laden, Jeremey«, »Hilf den Gastgeberinnen beim Aufbauen, Jeremey«. Natürlich versaute ich alles – ich konnte beim Supermarkt nicht aus dem Auto steigen, sodass Dad an meiner Stelle hatte gehen müssen.

Sie ging mit mir zum Picknickplatz, um beim Aufbauen zu helfen, wobei sie mich mit dem Ellbogen anstieß und mir zuflüsterte, dass ich nicht so nervös sein sollte. Als die unzähligen Befehle und die Geräusche der lauten Frauen drei Häuser weiter zu viel wurden, bemerkte eine der Gastgeberinnen, dass ich mich nicht gut fühlte, und bat mich, mich auszuruhen. »Wir schaffen den Rest auch ohne dich, mach dir keine Sorgen.«

Mom machte sich keine Sorgen, aber sie war wütend. Ihrem Empfinden nach hatte ich sie durch mein Verhalten in der Öffentlichkeit blamiert.

Mom wollte einen klugen, lächelnden, charmanten Sohn. Sie wollte, dass ich eine andere Antwort auf die Frage hatte, die alle immer wieder stellten – Wo wirst du diesen Herbst studieren? Sie wollte, dass ich log, der Frage auswich oder besser noch, auf magische Weise nicht mehr so depressiv und erschöpft war. Und normalerweise wollte ich nur zurück in mein Bett, anstatt ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Zu sagen, Ich habe mir noch kein College ausgesucht, war meiner Meinung nach ein Kompromiss, denn wir alle wussten, dass ich es nirgendwo schaffen würde, aber das war nicht der Sohn, den meine Mutter wollte.

Ich war nicht der Sohn, den meine Mutter wollte.

Ich lächelte nicht, ich flirtete nicht und ich konnte auch nicht voraussehen, was die Gastgeberinnen brauchten. Ich hockte mich hin, wandte den Blick ab und ließ die Auflaufformen fallen. Jedes Mal, wenn jemand zu laut lachte, zuckte ich zusammen. All die Unterhaltungen aus so vielen Richtungen lösten Panik in mir aus, also tat ich mein Bestes, um alles um mich herum auszublenden – was bedeutete, dass ich nicht antwortete, wenn mir jemand eine Frage stellte.

Die Gastgeberinnen und die anderen Partygäste klopften mir auf die Schultern und neckten mich damit, dass ich nur zu gestresst vom wilden Teenagerleben sei, aber mein Dad zog die Brauen zusammen und meine Mom presste die Lippen aufeinander, sodass ich wusste, dass ich später in Schwierigkeiten stecken würde. Ich hatte kein wildes Teenagerleben. Ich war am Abend zuvor nicht zu lange weg gewesen. Das war ich nie. Ich war nicht schüchtern, weil auf der Party auch Mädchen in meinem Alter waren. Das war ein ganz anderes Problem, eins, von dem meine Eltern noch nichts wussten.

Es war nicht so, dass ich es nicht versuchte. Ich ging zu diesem schrecklichen Straßenfest und gab mich so normal, wie ich nur konnte. Natürlich war es nicht genug. Meine Eltern würden mir niemals zuhören. Ich konnte die Zukunft schon vor mir sehen und es war beängstigend und dunkel und lähmend, mir vorzustellen, in einem fremden Studentenwohnheim in einer unbekannten Stadt zu sein, wo mich alle nur auslachen oder unbehaglich das Gesicht verziehen würden, wenn sie mich fragten, was mein Problem sei. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es nicht für alle das Beste wäre, wenn ich nicht mehr da war.

Ich versuchte gerade, mich zu beruhigen, indem ich mir einen Plan zurechtlegte, wie ich dafür sorgen konnte, dass alles aufhörte, als der Junge zu mir kam.

Ich hatte gesehen, wie er mit seinen Eltern gekommen war, aber ich hatte ihm gerade genug Aufmerksamkeit geschenkt, um festzustellen, dass er mich weder hänseln noch für Unbehagen sorgen würde, ehe ich ihn schon wieder abgeschrieben hatte. Mir war undeutlich bewusst, dass er anders war, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte, aber sonst hatte ich nicht viele Gedanken an ihn verschwendet, sondern ihn in den Nebel meiner Wahrnehmung mit allen anderen Gästen geschoben. Außer dass er plötzlich auf mich zukam, mit der deutlichen Absicht, eine Unterhaltung anzuregen.

Das Seltsame war, dass er mich nicht ansah. Er sah in meine Nähe, aber er sah mich nicht an und lächelte. Er blieb vor mir stehen und drückte seine Füße fest auf den Boden. Während er sich leicht zur Seite neigte, ballte er die Hände in einem seltsamen Winkel vor sich zur Faust, starrte die Luft neben mir an und begann zu sprechen.

»Hallo. Ich möchte mich gern vorstellen. Mein Name ist Emmet Washington. Wie geht es dir?«

Ich blinzelte ihn an und verstand nicht wirklich. Ich meine, ich verstand schon, was er sagte, aber die Art, wie er es gesagt hatte, war so seltsam. Er klang leicht roboterhaft, die Worte ohne Punkt und Komma und seine Betonungen lagen immer auf der falschen Stelle. Selbst die Frage war komisch – er hob am Ende die Stimme, als wäre ihm bewusst, dass er das bei einer Frage tun musste, aber irgendwie war es die falsche Art von Hebung.

 

Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, flüsterte die panische Stimme in meinem Kopf. Ich zog mich zurück, hob die Schultern und sackte in mich zusammen.

Emmet sprach weiter und ich begann mich zu fragen, ob neben mir ein Teleprompter stand, von dem er ablas, denn seine Worte klangen wie auswendig gelernt. »Es ist ein wunderschöner Tag für ein Picknick, nicht wahr? Nicht zu heiß und nicht zu windig.«

Ich musste etwas sagen. Es war offensichtlich, dass ich nun an der Reihe war, aber ich war so verwirrt. Warum redete er mit mir? Was sollte ich sagen?

Er ist einfach nur höflich. Vielleicht hat ihn seine Mom auch gezwungen, zum Picknick zu gehen und ihm gesagt, dass er sich unter die Leute mischen soll. Der Gedanke ließ mich ein wenig entspannen. Offensichtlich hatte Emmet eine Behinderung. Würde es mir schaden, nett zu ihm zu sein?

»H-hi.« Ich errötete, beschämt über meine eigene Ungeschicklichkeit. Wer ist jetzt behindert, Idiot?

Falls Emmet mich für einen Trottel halten sollte, ließ er sich nichts anmerken. Er wartete geduldig, wippte sanft auf seinen Fersen und starrte auf die Stelle neben meinem Kopf. Seine Haltung war so merkwürdig. Seine Schultern waren zu hoch und seine Hände waren vor seinem Körper verdreht. Manchmal bewegte er sie, aber nur ganz kurz, dann erstarrten sie wieder.

Er war süß. Seine Haare waren hellbraun und etwas zu lang, sodass sie sein Gesicht umspielten, als wäre er in einer Boyband. Seine Augen waren blassblau mit unzähligen, feinen Linien darin, als hätte man einen zerbrochenen Kristall wieder zusammengesetzt.

»Du musst dich jetzt auch vorstellen«, sagte Emmet schließlich.

»'tsch-'tschuldigung.« Ich wollte meine Hand ausstrecken, zog sie aber zurück, weil ich nicht mutig genug war. Stattdessen schob ich die Hände unter meine Arme. »Ich… ich bin Jeremey.«

»Es ist eine Freude, dich kennenzulernen, Jeremey.« Er wartete einen Herzschlag lang und ich fragte mich, ob er die Sekunden zählte, als wüsste er, dass er innehalten muss. »Ich bin Student im zweiten Studienjahr an der Iowa State University. Ich studiere angewandte Physik und Informatik. Was ich gerne mache, sind Puzzles, Spiele und Spaziergänge.« Eine weitere Pause folgte, die ebenso wohlüberlegt war wie die erste. »Was ist mit dir?«

Ich war durcheinander, hin- und hergerissen zwischen Unbehagen angesichts seines Unwillens, einfach zu gehen, und Erstaunen darüber, was er mir gerade erzählt hatte. »Du… du gehst aufs College?« Und er studierte angewandte Physik?

Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mit meiner Vermutung, dass er eine Behinderung hatte, richtiglag. Wodurch ich mich schuldig und beschämt fühlte und die Panik am Rande meines Bewusstseins immer näher kroch.

Emmet fuhr fort, als würde ich innerlich nicht gerade den Verstand verlieren. »Ich gehe aufs College. Wir sind letzten Herbst hierhergezogen, damit ich zur Schule gehen kann. Für mich ist es keine gute Idee, in einem Studentenwohnheim oder allein zu wohnen, und Mom sagt, dass es sowieso Zeit für eine Veränderung war. Mein Dad arbeitet als Forschungsspezialist bei ConAgra. Meine Mom ist Allgemeinärztin und arbeitet Teilzeit in der Ames Medical Clinic. Meine Tante Althea arbeitet im West Street Deli und ist Aktivistin. Ich möchte entweder Programmierer oder Physiker werden. Ich hab mich noch nicht entschieden.« Pause. »Was machst du, Jeremey? Gehst du aufs College?«

Physiker. Ich schluckte schwer und war verwirrt und verloren und fühlte mich unzulänglich. »N-nein. Ich… hab im Mai meinen Abschluss gemacht. H-highschool.«

»Planst du, aufs College zu gehen?«

Es war nett, dass er nicht davon ausging, ich würde aufs College gehen, aber die Beschämung über ein Nein, dass ich vor einem College so weit wie möglich davonlaufen würde, war noch immer zu viel. »Ich… will nicht. Aber meine Eltern…« Ich sah mich kurz um, um sicherzugehen, dass Mom und Dad nicht zuhörten. »Sie zwingen mich, auf die University of Iowa zu gehen.«

Emmet runzelte die Stirn und sein Wippen wurde stärker. »Das ist schade. Sie sollten dich auf die Iowa State gehen lassen. Das ist eine gute Schule und sie ist genau hier in Ames.«

Es war lustig – ich hatte mich sofort in einer Abwärtsspirale aus Schuld befunden, weil ich schlecht über meine Eltern gesprochen hatte, aber Emmet hatte einfach darüber hinweggesehen. Es regte mich an, noch mehr zuzugeben. »Ich möchte überhaupt nicht aufs College gehen.«

Sein Blick wandte sie nie von der Stelle neben meinem Ohr ab. »Was möchtest du tun?«

»Ich weiß es nicht.« Es war zu viel, ihn weiter anzusehen – es überforderte mich –, also starrte ich auf den Boden vor mich. »Ich möchte mich ausruhen. Das letzte Jahr war schwierig, vor allem der letzte Monat. Aber ich schätze, das richtige Leben funktioniert so nicht.«

»Was war schwierig?«

Für eine kurze Weile war es in Ordnung gewesen, mit Emmet zu reden, fast schon angenehm, aber jetzt wollte ich aufhören. Ich suchte nach einem Weg, aus dieser Unterhaltung verschwinden zu können.

Emmet hörte auf zu wippen. »Es tut mir leid. Ich glaube, meinetwegen fühlst du dich unwohl. War das eine schlechte Frage?«

Überrascht sah ich zu ihm auf. Jetzt wippte er offenkundig. Er war bestürzt. Ich musste dafür sorgen, dass er sich nicht schlecht fühlte. »Es war keine schlechte Frage. Ich bin… ein ziemliches Fiasko.«

»Du hast in letzter Zeit traurig gewirkt, wenn ich dich in deinem Garten gesehen habe.«

Whoa. »Du… hast mich im Garten gesehen?«

»Ja. Du wohnst hinter den Bahngleisen, gegenüber von mir. Ich hab gesehen, wie du auf der Veranda gesessen oder im Garten gearbeitet hast. Manchmal hast du traurig gewirkt.«

Wahrscheinlich erschien ich ziemlich häufig traurig im Garten – es war der Ort, an den ich ging, wenn ich vor meinen Eltern flüchten musste. Der Gedanke, dass die Nachbarn mich beobachtet hatten, machte mich wahnsinnig und schon wieder schämte ich mich. »Es… es tut mir leid.«

»Warum tut es dir leid, traurig zu sein?«

Diese Unterhaltung musste aufhören. »Ich… weiß es nicht.«

»Jetzt fühlst du dich wieder unwohl.«

Ja, das tat ich. Außerdem fing ich an, zu schnell zu atmen und ich spürte, wie mein Herz so schnell schlug, als wollte es aus meinem Brustkorb springen. Ich schloss die Augen. Oh Gott, ich würde hier auf dem Picknick eine Panikattacke bekommen. Meine Mutter würde mir niemals verzeihen. »Ich… ich muss… gehen.« Ich sah mich um und stellte fest, wie viele Menschen gekommen waren und wie nah sie mir waren. Meine Atmung wurde flacher und flacher und ich wollte in Tränen ausbrechen. »Ich kann hier nicht weg. Ich bin gefangen. Sie werden so wütend sein.«

»Erlaubst du, dass ich dir helfe?«

Ich blinzelte Emmet an, da ich zuerst nicht verstand, was er gesagt hatte. Noch immer sah er mich nicht an, aber er hatte die Hand ausgestreckt und aufgehört, auf den Fersen zu wippen. Er wartete.

Ich legte meine Hand in seine. Ich wusste nicht warum, aber ich ließ mich von ihm wegführen, weg vom Baum, weg vom Picknick. Er führte mich um einige Mülltonnen am Haus herum, platzierte mich auf einer Bank und setzte sich neben mich. Anschließend ließ er meine Hand los und genügend Platz zwischen uns. Er sagte nichts, sondern saß einfach nur bei mir, während ich tief durchatmete und mich wieder beruhigte.

»Da-danke«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte.

Er setzte sich aufrecht hin und richtete seinen Blick auf meine Knie. »Es tut mir leid, falls ich etwas Falsches gesagt habe. Ich hab geübt, aber es ist schwer, jemanden kennenzulernen.«

»Du… hast geübt?«

»Ja. Ich wollte dich schon sehr lange kennenlernen.«

»Du… wolltest mich kennenlernen?« Schon sehr lange?

»Ja.« Er wippte auf seinem Platz und sein Blick wanderte zu einem der Bäume. »Ich wollte einen guten ersten Eindruck machen, aber ich habe eine Panikattacke ausgelöst. Es tut mir leid.«

Scham überfiel mich, heftig und unangenehm. »Das hast du nicht. Ich bin… ein Fiasko. Ich hab mich geschämt zuzugeben, dass ich nicht aufs College will.«

»Es ist eine große Veränderung. Du solltest deinen Eltern sagen, dass du dich etwas langsamer bewegen musst.«

Mein bitteres Lachen blieb mir beinahe im Halse stecken. »Meine Eltern sagen, dass ich darüber hinwegkommen muss.«

»Es tut mir leid. So etwas zu sagen, ist gemein.«

Ich weiß nicht, warum ich es tat. Selbst als sich die Worte auf meinen Lippen formten, versuchte ein Teil meines Gehirns, mir den Mund zu verbieten, aber Emmet vermischte all meine Erwartungen und Mutmaßungen und offensichtlich sorgte das für einen Kurzschluss in meinen Synapsen. Anstatt eine Entschuldigung für meine Eltern zu finden, anstatt zu murmeln Ja, wem sagst du das, oder irgendetwas in der Art, sagte ich: »Ich habe Depressionen.«

»Oh. Meinst du SDS, eine schwere depressive Störung? Also eine klinische Depression?«

Ich nickte zutiefst beschämt. »Ich… hatte in der Schule einen Zusammenbruch. Während der letzten zwei Wochen hab ich nicht mehr am Unterricht teilgenommen. Ich hab meinen Abschluss, aber da ich nicht bei der Abschlussfeier war, bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es wirklich passiert ist. Ich stecke noch immer vor der ganzen Klasse fest und werde ohnmächtig, weil ich nicht genug Luft bekomme.« Die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag lag wie Nebel auf mir. »Mein Arzt will, dass ich Tabletten nehme, aber meine Eltern erlauben es nicht.«

»Moderne Antidepressiva erhöhen die Monoamine im synaptischen Spalt und es ist klinisch bewiesen, dass sie die Stimmung heben und depressive Symptome in vielen Fällen verringern. Manchmal dauert es eine Weile, bis das richtige Medikament gefunden ist, und bei manchen Menschen wirken sie überhaupt nicht, vor allem nicht ohne die zusätzliche Gesprächstherapie, aber bei einer großen Anzahl von Patienten sind sie sehr effektiv.«

Genau dasselbe hatte der Arzt zu mir gesagt, dessen war ich mir sicher, aber ich verstand es jetzt genauso wenig wie im Mai. Für mich war es befremdlich, wie klug Emmet war – er wirkte wie jemand, bei dem ich kurze Sätze benutzen sollte, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Ich wollte ihn so gern darüber ausfragen, aber alles, was mir einfiel, war: Was stimmt nicht mit dir? Und das war schrecklich.

»Wieso weißt du so viel über Depressionen?«, fragte ich stattdessen.

»Ich hab darüber gelesen. Als ich dreizehn war, hatte ich eine depressive Phase, also hab ich meinen Zustand recherchiert. Medikamente sind bei Teenagern nicht ratsam, es sei denn, die Umstände sind kritisch, also habe ich aufmerksam über Meditation nachgelesen und sie praktiziert. Außerdem hab ich angefangen, von zu Hause aus zu lernen, was geholfen hat. Manchmal hab ich jetzt auch Angstzustände, aber meistens kann ich mit bestimmten Maßnahmen stressige Situationen in meinem täglichen Leben vermeiden.«

Wieso war es für ihn kein Problem, all diese Dinge herunterzurattern? Sowohl die fachlichen Mechanismen von Depressionen und wie es ihn aus der Schule herausgerissen hatte. »Maßnahmen?«

»Ja. Ich habe viele Maßnahmen. Ich habe einen strikten Zeitplan und Zeichen, die ich nutze, um meiner Familie zu zeigen, dass ich verunsichert bin. In der Uni ist es schwieriger, aber meistens bleib ich für mich und spreche nicht mit anderen Leuten und sie lassen mich in Ruhe. Da ich ein Genie bin, mögen mich die Professoren und helfen mir, wenn die anderen Studenten gemein sind. Gleichaltrige beschimpfen mich manchmal, aber dann mach ich einfach meine Ohrstöpsel rein, damit ich sie nicht hören kann, und es ist in Ordnung.«

»Warum… beschimpfen sie dich?«

»Weil ich Autismus habe.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das war es definitiv nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn anstarrte, wahrscheinlich sogar mit offenem Mund. »Du… bist Autist?« Das kann nicht sein, wollte ich hinzufügen, biss mir jedoch rechtzeitig auf die Zunge. Irgendetwas an ihm war merkwürdig, ja, aber… Autismus? Waren Autisten nicht unfähig, mit anderen Leuten zu sprechen und sie zu berühren?

Emmet sah weiter den Baum an. »Ja. Ich habe eine Autismus-Spektrum-Störung. Mein Gehirn ist anders verkabelt als das anderer Menschen. Aber ist es nicht wie bei Depressionen, bei der sie denken, dass es an den Monoaminen liegt. Sie manifestiert sich als Sozialstörung und in der Art, wie mein Körper reagiert, meinem Verhalten. Ich bin intelligent, intelligenter als die meisten Menschen, aber es fällt mir schwer, mit anderen zu interagieren. Also tun die meisten Leute so, als würde mit mir etwas nicht stimmen, als wäre ich dumm.«

 

Was im Grunde genau das ist, was ich getan hatte. Ich fühlte mich schrecklich. »Es tut mir leid.«

»Es ist in Ordnung. Sie sind die, die etwas verpassen.« Er hielt erneut inne, aber dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass er sich seine nächsten Worte zurechtlegte und nicht wartete, weil er glaubte, es tun zu müssen. »Ich hatte gehofft, dass du mein Freund sein möchtest.«

Ich erinnerte mich daran, dass er gesagt hatte, mich schon sehr lange kennenlernen zu wollen. Ich erkannte, dass er den Mut aufgebracht hatte, sich mir vorzustellen, als wäre ich jemand, um den sich die Menschen reißen würden. Der Gedanke löste ein wunderbares Gefühl in mir aus und im selben Moment fühlte ich mich unsicher. »Ich bin nicht interessant. Ich… habe nicht viele Freunde.«

»Ich auch nicht.« Er drehte den Kopf, sodass er mich beinahe ansah, und streckte die Hand aus. »Was meinst du? Sollen wir eine Freundschaft ausprobieren?«

Ich starrte auf seine Hand und wusste nicht, was ich tun sollte. Verwirrt, geschmeichelt, verängstigt und in erster Linie hypnotisiert legte ich meine Hand in seine. Als er meine Finger drückte, jagte ein Schauer durch meinen Körper.

Zum ersten Mal seit meinem Zusammenbruch dachte ich nicht darüber nach, wie ich die Welt zum Stillstand bringen konnte, wie ich dem Versagen, das mein Leben war, entkommen konnte. Ich dachte an Emmet Washington und Physiker und Autismus und Monoamine.

Ich dachte daran, wie es sein würde, Emmets Freund zu sein.