Kraniche über Otterndorf

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„Nein. Ich muss an die Luft. Lass uns zum Deich gehen.“

*

Zwar war das nun wahrlich nicht seine Aufgabe. Lohmeier war für den Körper zuständig, für nichts sonst. Aber schließlich hatte er es entdeckt. Und er hatte sich nicht bremsen können, und mittlerweile lag das Fitness-Armband in sämtliche Bestandteile zerlegt auf seinem rein geschrubbten Tisch.

Irgendwie war er enttäuscht. Er hatte mehr erwartet, Deutlicheres. Hier war kein Sender eingebaut, zumindest hatte er keinen gefunden. Jetzt stellte sich auch ganz langsam das schlechte Gewissen ein. Er war über dieses Fitness-­Gerät hergefallen, als gelte es, eine Goldader freizulegen. Nun, da er nicht erfolgreich gewesen war, bereute er sein voreiliges Vorgehen, dies hätten andere sachgemäßer getan.

Beinahe jedes noch so kleine Teilchen hatte er befühlt und von allen Seiten begutachtet, nichts, einfach nichts. Trotzdem spürte er, dass dieses Ding da ein Geheimnis in sich barg und noch dazu eins, das Entscheidendes zur Lösung des Falles beizutragen hatte.

Womit er allerdings nicht rechnete und es auch kein bisschen spürte, waren die weiten dunklen Schwingen, die einen großen Vogel durch die Lüfte trugen mit einem ganz exakten Ziel: direkt dorthin, wo sich Gerichtsmediziner Lohmeier und das Fitnessarmband befanden.

Lohmeier hatte sich mittlerweile zur Beichte entschlossen, er musste sein eigenmächtiges Handeln melden, er wollte, musste ehrlich sein, wenn er nicht die Aufklärung des Falles vereiteln wollte. Er wählte die Handynummer von Kommissar Frank, doch der ging nicht an sein Telefon. Sehr ungewöhnlich. Als er noch überlegte, wen er als Nächstes anrufen sollte, sah er es.

Ein grausiger Raubvogelkopf erschien vor seinem Fenster, seine Federn teilweise noch blutig und völlig zerzaust, seine Augen leuchteten flammend rot und waren unerbittlich genau auf ihn gerichtet. Lohmeier standen die Nackenhaare zu Berge, mit schreckgeweiteten Augen starrte er das Ungeheuer an. Sämtliche Glieder waren wie gelähmt. Da hieb der Vogel mehrmals mit dem Schnabel gegen die Scheibe … bis sie in unzählige Stücke zerbarst. Das Geräusch zersplitternden Glases brachte Lohmeier in die Realität zurück. Raus hier. Er rannte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Zuerst lief er zum Kühlraum, doch hier glaubte er sich in der Falle. Er hörte grässliche Laute aus seinem Untersuchungsraum, Geräte wurden umgestoßen, Gegenstände schienen durch die Luft zu fliegen, dazwischen ein markerschütterndes Krächzen, der Vogel wütete schrecklich, doch dann war es plötzlich still.

Als Lohmeier die Erschütterung spürte und hörte, wie die Tür von innen bearbeitet wurde, sprintete er los, den Flur hinunter und ins Treppenhaus. Mit einem Krachen ging die Tür zu Bruch, und ein dunkles Etwas flog den Flur entlang. Es nahm die Witterung auf und segelte schließlich den Treppenschacht hinunter. Lohmeier dicht auf den Fersen. Der fing plötzlich an zu beten, was er bestimmt zwei Jahrzehnte lang nicht mehr getan hatte. Stoßweise ging sein Atem, und in ebensolchen Intervallen stieß er bittende Worte aus, versprach Besserung für was auch immer. Da hackte der Vogel zu und traf den Gerichtsmediziner an der Schulter, riss sein Hemd auf, hatte ein Stück Fleisch in seinem Schnabel und schnickte es gegen die Wand. Lohmeier schrie aus Leibeskräften und krümmte sich vor Schmerzen. Dann erwischte er mit letzter Kraft die Tür, rannte im Flur zu dem Aufzug, wusste nicht, in welchem Stockwerk er war, und drückte auf beide Knöpfe … hinauf und hinab. Bange Momente, oh bitte bitte Aufzug komm. Komm endlich. Da war er, der dunkle Vogel, baute sich vor ihm auf und holte zum vernichtenden Schlag aus.

Die Tür des Aufzugs ging auf, quälend langsam, wie es Lohmeier vorkam, doch die Bewegung schien den Vogel abzulenken. Ein Sprung, und der Mediziner war in der Kabine und drückte auf „abwärts“. Mit einem Ruck schloss sich die Tür. Lohmeier ließ sich auf den Boden fallen, hielt sich die Schulter. Dann zog er sein Hemd aus, zumindest das, was davon heil gebelieben war, und band es um die Wunde. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er sich im Lift um, und oh gepriesene Sicherheits-Technik. Da war er, der Alarmknopf. Er haute einfach darauf. Endlich ertönte eine sonore Männerstimme. Lohmeier schrie ins Mikrofon: „Bitte holen Sie Verstärkung, ich bin im Aufzug und werde nach Möglichkeit auf- und abfahren. In den Gängen befindet sich ein gefährlicher Raubvogel, bitte nur Bewaffnete. Informieren Sie Kommissar Frank. Ich bin Gerichtsmediziner Lohmeier und stark verletzt.“ Lohmeier hatte fürchterliche Angst, Angst, dass der Aufzug stehen bleiben und er plötzlich keine Gewalt mehr über die Technik haben würde und die Tür ginge auf und der Vogel, dieses mörderische Ungeheuer, stünde davor, bereit, ihn zu verschlingen. Doch die Tür blieb verschlossen, und Lohmeier konnte sein Glück kaum fassen, und innerlich gelobte er unzählige gute Werke zu tun. Und dass er fortan nie mehr über die Toten spotten werde.

Als von der Straße her die Sirenen der Polizei und des Krankenwagens herüberschallten, hatte auch der Vogel ein Einsehen, dass er hier nicht mehr zum Zuge kommen würde. Und er suchte sich behände einen Fluchtweg aus dem Gebäude. Da Kommissar Frank weiterhin nicht erreichbar gewesen war, hatte man seine Kollegen Amelung und Dressler informiert, und beide sahen gerade noch, wie ein Fenster zersplitterte und sich ein kranichähnlicher, grauer Vogel in die Lüfte erhob und am Horizont verschwand.

*

Kommissar und Profilerin hatten sich am Deich auf eine Bank gesetzt und schauten hinaus auf die Elbe. Bisweilen streifte ihr Blick auch die weit entfernte Kugelbake. Sie sprachen nicht, und das tat Liz gut, einfach nur dazusitzen, nichts vorspielen müssen, sich entspannen und atmen, ein und aus, nicht denken müssen, nichts erklären. Sie hatte tatsächlich das Empfinden, es bedürfe keiner Erklärung, irgendwie schaffte Hartmut es, ihr dieses Gefühl zu geben. Wieder fuhr ein großer, beleuchteter Dampfer vor ihren Augen vorbei. Liz kam sich vor wie ein kleines Kind, das den Urlaub an der See verbrachte und nichts anderes zu tun hatte, als Schiffe und Möwen zu beobachten und Wellen und Strand.

Am liebsten hätte sie ihren Kopf an seine Schulter gelegt, aber das wäre die Überschreitung einer Grenze gewesen, und so gut funktionierte ihr Verstand immerhin noch, dass sie es bleiben ließ.

Dennoch fühlten sich beide einander nah. Auch Hartmut hatte eine gewisse Scheu, diese Stimmung durch ein Gespräch zu entzaubern. Jedes Wort, das ihm in den Sinn kam, erschien ihm banal. Doch irgendwann mussten sie ja wieder in die Wirklichkeit zurückkehren, Hartmut hatte schon mehrmals das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche gespürt, wäre aber um nichts in der Welt an den Apparat gegangen.

Sie machte den Anfang: „Mir ist kalt.“

Das war doch immerhin etwas Konkretes, auf das man reagieren konnte. Und dankbar für die Gelegenheit zog Hartmut sein Jackett aus und hängte es ihr um die Schultern.

Sie lächelte ihm zu. Und sie fing an zu sprechen, und plötzlich konnte sie nicht mehr damit aufhören. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, und Hartmut hörte einfach nur zu.

Sie erzählte, dass sie zwar seit ihrer Kindheit mit diffusen Ängsten zu kämpfen, diese aber nicht als regelrechte Krankheit eingestuft hatte. Doch dann war sie knallhart damit konfrontiert worden und das löste eine Katastrophe aus. Sie hatte in Berlin als Polizistin gearbeitet, gemeinsam mit einem verlässlichen Partner. Til Loder, verheiratet, ein Kind. Bei einem Einsatz verabredeten sie, einen gefährlichen Mörder in einem Hochhaus zu stellen, jeder wollte von einer anderen Seite kommen. Sie hatten vor, ihn in die Enge zu treiben. Til war auch losgestürmt, doch sie kam über das siebte Stockwerk nicht hinaus, hatte dann einen Anfall, wusste gar nicht, was mit ihr los war. Konnte einfach nicht weiter, versuchte ihn übers Handy zu erreichen, informierte die Kollegen. Aber es war zu spät. Längst waren oben beide aufeinandergetroffen, und es hatte Til erwischt. Wenn sie rechtzeitig da gewesen wäre, dann wäre bestimmt alles glatt gegangen. Doch so entkam der Verbrecher, und zuvor hatte er Til angeschossen, sein Rückenmark verletzt. Er überlebte, saß aber fortan im Rollstuhl. Sie war auch mit Tils Frau befreundet, doch diese richtete ihre ganze Wut und Verzweiflung auf Liz, machte ihr das Leben zur Hölle mit ihren Vorwürfen. Til hingegen sagte nie ein böses Wort, was beinahe noch schlimmer war. Auch die Kollegen verhielten sich zurückhaltend, mieden sie schließlich, denn keiner wollte mit ihr zusammenarbeiten, um am Ende in die gleiche Situation zu kommen. Da quittierte sie den Dienst, ging freiwillig in eine Klinik, um ihre Höhenangst behandeln zu lassen. Sie hatte die Krankheit einzuschätzen gelernt, sie aber nicht überwunden. Dann studierte sie Psychologie, auch um sich selbst besser zu verstehen, war aber letztlich nicht von der Kriminologie losgekommen und Profilerin geworden. In Berlin hatte sie auf keinen Fall bleiben wollen. Über Freunde fand sie eine Anstellung in Thüringen und sammelte dort erste Erfahrungen. Und nun war sie hier in Cuxhaven.

Wind rauschte über die See, Dunkelheit hatte sich längst über Strand und Hafen gesenkt, die Lichter der Häuser und Restaurants leuchteten zu ihnen herüber, auch die eines Passagierschiffes, das auf dem schwarz schimmernden Wasser dahinglitt. Am liebsten hätte Hartmut ewig so mit Liz dagesessen, aber er wusste, allmählich musste er irgendetwas zu ihrer Erzählung, ihrem Geständnis sagen. Doch er scheute sich, diesen Moment zu zerstören.

Auch Liz empfand diesen Augenblick als etwas Besonderes, sie fühlte sich diesem Mann neben sich so nah. Es war eine Vertrautheit zwischen ihnen, wie sie unmöglich sein konnte, sein durfte … zwischen zwei Menschen, die sich erst wenige Tage kannten. Wenn er jetzt etwas Banales oder etwas furchtbar Schlaues sagt, dachte sie, dann ist der Zauber verflogen, sie hatte Angst davor, wie es nun weitergehen würde. Zudem wurde ihr bewusst, dass sie sich Hartmut auch ein wenig ausgeliefert hatte. Was konnte er alles anfangen mit seinem Wissen über sie.

 

Langsam drehte er sich zu ihr um, nahm kurz ihre Hand, drückte sie, sah sie direkt an und sagte: „Danke.“

Und Liz kam sich vor wie in einem Film der schwarzen Serie, kurz vor dem Happy End, und glaubte, der Kommissar wolle sie küssen. Sie hielt den Atem an, in ihrem Kopf herrschte vollkommene Leere: Was wollte sie eigentlich? Beide wurden einer Antwort enthoben, denn ihr Smartphone klingelte. Sie hatte es, im Gegensatz zu Hartmut, nicht leise gestellt.

Sie erschrak so sehr, dass sie den Anruf aus einem Reflex heraus sofort annahm. Und schon hatte die Realität sie wieder.

„Wie bitte … nein, unmöglich“, rief sie aus, „ja, der ist bei mir, wie kommst du denn darauf?“

Hartmut wurde ganz unruhig neben ihr, kramte auch sein Handy heraus und stellte es wieder an. Es hörte gar nicht auf zu piepen.

Liz ließ ihr Smartphone sinken, atmete erst einmal tief durch: „Libuše hat angerufen. Es ist etwas Schreckliches passiert“, auf Hartmuts entsetzen Blick hin beruhigte sie ihn, „aber es ging gut aus. Komm, wir müssen los!“

Sie stand von der Bank auf, auch er erhob sich: „Wohin?“

„Zur Gerichtsmedizin.“

*

„Was für eine Schweinerei“, kommentierte Hartmut Frank das Schlachtfeld, das einmal das Labor der Gerichtsmedizin gewesen war. Irgendwie wurden die Taten immer blutiger, erst der Mord im Fort Kugelbake und jetzt auch hier.

Dressler und Amelung informierten Liz und ihn darüber, was geschehen war. Lohmeier war bereits im Krankenhaus, ihn würde er später befragen. Was für ein fürchterlicher Kampf musste hier gewütet haben! Hatte Lohmeier etwas gefunden? Und wodurch war der Mördervogel angelockt worden?

Sie hatten Plastikschoner über die Schuhe gezogen, und Liz ging vorsichtig von hier nach da und machte Fotos. Dressler wollte ihr Einhalt gebieten, denn es waren schon genügend Bilder gemacht worden. Doch seine Bemühungen waren vergeblich, Liz war völlig in ihre Arbeit versunken und ließ sich durch nichts ablenken. Hartmut sah ein, dass er hier gerade wenig ausrichten konnte, er nickte seinen Kollegen zu, berührte Liz leicht an der Schulter. Sie zuckte zusammen und sah kurz auf.

„Ich fahre zu Lohmeier ins Krankenhaus“, sagte er zu ihr und setzte auf ihren fragenden Blick hin dazu, „der Gerichtsmediziner“.

„Okay“, gab sie abwesend zurück und fuhr unbeirrt mit ihrer Arbeit fort.

Hartmut befand sich in einem regelrechten Gefühls­chaos. Eben noch hatte er einen so intensiven Abend mit Liz verbracht, war ihr wirklich nähergekommen, hatte Wichtiges aus ihrem Leben erfahren, von ihren Sorgen, ihrer Krankheit. Und eigentlich waren seine Gefühle noch damit beschäftigt. Es war kein Platz für anderes. Erst allmählich schob sich die grässliche Tat, die zeitgleich in der Gerichtsmedizin stattgefunden hatte, in den Vordergrund. Wieso war Lohmeier so spät noch im Labor gewesen? Natürlich hatte er wieder einmal alleine seine Untersuchungen durchgeführt und darüber die Zeit vergessen. Aber wo war der Pförtner?

Im Krankenhaus angekommen, wurde er tatsächlich zu seinem Kollegen eingelassen. Kein Arzt oder Pfleger baute sich vor ihm auf und sagte die obligatorischen Worte: „Noch nicht vernehmungsfähig.“

Es war ein Einzelzimmer. Lohmeier wirkte winzig klein in dem großen Bett mit der weißen Decke und dem bauschigen Kopfkissen. Ganz gleich, wie viel Wind wir auch im Leben machen, wie wir uns aufplustern, damit wir nicht übersehen und gehört werden, irgendwann geht’s ans Eingemachte, und was wird dann von uns übrig bleiben? Als seien Hartmuts Gedanken bei ihm angekommen, reckte sich der Gerichtsmediziner ein bisschen in die Höhe, war aber viel zurückhaltender als sonst, hatte bestimmt schon den einen oder anderen Satz verworfen und lächelte den Kommissar beinahe schüchtern an: „Gut, dass du kommst. Gerade du …“

Einen Satz von dieser Kürze hatte Hartmut Frank noch nie von ihm gehört. Fast hatte so etwas wie Dankbarkeit mit durchgeschimmert.

„Na“, er trat zu ihm ans Bett, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, erschrak dann, „ach je, das war doch nicht die verletzte?“

„Nein, nein“, beruhigte ihn Lohmeier und deutete auf die andere Seite, „dieses Viech hat drüben zugebissen, und nicht gerade zimperlich.“

Er schwieg einen Augenblick: „Ich geb’s ja nicht gerne zu, aber ich hatte eine Sau-Angst und … ich hab sogar gebetet.“

Hartmut sah ihn erschrocken an, zu sentimental sollte es jetzt auch nicht werden. Da lächelte Lohmeier schon wieder ein bisschen spitzbübisch: „Keine Angst, ich gehe nicht ins Kloster. Übrigens sind wir tatsächlich fündig geworden. Wir haben an den tödlichen Wunden ganz feine Metallsplitter gefunden, fast war es nur ein Abrieb.“

„Wodurch soll das denn dahin gekommen sein?“, überlegte Hartmut.

„Okay, da muss ich etwas weiter ausholen. Kannst du dich an meine Irritation beim ersten Mord erinnern? Alles deutete auf einen Vogel hin, lediglich die Wunden machten mich stutzig, da sie mir zu gleichförmig, wie mechanisch zugefügte Einstiche vorkamen und nicht wie wildes Zubeißen.“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Dieser feine Metallsplitterfilm würde nun natürlich zu den fast identischen Wunden passen, so als habe vielleicht ein Messer mehrmals zugestoßen.“

„Das hat es aber doch nicht“, sagte Hartmut vorschnell, „oder hast du dafür Beweise?“

„Keine konkreten. Doch schematisch zugefügte Verletzungen, von winzigen Metallpartikeln gesäumt, sprechen nicht unbedingt für ein Tier, viel eher für eine Maschine.“

„Also ist die Theorie vom Mördervogel vom Tisch?“, fragte Hartmut ein wenig enttäuscht.

„Eindeutig, ich glaube, Hartmut, dass es so ein technischer Flugapparat war … und sein Köder war das hier“, er öffnete seine Hand, und darin lag ein Teil des Fitness­armbandes, das er schon die ganze Zeit fest umklammert hielt.

„Meinst du etwa eine Drohne?“

„Genau! Ich würde sogar sagen, eine Kampfdrohne.“

*

Otterndorf. Alte Schleuse. 13.45 Uhr. Irgendwie haben Schleusen etwas Unheimliches, überlegte Britta, die zu früh zu der Verabredung gekommen war und sich an der Schleuse noch ein bisschen die Beine vertrat. Ihren Motorroller hatte sie bereits im Hof der Pension „Elbblick“ abgestellt. Sie spazierte über den Deich und guckte von oben auf die Schleuse herab. Die Neuste war sie nicht gerade, irgendwer hatte doch zuletzt erzählt, sie sei schon Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden, stünde auf Holzpfählen und könne nicht mehr, wie andere Deiche in der Gegend, erhöht werden. Ein Meter fehlte, um einer Sturmflut standzuhalten, also müsste die Alte Schleuse abgerissen und eine neue gebaut werden. Dann würde die Zufahrt zum Elbe-Weser-Kanal ein ganzes Weilchen gesperrt bleiben und die Schiffe müssten bei ihren Fahrten von der Elbe zur Weser den Umweg über die Nordsee nehmen.

Sie hörte Motorradgeräusche. Unwillkürlich machte ihr Herz einen kleinen Sprung. Oh weh, Henriette hatte recht, dieser Rob fing an, ihr etwas zu bedeuten. Eiligen Schrittes ging sie zurück zum Lokal. Rob stand unschlüssig im dunklen Gastraum, wusste nicht, wo er sich hinsetzen sollte, wollte offenbar die Entscheidung nicht alleine treffen.

„Hallo“, Britta trat ein, lächelte ihm zu, „schön, dass du da bist.“

Sie musste gar nicht überlegen, wohin: „Wollen wir raus auf die Terrasse?!“

„Okay.“

Draußen setzten sie sich an den letzten Tisch der Reihe, der ans Gebäude anschloss. Britta schaute direkt zum Deich und zur Schleuse. Es folgte ein Moment der Stille, ein wenig Befangenheit war auch dabei.

Rob nestelte an seiner Jacke herum, betrachtete dabei die Speisekarte auf dem Tisch, räusperte sich: „,Elbblick‘ ist ja eine echte Übertreibung, die Elbe sieht man gar nicht, sie ist ja hinterm Deich. Aber immerhin fließt direkt neben uns die Medem vorbei.“

„Ja“, meinte Britta großzügig, „Medemblick würde ja nun nicht so gut klingen, aber es ist doch schön hier. Und wir haben beide Flüsse in der Nähe, neben uns grasen die Kühe auf der Weide, ein Idyll … was willst du mehr?“

Er nickte, und schon wieder hatte er keine Entgegnung parat.

„Du tanzt wunderbar“, fiel Britta mit der Tür ins Haus.

Er lächelte geschmeichelt und ein bisschen verlegen.

„… bist du schon vorher aufgetreten?“

„Nein, ich bin kein Tänzer, aber ich liebe Kraniche.“

„Aha, und was du liebst“, sie suchte nach Worten, „das ist dir so nah, das hast du so tief verinnerlicht, dass du es auch mit echtem Gefühl und Geschick darstellen kannst. Alle Achtung!“

Er starrte über die Wiese zur Medem, betrachtete die sich im Wind wiegenden Zweige der Bäume am Ufer, schien weit weg zu sein.

„Ich habe schon als Kind mit ihnen getanzt, besser gesagt ihre Bewegungen nachgeahmt.“

Sie nickte überrascht: „Donnerwetter. Hier in der Gegend?“

„Ja, gar nicht so weit von hier, ein Stück hinter Lüdingworth, da lebte ich mit meinem Vater auf einem Gehöft …“ Die Wärme, die bei der Erwähnung der Kraniche noch in seiner Stimme mitschwang, war nun völlig verschwunden.

Sie sah ihn forschend an, traute sich aber nicht, weiter zu fragen, da er sie plötzlich fast böse anblitzte. „Doch das war in einem anderen Leben“, zog er einen harten Schlussstrich unter dieses Thema.

„Hm“, jetzt fiel Britta nichts mehr ein. Auch Rob sagte nichts mehr. Allmählich wurde die Situation unangenehm.

„Was möchten die Herrschaften trinken?“, fragte herzlich die nette Wirtin. Sie hatten sie gar nicht bemerkt, doch sie kam zur rechten Zeit.

„Ein Alster hätte ich gerne. Essen möchte ich erst mal noch nichts“, gab Britta ihre Bestellung auf.

„Für mich einfach ein Wasser … mit Sprudel.“

Sie schauten sich ernst in die Augen, keiner lächelte.

„Gut“, machte Britta den Anfang, „du hast mich gefragt, ob wir etwas zusammen trinken wollen. Nun haben wir uns irgendwie verhakt. Was meinst du, wollen wir noch mal neu beginnen?“

„Geht denn das?“, fragte Rob ungläubig, der schon innerlich die Flinte ins Korn geworfen hatte.

Sie lachte: „Natürlich geht das!“

„Offenbar finden wir uns doch beide sympathisch“, fuhr sie fort, „sonst säßen wir ja nicht hier. Und keiner will dem anderen etwas Übles. Darauf können wir doch schon mal aufbauen … müssen wir aber nicht …“

„Natürlich will ich dir nichts Böses. Und ich freue mich, dass du dich tatsächlich mit mir triffst. Ja, sympathisch ist das richtige Wort, ich bin nicht so geübt … in solchen Situationen. Aber irgendetwas an dir hat mich angezogen, wie zu dir hingezogen. Und ich hab gemerkt, dass du mir guttust, deine Energie und all das. Die anderen in der Gruppe sind mir einerlei, aber du und der Tanz …“

Weiter kam er nicht, dafür sprachen seine Hände weiter, sie unterstützten seine Worte, gestikulierten wild und waren am Ende offen auf sie gerichtet.

Ohne es zu merken, hatte er mehr preisgegeben, als man es üblicherweise bei einem ersten Treffen tat. Sein Geständnis rührte sie, und sie wusste, dass dies keine Anmache war, es war viel mehr. Und irgendwie hatte sie dabei das Gefühl, ein einsamer Gebirgswolf habe ihr sein vollkommenes Zutrauen geschenkt. Es war eine unpassende Empfindung, aber sie konnte sie nicht abschütteln. Und genauso musste sie ihn angesehen haben, denn er blickte überrascht zurück, forschend und nickte dann zufrieden.

„Ja, darauf können wir aufbauen“, bestätigte er, „ich glaube, jetzt möchte ich dir doch etwas von unserem Hof erzählen.“

*

Libuše hatte den gestrigen Tag für ganz andere Recherchen genutzt. Nachdem ihr Kollege Jochen Dressler das Leben von Holger Klings ehemaliger Frau ausgeforscht hatte, wollte sie mehr über den Windpark erfahren, den Kling durch die Verpachtung seines Landes möglich gemacht hatte. Sie traf sich mit einem Vertreter der Umweltgruppierung „Rinaldo Rinaldini“.

„Herr Deussen“, Libuše setzte sich ihm gegenüber an einen langen Tisch, der mit Zeitungen und Flugblättern übersät war, „ich ermittle im Mordfall Holger Kling. Haben Sie ihn vielleicht zufällig gekannt?“

„Nicht persönlich“, er schüttelte den Kopf, „ich war auch nicht scharf darauf. Wer einzig Geld mit seinem Land verdienen will, ohne sich für die Konsequenzen zu interessieren, der soll mir gestohlen bleiben.“

 

„Sie sind also gegen die Windkraftanlagen?“, wollte Libuše wissen.

„Aber klar bin ich das. Zum einen verschandeln sie die Landschaft. Überlegen Sie mal, hier in Niedersachsen haben wir die höchste Anzahl an Windrädern von allen Bundesländern in Deutschland. Und es kommen ständig neue Windparks dazu. Fahren Sie doch mal die Autobahnen entlang, Windräder hüben wie drüben. Da wird einem angst und bange.“

„Ja“, Libuše nickte zustimmend, „das gefällt mir auch nicht. Doch wie wollen wir denn die Energiewende packen, wenn wir vor den alternativen Techniken zurückschrecken?“

„Aber es ist doch unsere Heimat, die müssen wir beschützen! Wir müssen auch an den Umwelt- und Artenschutz denken. Immer wieder fallen Fledermäuse, Insekten und Vögel den Windrädern zum Opfer. Tausende von Mäusebussarden und auch Schreiadler, Rotmilane, Kraniche zerschellen an den Rotoren. Häufig werden angestammte Brut- und Ruheplätze in Windparknähe verlassen. Und dann der Infraschall! Diese dunklen Töne, die unter unserer Hörschwelle liegen, aber den Körper massiv belasten.“

„Hören Sie auf“, winkte Libuše ab, „Sie haben ja recht! Es ist wirklich ein heikles Thema. Und wir beide“, sie sah den sympathischen, schon etwas angegrauten Umweltschützer an, „werden den Konflikt heute nicht lösen. Haben Sie sich also mit Herrn Kling in Verbindung gesetzt deswegen? Ober ihm vielleicht einen Drohbrief geschrieben?“

„Also ich muss doch sehr bitten“, Frieder Deussen tat beleidigt, „das haben wir gar nicht nötig“, dann schwenkte er um und zwinkerte ihr zu, „wir haben ihm höchstens mal eine kleine Lektion erteilt und ihm einen toten Bussard vor die Haustür gelegt.“

„So, so“, Libuše versuchte ihn streng anzugucken, aber im Grunde gefielen ihr solche Aktionen eigentlich ganz gut, „da sag ich jetzt mal nichts dazu, offiziell habe ich das nicht gehört!“

Libuše blieb hartnäckig: „Wie schätzen Sie die Lage ein, Herr Deussen? Glauben Sie, dass Holger Kling viele Protest- und Drohbriefe bekommen hat?“

Er nickte mehrmals: „Davon bin ich überzeugt!“

„Und könnten Sie sich vorstellen, dass irgendein Umweltschützer so weit gehen würde, Kling umzubringen? Weil er sich vielleicht in die Idee verrannt hat, er schade massiv der Vogelwelt?“

Frieder Deussen schüttelte heftig den Kopf: „Nein, das glaube ich nun wirklich nicht! So weit würde keine seriöse Umweltgruppe gehen. Wenn einer aus diesem Grunde tötet, dann muss er völlig durchgeknallt sein und auch ansonsten nicht mehr einschätzbar.“

„Ja, so ähnlich sehe ich das auch“, pflichtete Libuše ihm bei. Dann fiel ihr noch etwas ein: „Ist Ihnen vielleicht in den letzten Jahren in irgendeinem Zusammenhang ein solch militanter Umweltschützer begegnet?“

„Nein, ganz ehrlich nicht“, erwiderte Deussen, „da brauch ich gar nicht lange zu überlegen. Und wenn so ein Typ wirklich frei herumläuft, dann würde ich mal vermuten, dass er seine Absichten auch nicht in die Welt hinausposaunt.“

„Ja, da liegen Sie gewiss richtig“, sie lächelte den Aktivisten an, „danke, Herr Deussen, das war sehr aufschlussreich, und viel Glück bei all Ihren Aktionen.“

*

Britta überlegte, ob es nicht eine schöne Beigabe für das kleine Programmheft wäre, das sie zu ihrer Aufführung „Der Tanz des Kranichs“ anlässlich des Jubiläums der Kranichhausgesellschaft drucken lassen wollte: ein kleiner Abriss über die Bedeutung des Kranichs in Mythologie und Volksglaube. Allerdings nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit gestaltet, sondern individuell ausgewählt, mit besonderem Augenmerk auf das, was ihr am wichtigsten erschien.

Kaum war die Idee geboren, brannte sie für ihr kleines Vorhaben und machte sich sofort an die Recherche. Im Internet rief sie alle möglichen Seiten über Kraniche auf, ließ sich von Literaturhinweisen und Fußnoten inspirieren, bestellte sich bei Amazon zwei Bücher und fragte auch in der Stadtbücherei nach. Zumeist galt der Kranich als glücksbringender Vogel. Warum eigentlich, fragte sie sich: Der Grund hierfür war möglicherweise seine Gewohnheit, den Winter in wärmeren Ländern zu verbringen und im Frühjahr zurückzukehren und somit den Winter zu verabschieden und Frühling und Sommer, Wärme und Lebensfreude einzuläuten.

Kraniche wurden den griechischen Göttern Apollon, Demeter und Hermes zugeordnet und galten als Symbol für Klugheit und Wachsamkeit. In der ägyptischen Mythologie wurde der Kranich als ‚Sonnenvogel‘ bezeichnet, aber auch als Opfergabe für die Götter verwendet. Im Kaiserreich China symbolisierten die Vögel Weisheit und langes Leben und standen für die Verbindung von Vater und Sohn. Man glaubte, die Seelen der Verstorbenen würden auf dem Rücken der Kraniche in den Himmel getragen. Das war ein eindrucksvolles Bild, fand Britta.

In Japan war die Verehrung der Kraniche schier grenzenlos. Britta stieß auf die Geschichte der kleinen Sadako. Diese war zwei Jahre alt, als 1945 die Atombombe auf Hiroshima fiel. Zunächst schien es ihr nichts anzuhaben, doch zehn Jahre später erkrankte sie an Leukämie. Sie erfuhr von der alten Legende: „Wer 1000 Papierkraniche faltet, dem erfüllen die Götter einen Wunsch.“ Das machte Sadako Mut, und sie begann, Origami-Kraniche zu falten, wann immer sie Kraft dazu fand, denn sie wollte wieder gesund werden. Wenn sie Verwandte und Freunde im Krankenhaus besuchten, so falteten auch sie Kraniche. Nachdem Sadako 500 Papierkraniche fertig hatte, schien es ihr besser zu gehen, doch die Schwäche kehrte zurück, und sie starb. Sadako hatte 644 Kraniche (Eine andere Lesart ist, dass es sogar bis zu 1600 Papier-Kraniche waren.) gefaltet. Viele Menschen in Hiroshima trauerten um sie und um all die anderen betroffenen Kinder und sammelten Spenden für ein Denkmal. Drei Jahre nach Sadakos Tod wurde das Kinder-Friedens-Denkmal genau an der Stelle in Hiroshima errichtet, an der die Bombe einschlug. Es zeigt Sadako, die einen Origami-Kranich zum Himmel emporhebt. Ihre Mitschüler gründeten den „Club der Papierkraniche“, falteten Kraniche und zogen sie zu Ketten auf, die sie über das Denkmal hängten oder zur Ermutigung anderen kranken Menschen sandten. Seither schicken jedes Jahr Kinder aus aller Welt ihre gefalteten Kraniche nach Hiroshima zum Gedenken an Sadako und als Mahnung vor einem Atomkrieg.

Diese Geschichte berührte Britta tief. Dennoch wurde es ihr allmählich zu viel mit all den guten Bedeutungen. Sie war neugierig geworden, besonders eingedenk der Morde, die gerade passiert waren, wollte sie wissen, ob Kraniche auch irgendwo als Vorboten von Unheil aufgefasst wurden. Da brauchte sie nicht lange zu suchen.

In der keltischen Mythologie waren Kraniche Ausdruck von Ungastlichkeit und Geiz, sie sollen auf dem Dach Midirs gesessen haben und Besucher mit den aufmunternden Worten „Geh weg!“, „Vorbei am Haus!“ oder „Komm nicht!“ begrüßt haben. Hätte der Ermordete doch nur von dieser Warnung gewusst. Auch dachten die Kelten, wer einen Kranich ansehe, könne im Kampf nicht mehr siegen. Deshalb schmückten häufig Kranichmotive ihre Schilder und Waffen.

Britta fragte sich, ob eine dieser Bedeutungen im aktuellen Mordfall eine Rolle spielte.

*

Kommissar Frank verließ das Krankenhaus, mechanisch ging er zu seinem Wagen, setzte sich hinein und holte erst mal eine Zigarette aus der Schachtel. Er hatte wirklich aufhören wollen, aber jetzt musste es einfach sein. Eine Drohne, dachte er, dass ich darauf nicht früher gekommen bin. Kann das denn sein? Er musste sich dringend informieren. Musste sich beraten lassen, was denn so ein Flugkörper alles konnte, ob es neue Prototypen gab? Und vor allem wie weit deren Reichweite war, wo sich also der Drohnenführer aufhalten musste, ganz in der Nähe oder wie groß sein Spielraum war? Und sollte es eine Kampfdrohne gewesen sein, dann musste er wohl eher bei der Bundeswehr nachfragen. Irgendwie fühlte er sich, als habe er eine persönliche Niederlage erlitten. Er konnte das Gefühl nicht lokalisieren, war er wirklich so naiv, dass er ernsthaft an diese Kranich-Geschichte geglaubt hatte?