Kraniche über Otterndorf

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Liz lief ein Schauer über den Rücken, diese Geschichte verlieh dem Mord natürlich ein ganz anderes Gesicht. Es war nun klar, dass der Zeitpunkt der Tat genau geplant war und dass der Mörder die Sage kennen musste und wahrscheinlich irgendetwas mit dem Kranichhaus zu tun hatte. Vielleicht war er in Otterndorf aufgewachsen, oder zumindest hatte er eine Weile dort gelebt, oder er lebte immer noch da. Nie und nimmer war das ein echter Kranich gewesen, sie hatte es gleich nicht glauben wollen.

In ihren Gedanken begann bereits ein vorläufiges Profil des Mörders zu entstehen. Doch immer wieder musste sie an den Kommissar denken, vielleicht sollte sie auch einmal ein Profil von ihm erstellen. Schon immer fand sie es aussagekräftig, wie ihr Gegenüber sich kleidete. Zwar konnte das auch zu Klischeeurteilen verleiten, doch selbst wenn es sich um Berufskleidung handelte, gab es immer ein kleines individuelles Detail oder ein Schmuckstück, eine besondere Art, einen Schal zu tragen, ein rasanter oder biederer Haarschnitt. Aber erst die private Kleidung sagte dann wirklich einiges über ihren Träger aus. Wenn sie sich nun Hartmut Frank anschaute, sein ganzes Erscheinungsbild: gemäßigt salopp, um Himmels willen nichts Übertriebenes, gepflegte Jeans, schwarz oder dunkelbau, niemals den gängigen rauen Jeansstoff, helles Hemd und dunkles Jackett. Hier konnte man nur zu der Beurteilung kommen: Ein Mensch, der Wert auf Äußeres legt, aber auf keinen Fall auffallen will, entweder er war auch innerlich mausgrau-blau-schwarz, oder es war eine Deckfarbe. Bei diesem Gedanken musste sie grinsen, sie vermutete ja Letzteres, sonst hätte sie ihr Interesse an ihm ganz schnell verloren. Dennoch waren diese analytischen Beobachtungen Teil ihrer Berufskrankheit. Sie sollte sich jetzt aber wirklich stärker auf das Profil des Mörders konzentrieren, zumal sie sich gerade erst entschlossen hatte, definitiv einen Raubvogel auszuschließen.

*

Kommissar Frank ließ seinen Kollegen und die Falknerin in der Gaststätte zurück, sie würden bestimmt einen angenehmen Abend haben. Er wollte allein sein. Beinahe hatte er seinen Wagen schon zu Hause eingeparkt, da folgte er einem Impuls und fuhr bis zum Strand hinunter. Hier stellte er das Auto ab und schlenderte den Sahlenburger Deich entlang. Vorbei an Hotels und Ferienwohnungen, das Restaurant „Wattenkieker“ war eine kurze Versuchung, doch er passierte das kleine Kurzentrum, den Hundestrand, und endlich gab es einen Abschnitt ohne Strandkorb und zumindest in diesem Moment auch ohne Menschen.

Er atmete erleichtert auf, schloss die Augen und sog tief die raue Nordseeluft ein. Kühl, frisch, würzig, nirgends sonst auf der Welt roch es genau so. Nach ein paar Atemzügen entspannte er sich und musste lächeln. Langsam ging er zum Strand hinunter. Ein gutes Gefühl, keinen Asphalt mehr unter den Füßen zu spüren. Sand kam in seine Schuhe. Er setzte sich auf den Boden, zog sie aus, stopfte die Strümpfe hinein und verknotete die Schnürsenkel so, dass er die Schuhe bequem tragen konnte. Dann hatte er doch keine Lust weiterzugehen. Er blieb einfach sitzen. Und schaute auf die Nordsee.

Die Flut kam zurück, die leise rollenden Wellen bereiteten den Weg für die heftigeren Wogen. Das Rauschen des Wassers vermischte sich mit dem des Windes. Kleine Schaumkronen bildeten sich und wurden von immer neuen Wogen überrannt … Die Sicht war gut, Hartmut konnte den Leuchtturm der Insel Neuwerk sehen, und abendliche Vogelschwärme zogen am Himmel ihre Bahn. Und schon war es vorbei mit seiner Entspannung. Der Kranich!

Eigentlich hatte er am Strand ein bisschen Erholung gesucht, wollte sich für ein paar Minuten ablenken. Länger hatte es aber auch wirklich nicht gedauert, bis er schon wieder bei seinem Kriminalfall gelandet war. Noch weigerte er sich, vollends einzusteigen, und ließ seine Gedanken schweifen, sie folgten den Wellen, den Wolken, dem Flügelschlag in den Lüften. Doch es schoben sich immer wieder unschöne Bilder des Ermordeten dazwischen, und er geriet in diesen besonderen Bewusstseinszustand, den er vor Kurzem zum ersten Mal an sich erfahren hatte. Halbwach fühlte er sich dabei, mit leicht getrübter Wahrnehmung, dennoch war er fähig zu denken, körperliche Bewegung fiel ihm allerdings schwer. Eindrücke kamen und gingen, manchmal tauchten auch Worte dazu auf. Und dann dichtete er, aber auf eine ganz besondere Weise. Er reihte nicht einfach lyrische Worte und Empfindungen aneinander, nein – es vermischten sich zwei Welten in ihm, er nahm die Natur ringsum in sich auf, ließ aber auch die Überlegungen zu seinem gegenwärtigen Mordfall gleichberechtigt danebenstehen. Er bevorzugte momentan das 17-silbige japanische Haiku, und er fand, dass es gut zu gefalteten Vögeln passte. Innerlich jonglierte er mit Ausdrücken und Eingebungen, verkürzte hier, schob da ein Wort dazu.

Kreisen in der Luft.

Ein Schrei, Blut und Federn,

Origami-Kranich.

Es war ein erster Versuch, und dabei interpretierte er die Form des Gedichtes großzügig, hielt sich lediglich an die 17 Silben, nicht an die Formation 5–7–5. Er holte sein Diktiergerät aus der Jackentasche und sprach den Text hinein.

Die Kraniche fliegen gen Süden

Nur einer

Bleibt einsam zurück.

Obwohl dieses Haiku auf den ersten Blick kaum etwas mit seinem Fall zu tun hatte, spürte er intuitiv, dass ihm doch eine Bedeutung zukam, nur wusste er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht welche.

Er befühlte den Sand neben sich, ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln, schloss die Augen: Sand, Salz, strömendes Meerwasser, die Bilder wechselten, ein Kranich, der davonflog, Blut tropfte aus seinem Mund, die Kirchturmuhr schlug, ein grausiges Surren. Wieder strich seine Hand über den Boden, griff zu und presste den Sand jetzt fest zusammen, ein schneidender Schmerz, er hatte eine Muschel zerquetscht, die tief ins Fleisch schnitt. Blut zu Blut. Immer noch war er nicht ganz aus seiner Versunkenheit erwacht … und wie von Ferne hörte er sich murmeln …

Krarr … krruh … krarr … krruh

Stirb du, stirb du,

ich wache,

und mein ist die Rache.


Schatten über Fort Kugelbake

Von der Nordsee her flog ein dunkles Etwas auf die Kugelbake zu. Mit breiten, dunklen Schwingen näherte es sich dem Festland, ein Schatten zeichnete sich bedrohlich ab auf dem Strand. Hinter der Bake und dem Seedeich gelegen, umrunden Wald, Grasflächen und ein Wassergraben das fünfeckige Areal. Wie ein grüner, antik geschliffener Diamant sieht es von oben aus – das Fort Kugelbake, die Marinefestung an der letzten Landspitze vor der Elbmündung. Auch die Cuxhavener entschlossen sich zu der beliebten Form des Pentagons für die militärische Einrichtung, ein Bollwerk der Sicherheit und Verteidigung an strategisch günstiger Position. Der Vogel in den Lüften verlangsamte seinen Flug, kreiste mehrmals über dem Fort, so als suche er etwas.

Thorsten Bleibtreu hatte heute schon seine dritte Führung hier gebucht. Und das nicht ohne Grund. Er führte einen kleinen Verlag und gab die Zeitung „Der Nordsee Bote“ heraus. In der nächsten Ausgabe wollte er einen Artikel bringen über den größten Schweinwerfer der Welt, den das Fort kurz vor dem Ersten Weltkrieg beherbergt hatte. Das war doch eine lohnende Geschichte. Nur leider nervten die Leute aus der Besuchergruppe. Seit dem Abstieg in die geheimnisvollen Kasematten hatte sich ein kleiner Junge an seine Fersen geheftet und fragte ihm Löcher in den Bauch. Nur mit Mühe blieb Bleibtreu freundlich.

„Was hat der Mann eben gesagt, hier war irgendwann eine Jugendherberge gewesen, da merkt man aber nichts mehr davon?“

„Das ist doch schon ewig her“, wollte Thorsten den Kleinen abwimmeln.

„Was heißt denn ewig?“

„Wo sind denn deine Eltern?“

Doch der Junge ließ sich nicht ablenken und schaute ihn fragend an.

„Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, da haben zwei Flüchtlingsfrauen damit angefangen.“

„Gab es da auch schon Flüchtlinge?“

„Ja, aber andere.“

„Was heißt denn andere?“

Zum Glück versammelte der Leiter der Gruppe alle Besucher um sich und erzählte über die Kanonen und ihre Munition. Und Thorsten Bleibtreu scherte heimlich aus in einen der unterirdischen Räume, den sie gerade passiert hatten. Gewundene Decke, Wände, an denen die Farbe verblichen und abgeblättert war, zwei große rostige Öfen mit herausgebrochenen Teilen. Muffiger Geruch. Aber … endlich allein! Wo war denn nun der Raum, in dem der Scheinwerfer gestanden hatte? Er wählte den nächsten Gang, entfernte sich immer weiter von den Stimmen der anderen.

Endlich stand er in dem Gewölbe, erkannte es wieder. Der Raum war höher als die vorigen, hatte er doch während des Krieges einem Riesenscheinwerfer Platz bieten müssen, der auf Schienen an diese Stelle geschoben wurde, damit er seine Leuchtkraft entfalten konnte – viereinhalb Kilometer weit. Rundbögen, verrostete Befestigungen in den Ecken, Balken unter der Decke und, wenn man den Kopf hob, großflächig unterteilte Fenster und darüber nur noch der Himmel.

Der gespenstische Vogel zog weiterhin seine Kreise über der Festung, etwas hinderte ihn aber daran, hinunterzufliegen. Waren es vielleicht die Linien des Pentagons, die ihn zurückhielten, die er plötzlich im Innern des Fünf­ecks wahrnahm und am eigenen Leibe spürte? Ein Anflug über den normalen Eingang war ihm nicht möglich. Er musste von der umgekehrten Seite kommen. Dort sah er eine kleine Schneise, die Linie war unterbrochen, eine Lücke offenbar von einem Mader frei gebissen. Scharfes Flügelrauschen wie höhnisches Lachen. Und über Thorsten Bleibtreu gab es nicht länger nur den Himmel.

 

Er war so versunken in seine Arbeit, machte sich Notizen und fotografierte, da verdunkelte sich die Sonne und er entdeckte den Vogel, der sich auf das Dachfenster gleiten ließ. Beinahe sah er aus wie ein Kranich, nur die Augen waren anders, sie blitzten ihn an, grell und unerbittlich. Ein kräftiges Kopfnicken genügte, dass das Fenster in etliche Stücke zersprang, der spitze Schnabel hatte ganze Arbeit geleistet. Thorsten Bleibtreu rannte panisch in den Gang hinaus und geradeaus weiter. Das fremdartige Etwas flog hinterher. Thorsten versuchte seinen Verfolger in die Irre zu führen, schlug Haken, versteckte sich in einer Nische. Das war keine gute Idee. Der Vogel schien ihn überall aufzuspüren, als hätte er seine Witterung aufgenommen. Thorsten presste sich an die kalte feuchte Wand, hielt den Atem an, weil er glaubte, sein stoßweises Luftholen würde ihn verraten. Zuerst tat sich gar nichts. Doch plötzlich schob sich der scharfkantige Schnabel langsam vor die Öffnung, dann sah er ein paar zerrupfte Federn und schließlich das alles versengende Augenpaar. Thorsten wusste, das war das Ende, das grausige, unwiderrufliche Ende. Wie in Zeitlupe drehte der Vogel seinen Kopf zu ihm herum …

„Hilfe“, schrie Thorsten voller Todesangst, „so helft mir doch!“

Doch der dunkle Tanz der Krallen und Flügel und des gierigen Schnabels war nicht mehr aufzuhalten.

*

„Wer hat denn da geschrien?“, fragte ein älterer Herr beunruhigt. Allen war der Hilferuf durch Mark und Bein gefahren. Und zwei Leute stürmten in den Gang, aus dem der Schrei gekommen war.

„Stopp!“, rief der Leiter der Besuchergruppe, „bitte bewahren Sie Ruhe. Wir sollten uns auf keinen Fall trennen. Keine übereilten Aktionen. Wer fehlt denn?“

„Eddi ist nicht da“, schrie voller Angst die Mutter des kleinen Jungen, mit dem Thorsten sich unterhalten hatte. Ihr Mann legte den Arm um sie: „Du kennst ihn doch, er will immer alles genau wissen. Er ist bestimmt noch in dem Raum, in dem wir vorher waren.“

„Und der Mann, der sich so für den Schweinwerfer interessiert hat. Der ist auch nicht mehr hier“, stellte eine Frau fest.

Jetzt hatte die Angst alle erfasst. Dieser Schrei war so entsetzlich gewesen, und nun fehlten zwei Personen.

„Bleiben Sie hier“, sagte der Leiter und ging zurück in den vorigen Raum und kam schließlich zur Gruppe zurück; „Okay, nebenan ist niemand mehr, wir folgen nun alle gemeinsam dem Gang, in den die beiden eben gerannt sind.“

Gar nicht so weit entfernt in einem anderen Gang hatte der kleine Eddi gerade das Schlimmste gesehen, was ihm je vor Augen gekommen war, kein Videospiel, kein Horror-Thriller konnte damit konkurrieren. Wie gelähmt stand er da. Und plötzlich erhob sich dieses Knäuel aus Federn und Blut und drehte sich zu ihm um. Eddis Pupillen weiteten sich, er sah einen Vogel mit stechenden Augen. Weg, nur weg hier, doch seine Füße schienen am Boden zu kleben, oh nein, er wollte kein Held mehr sein, nicht über böse Mächte siegen, er wollte nur weg. Endlich löste sich die Starre, und er rannte los, rannte so schnell wie noch nie im Leben. Die Deckenbeleuchtung flackerte und drohte ganz auszugehen, aber da war ja seine Stirnlampe, die er unbedingt auf diesen Erkundungstrip ins Fort Kugelbake hatte mitnehmen wollen. Wie ein Höhlenforscher hatte er sich damit gefühlt. Jetzt beleuchtete sie ihm den Weg.

Er hatte schon einen kleinen Vorsprung, da hörte er den Flügelschlag und ein seltsames Krächzen immer näher kommen. Er würde ihm nicht entkommen. Jetzt war Eddi wieder in der Munitionskammer mit den Reihen aufgestapelter Fliegerübungskanonen. Er bückte sich und schlüpfte unter die eine Reihe, drückte sich ganz in die Ecke, knipste seine Lampe aus. Und es funktionierte … der Vogel flog durch den Raum und verschwand im Gang. Erleichtert atmete Eddi auf und traute sich ganz langsam wieder hinter den Kanonen hervor. Zu früh gefreut, der Vogel hatte seinen Irrtum erkannt und kam zurück, flog direkt auf ihn zu. Er war genauso groß wie Eddi und schaute ihn mit großen forschenden Augen an, als überlege er etwas oder lausche einer fernen Botschaft. Eddi war jetzt ganz ruhig geworden, aus unerfindlichen Gründen hatte er plötzlich keine Angst mehr. Der Vogel schloss für einen Augenblick seine Augen und machte dann kehrt und flog aus dem Raum.

Als Eddis Eltern und die anderen Teilnehmer der Gruppe den Jungen fanden, stand er immer noch an derselben Stelle und hielt eine schwarze Feder in der Hand.

*

Er machte seine Sache gut, Britta hatte es sofort gewusst, als sie sich am ersten Abend die Hand gegeben hatten. So sperrig und zurückhaltend Robert Alsfeldt im Umgang war, so fließend und sicher waren seine Bewegungen beim Tanzen. Er schien die anderen dabei zu vergessen und gab sich ganz dem Augenblick hin. Fast bedauerte Britta, dass sie nicht mitspielte und den weiblichen Hauptpart übernommen hatte, denn es kristallisierte sich schnell heraus, dass Robert den Kranich Blacky darstellen würde, der sich sehnsuchtsvoll in Liebe verzehrte. Sie musste schmunzeln, Blacky passte auch wirklich zu ihm, da er sich stets dunkel kleidete. Doch würde er sich je nach Liebe verzehren …?

Sie fühlte sich beobachtet und wäre fast rot geworden bei dem Gedanken, dass Robert sie heimlich anschaute. Langsam hob sie den Kopf, sah in die Richtung, aus der dieser Impuls kam, und erschrak, Pieter Neukamp war es, der sie fixierte. Ernst sah er sie an, lächelte aber, nachdem er ertappt war. Die kleine Enttäuschung steckte sie schnell weg und musste jedoch zugeben, dass ihr auch der andere Neue durchaus sympathisch war. Nur Petra, die hatte ihre Tücken. Sie sah hübsch aus und war von daher zur Primaballerina prädestiniert, aber ihre Ballettstunden lagen schon Jahre zurück, und ihr Tanz war nicht gerade ein Augenschmaus. Robert mühte sich redlich, ihre Defizite wettzumachen. Alle waren besonders nett zu ihr, und das war kein gutes Zeichen. Denn niemand wollte sie verletzen.

„Petra“, rief Britta, „Moment mal, hier würde ich einen Ausfallschritt machen und dann eine weiche Beugung und die linke Hand ganz langsam nach vorne.“

Obwohl sie nicht für ihn bestimmt war, befolgte Robert sofort ihre Weisung und deutete die Bewegungen an, doch Petra wurde immer nervöser und schaute sie verständnislos an. Da blieb ihr ja wirklich nichts anderes übrig. Sie ging hinauf zur Bühne: „Lass mich mal probieren.“ Sie nickte Robert zu, der sofort verstand, und beide tanzten aufeinander zu, es war, als neckten sie sich, lockten und versteckten sich, umspielten einander und endeten beide mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Zunächst herrschte totale Stille im Saal, dann klatschten alle ganz wild, und auch Petra applaudierte mit und sagte ganz erleichtert: „Das war einfach wunderbar, genau so muss es sein, und sind wir mal ehrlich, so bekomm ich das nicht hin. Also“, sie machte eine Kunstpause, „du musst die Herzensdame spielen, Britta.“

Britta stand irritiert da. Schon fielen die anderen in den Sturm der Begeisterung ein, aber erst als Robert leise sagte: „Sie haben recht, nur du kannst das spielen“, gab sie sich geschlagen.

Nach der Übungsstunde musste sie sich erst einmal erholen, sie fühlte noch Roberts flüchtige Berührung auf ihrem Handrücken und glaubte, noch nie ein solches Kribbeln gespürt zu haben. Ihre Verwirrung blieb den anderen nicht verborgen, wurde aber auf das Tanzen bezogen. Nur Pieter Neukamp betrachtete sie so forschend, als könne er ihre Gedanken lesen.

Beim Hinausgehen verlangsamte sie mit Absicht ihren Schritt, bis Robert neben ihr war. Ihr plötzlich so nah zu sein erschreckte ihn, und da der Abstand zu den anderen immer größer wurde, hatte er das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch ihm fiel kein einziges Wort ein. Britta ging es kaum besser. So liefen sie stumm nebeneinanderher, fühlten sich befangen und trotzdem wunderbar. Auf dem Parkplatz setzte sie ihren Helm auf, und er wusste, dass ihm nur noch wenige Sekunden blieben.

„Kaffee“, murmelte er.

„Was“, Britta beugte sich zu ihm herüber, hatte sie ihn richtig verstanden: „Also um diese Zeit macht mich das zu wach“, sie lächelte, „aber tagsüber gerne. Morgen vielleicht um zwei?“

Er nickte erleichtert. Wieder standen sie sich stumm gegenüber. Ach ja, sie mussten ja noch ausmachen, wo sie sich treffen wollten, dachte er, nur nicht mitten im Ort: „Was hältst du vom ‚Elbblick‘, draußen an der alten Schleuse?“

Der Vorschlag war ungewöhnlich, weil das Lokal doch etwas abseits lag. Britta hätte eher das „Café Zaubernuß“ im Ort vorgeschlagen, aber warum nicht, sie nickte.

„Gut“, sagte er, „und … nenn mich doch Rob.“

*

Längst war das gesamte Areal von Fort Kugelbake abgesperrt, und Spurensicherung, Mediziner und Polizei waren bei der Arbeit.

„Schon wieder so ein brutaler Mord“, stöhnte Amelung und steckte das angebissene Fischbrötchen in die Tüte zurück, selbst ihm war der Anblick auf den Magen geschlagen, und das wollte etwas heißen.

Kommissar Frank klopfte sich den Staub von der Jacke, er hatte nie vorgehabt, sich dieses alte Fort anzusehen, so etwas interessierte ihn gleich null. Und jetzt musste er doch in diese Stollen steigen und die Ausdünstungen von Krieg und Verteidigungsstrategien einatmen und sich die Leiche anschauen, der auch zu Lebzeiten keinerlei Verteidigung mehr genützt hätte. Das sah man auf den ersten Blick. Schon wieder so ein Gemetzel. Und blutbespritzte Wände. Und dieser tapfere kleine Junge, der dem Vogel knapp entkommen war. Unfassbar.

Überall wimmelte es von Menschen, die ihren Teil der Ermittlungen durchführten. Hartmut kam sich plötzlich so überflüssig vor und entfernte sich von dem Trubel, zog sich in einen der ruhigeren Räume zurück. Dann kam ihm ein Gedanke, und er näherte sich ganz langsam wieder dem Fundort des Toten, hatte dabei das gesamte Geschehen im Blick. Er registrierte nichts Auffälliges. Er zwängte sich an den Spurensicherungsleuten vorbei und bewegte sich von der anderen Seite auf den Tatort zu. Da war es! Ein Adrenalinschauer jagte über seinen Rücken. Ein Raubvogel – von wegen! Zwischen zwei kleinen Steinen, beinahe an der rechten Wand lag das Papierknäuel, diesmal war es blau.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man in den Bannkreis des Mordes eintrat, noch ein weiterer Schritt, und es gab kein Zurück mehr. Seine innere Stimme formulierte manchmal solche pathetischen Worte, die er niemals aussprechen würde, weil sie dann banal und kitschig klangen, und wer wollte sich schon dem Spott seiner Kollegen aussetzen. Doch wenn er sie für sich behielt, brannten sie in ihm wie ein warnendes Feuer.

Er zog seine Handschuhe über, fasste das Papier an der äußersten Spitze an und betrachtete es von allen Seiten. Wieder ein Origami-Kranich, fast identisch mit dem ersten in Größe und Form, aber eben nicht in der Farbe. Der erste war gelb, dieser hier blau, kein leuchtendes Blau, eher ein gedecktes. Hartmut ließ den Vogel befriedigt in einen Plastikbeutel flattern.

Er hatte, was er wollte. Und er ließ die weitere Tatortbegehung wie einen Film vor seinen Augen ablaufen, zwar traf er Anordnungen und schaute hier und da nach dem Rechten, doch in Wirklichkeit hatte er sich längst aus dem Geschehen herausgezogen, und sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Schließlich winkte er den neuen Assistenten der Spurensicherung zu sich heran: „Hier“, er reichte ihm den Plastikbeutel mit der Faltfigur, „sorgen Sie bitte dafür, dass das so schnell wie möglich untersucht wird. Und dann muss es ganz flott wieder auf meinen Schreibtisch!“ Die Origamifiguren waren die Sprache des Mörders, man musste sie nur zu entschlüsseln wissen.

*

Henriette hatte die beiden beobachtet. Und all ihre Antennen standen auf: ‚Hab Acht!‘ Gerade als Britta sich auf ihre Vespa schwingen wollte, trat sie aus den Achtern Diek Hallen und rief ihr zu: „Sag mal, da bahnt sich doch was an? Oder täusche ich mich?“

Britta tat überrascht: „Wo denkst du hin?“ Doch schon strahlte sie übers ganze Gesicht. „Na ja, irgendwie gefällt er mir.“

„Da hab ich ja auch nichts dagegen, aber findest du ihn nicht irgendwie suspekt?“

„Suspekt“, überlegte sie, „nein, das finde ich nicht.“

„Also ich hab das Gefühl, er hat etwas Düsteres, beinahe schon etwas Unheimliches. Wenn du mit etwas anderem beschäftigt bist, sieht er dich manchmal so intensiv an, beobachtet genau, was du tust und sagst, und schaut dann schnell weg, wenn ihn jemand ansieht. Also irgendwie ist der nicht ganz koscher, glaub mir, ich hab ein Gespür für so was.“

„Seltsam, das kann ich gar nicht nachempfinden.“

„Bitte, Britta, pass wenigstens auf, wenn du allein mit ihm bist oder dich gar mit ihm triffst. Versprich mir das!“

 

Britta schmollte, eben noch hatte sie sich so gut und leicht und auch ein bisschen beschwingt gefühlt. Widerwillig nickte sie: „Okay, ich pass auf.“ Doch nun hatte sich das Misstrauen auch bei ihr festgesetzt.

*

Kommissar Frank verließ den Tatort, besser gesagt, er machte sich heimlich davon. Er wollte in Ruhe nachdenken. Zunächst hatte er vor, zum Wernerwald rüberzufahren, wo es einige verschwiegene Stellen gab, die sich gut dafür eigneten. Aber sein Wagen schien die Führung zu übernehmen, und wie von selbst schlug er den Weg zum Fährhafen ein. Seit wann folgte er einfach seinem Gefühl, doch Hartmut wunderte schon gar nichts mehr, er stellte sein Auto auf dem Parkplatz gegenüber dem „Best Western“ ab und betrat das Hotel. Liz logierte im ersten Stock und der Kommissar bat die Dame an der Rezeption, ihn nicht anzumelden. Irgendwie schien es ihr unangenehm zu sein, aber er war bereits die Treppe hochgesprintet.

„Herein“, es klang zögernd. Liz öffnete die Tür nur einen Spalt weit. „Ah, hoher Besuch“, sie grinste und ließ den Kommissar eintreten.

„Ich hoffe, ich störe nicht …“, doch sein Blick blieb am Bett hängen, das übersät war mit Blättern und Landkarten. Er nickte anerkennend: „Sie arbeiten wohl auch immer?“

„Bei mir wechseln sich stets Phasen des flächendeckenden Nichtstuns mit denen ab, wo mir selbst Schlaf als Zeitvergeudung erscheint.“

„Ist das schon eine Kurzcharakteristik von Ihnen … von dir?“

„Das ist doch nicht dein Ernst, so leicht bin ich nun wirklich nicht zu durchschauen. Du musst schon selbst herausfinden, mit wem du es zu tun hast.“

Er kratzte sich am nicht vorhandenen Bart, es sollte nachdenklich wirken, übertünchte aber nur seine Verlegenheit. Er rettete sich in Tatsachen: „Wir haben einen neuen Mord!“

„Was?“, ihre Stimme klang beinahe schrill. Sie griff nach ihrer Jacke, die über dem Stuhl hing, und wollte los.

„Nein“, fast war es ihm peinlich, warum hatte auch niemand daran gedacht, Liz Bescheid zu sagen, „ich komme gerade von dort. Das macht jetzt nicht mehr viel Sinn.“

Ärgerlich blitzte sie ihn an: „So können wir wirklich nicht miteinander arbeiten. Wenn Sie mich nicht einbeziehen, steige ich aus.“ Sie stand da wie ein schmollendes Kind. Hartmut fühlte sich schrecklich.

„Du hast völlig recht, so geht das nicht. Ich entschuldige mich. Wir sind es einfach nicht gewohnt, dass wir eine Profilerin im Team haben.“ Betreten schaute er auf seine Schuhe. Dann setzte er zaghaft hinzu: „Jetzt hast du aber Sie gesagt.“

Da musste sie fast lächeln: „Wir haben uns alle noch nicht so recht aneinander gewöhnt.“

Er streckte ihr die Hand entgegen: „Frieden?“

„Abgemacht!“, sie schlug ein.

Als sich ihre Hände berührten, blitzte ein Licht auf und war gleich wieder verschwunden. Beide starrten sich an. Da war vom Parkplatz lautes Motorengeheul zu hören, und sie atmeten erleichtert auf, nicht ihre Berührung hatte Funken geschlagen, sondern ganz banales Scheinwerferlicht. Dennoch wurde es Hartmut etwas mulmig hier in diesem Zimmer, in dem eindeutig das Bett dominierte.

„Irgendwie müsste ich etwas essen, die Küche soll hervorragend sein hier im Hotel. Wollen wir ins Restaurant gehen?“

„Ist vielleicht keine schlechte Idee“, stimmte Liz zu.

Sie verließen das Hotelzimmer, und erst im Flur fiel es Liz wieder ein: Das Restaurant war im sechsten Stock. Und sie litt an Höhenangst.

*

Lohmeier, der Fuchs, hatte seine helle Freude an dem neuen Opfer. Sein Beruf war nur mit einer gehörigen Portion Zynismus – ob gespielt oder echt, hatten seine Kollegen bis heute noch nicht herausgefunden – und einer gewissen Schnodderigkeit zu ertragen. Die Leiche war beinahe noch schlimmer zugerichtet als das vorherige Opfer, und die Todesursache lag klar auf der Hand. Doch dadurch, dass die Wunden tiefer waren, förderte er einige interessante Details zutage. Neben Schmutz, Federn und Blut fanden sich an drei Stellen winzige Metallpartikel in der Wunde. Sie mussten untersucht werden.

Lohmeier inspizierte die Leiche mehrmals von Kopf bis Fuß, er wusste nicht genau, nach was er noch suchte. Aber er hatte einen Verdacht, ein bestimmtes Gespür. Etwas fehlte ihm. Was gab es bei dem vorigen Mordopfer, was bei diesem fehlte? Endlich fiel es ihm ein. Das hochmoderne Hörgerät! Das war es!

Kein Wunder, dass er nicht fündig geworden war. Denn am nackten Körper gab es nichts Auffälliges mehr. Aber bei den Sachen, die der Tote am oder auf dem Leib getragen hatte, da musste etwas dabei sein. Er besah sich noch einmal all die Gegenstände und Kleider, die man von dem Ermordeten sichergestellt hatte. Den Schlüssel­anhänger untersuchte er genau. Dann fiel sein Blick auf die Fitness-Armbanduhr. Fuchs Lohmeier lachte laut auf, er hatte gefunden, was er gesucht hatte.

*

„Ach, ich weiß gar nicht, ob ich etwas essen kann“, sagte Liz leise, als sie vor dem Aufzug standen.

Hartmut überhörte den bittenden Unterton: „Wenn du erst mal gebratene Zwiebeln und Pilze und ein Steak riechst, wird dir schon das Wasser im Mund zusammenlaufen. Oder bist du Vegetarierin?“

Die Aufzugstür öffnete sich, Hartmut stieg ein, und wie in Trance folgte ihm Liz. Im Lift starrte sie einzig auf die Etagenanzeige: 2–3–4–5–6. Die Ziffern verschwammen vor ihren Augen, Schweiß trat ihr auf die Stirn, doch konnte sie das Schwindelgefühl noch unter Kontrolle bringen. Als sie im sechsten Stock ausstiegen, war sie erst einmal froh, aus der engen Kabine zu kommen, hielt sich am Geländer fest und atmete mehrmals tief ein und aus. Frank warf ihr einen besorgten Blick zu. Nichtsdestotrotz ging er zum Restaurant voraus. Liz nahm Anlauf und machte ein paar Schritte auf die Tür zu, da blieb ihr Blick an den prämierten Schinken und Lendenstücken hängen, die in Glasschränken an der Wand von der Güte der Fleische­reiprodukte des Hauses kündeten, und nun wurde ihr doch schlecht. Sie sah sich nach dem Kommissar um, doch der war bereits im Lokal verschwunden.

Liz nahm all ihren Mut zusammen und betrat das hochgelobte Feinschmecker-Restaurant. Von einem Fensterplatz aus winkte ihr Hartmut zu. Sie versuchte es mit aufrechtem Gang, aber bei den letzten Schritten stolperte sie. Lügen haben kurze Beine, dachte sie und ließ sich auf den Platz gegenüber von Hartmut sinken. Dieser hatte nun endlich bemerkt, dass es seiner Begleiterin gar nicht gut ging.

„Was ist denn los? Bist du krank?“, fragte er eindringlich. Was immer es war, er wollte ihr ritterlich zur Seite stehen.

Mittlerweile ganz bleich geworden, stammelte sie nur: „Bitte einen Aquavit.“

Hartmut sprang auf und eilte an die Bar: „Bitte bringen Sie uns ganz schnell zwei Aquavit. Nein, besser ich nehme sie gleich mit!“

„Linie, Malteserkreuz oder Bommerlunder?“, fragte der Mann hinter der Bar.

„Völlig egal, dann nehmen Sie Linie.“

Auf einem kleinen silbernen Tablett brachte er die beiden eisgekühlten Gläschen mit goldschimmerndem Inhalt zurück zu ihrem Tisch. Liz fackelte nicht lange, griff sich eins und stürzte die Flüssigkeit hinunter. Frank zog eine Augenbraue nach oben, dachte bei sich, nicht schlecht, die Dame ist trinkfest. Und bestellte nun auch noch zwei Bommerlunder und zwei Malteserkreuze. Als alle Gläser geleert waren und Liz sich gerade von einem unbeabsichtigten Blick aus dem Fenster auf den Deich hinunter erholt hatte, flüsterte sie: „Ich hab Höhenangst. Bitte lass uns gehen.“

Hartmut starrte sie an, bevor er begriff, aber dann reagierte er schnell, legte einen Geldschein auf den Tisch, kam zu ihr herüber, hakte sie unter, und ab ging’s zurück zum Lift. „Wohin? In dein Apartment?“