Leipzig

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Mit einem Gedankenstrich brach ihr Brief ab.

Sein Betriebsessen koste inzwischen sechzig Pfennige, der Nachbar werde die Wiese hauen, vorausgesetzt das Wetter ist danach, und wenn er heimkomme, werde Hannes von Berlin zurück sein.

»Nun erhole dich recht gut, schlafe viel, gucke dir die Frauen an und sage, ob es eine ›bessere‹ gibt.«

Es war das einzige Mal, dass er in Mutters Herz so hineinsah.

Das Bezirkssportfest der Fachschulen war vorbei. Hannes hatte für den Speerwurf Ehrenburgs Sturm überreicht bekommen, einen Tausendseitenroman. Der Weltrekord, den ein Amerikaner warf, war doppelt so weit. Ferienhelfertätigkeit in Prerow schloss sich an, die im Regen versank. Der Strand menschenleer, weiße Kämme auf den Wellen, der Himmel grau, und in diesem Grau schienen sich Himmel und Wasser aufeinanderzuzubewegen. Regenschauer rauschten auf die großen grauen Zelte, wie Friedhelm sie von früher kannte.

Die neue Zeit hatte begonnen, und die vielen Kinder, die in die Lagerbücherei drängten, gehörten dazu.

»Eine zweite Belegung möchte ich nicht bleiben, trotz reichlich Essen und Kultur. Es gibt was, das wertvoller ist und von mir höher eingeschätzt wird. Ich habe den Einsatz und das Lagerleben Klein-Canossa genannt und mir den Mund verbrannt. Was man friederizianische Zucht und und und genannt hat, da rein will man die Kinder pressen. In Teillager I, in dem ich liege, sind dreihundert westdeutsche Kinder aus Kiel und Waldorf (Hessen). Als Bibliothekare sind wir sogar Mitglied der Lagerleitung. Weshalb ich schreibe, der Straßenvertrauensmann in Leipzig gab mir die G-Abmeldung und die Julikarte mit. Die hätte dort bleiben müssen. Abgeschnitten wird, was ich in Gemeinschaftsverpflegung hier verbrauche. Deshalb schicke ich die Julikarte, und wenn ich am dreißigsten abgefahren bin, werde ich beim Straßenvertrauensmann die Augustkarte vorlegen. Er schneidet dann ab, was ich im Juli zuviel erhalten habe. Stipendium habe ich bekommen.«

So endete dieser Sommer.

18

Sie stellen den Antrag wegen der Sonderreife, sagte der Stellvertreter des Prorektors. Wenn Sie die Prüfung erfolgreich abgelegt haben, steht einem Studium nichts mehr im Wege

September. Der erste Unterrichtstag. Die Baracke ungelüftet. Niemand fehlte. Rudi schweigsam. Klaus Pockrandt ließ durchblicken, dass er beim Pionierlagereinsatz eine Riesenverantwortung getragen hatte. Böckler fragte: Warst wie ich Parteisekretär? Klaus war mehr, Lagerleiter.

Unser Lagerleiter war schrecklich, berichtete Regina. Wenn die Helfer-Hausfrauen, alles Muttis bester Qualität, und die prima Wirtschaftsleiterin nicht gewesen wären, ich hätte nicht durchgehalten. Wie sollst du so eine Bande in Schach halten, sechs Wochen, sechzig Jungen und Mädchen, bei dieser Schlechtwetterperiode, der Ziegenpeter-Quarantäne, nicht mal durchs Dorf durften wir, na, für die Kinder wars trotzdem schön. In der Heidecksburg sind wir in großen Filzpantoffeln übers blitzblanke Parkett in die Gemäldegalerie gerutscht. Quarantäne war bei uns auch, sagte Waltraud, meine Kinder haben manchen sehnenden Blick auf das von der Sonne beschienene Jena geworfen. War ich mit den Eltern, sagte Friedhelm, lange her, immer noch schön.

Waltraud hatte einen Sängerwettstreit gegen die Langeweile veranstaltet, einen wie auf der Wartburg, wie bei Richard Wagner. Wer sich berufen fühlte, dichtete.

Mich seht ihr nach der Schule in einer Kinderbibliothek. Freihand, reizt mich, meinte Regina. Besucht haben wir keine, wegen Quarantäne, den Kindern hätte ich die Freihand liebendgern gezeigt.

Ich war leider krank, meinte Walter. Niemand fragte. Nicht bloß Waltraud hielt ihn für einen Drückeberger.

Irina spitz wie immer: Mir scheint, ihr seid bloß im Lager gewesen, war denn sonst gar nichts?

Friedhelm angelte eine Zigarette aus der Brusttasche. Den Glimmstengel steckte er Johannes hinters Ohr. Deutsche Literatur.Bei Zschiedert. Der sah Johannes an. Nichts, sagte er zu Zschiedert, was Friedhelm bemerkte. Da war was, mag er gedacht haben.

So vergingen die Wochen.

Waltraud begann eine Auseinandersetzung mit Walter Döring und die Zeit lief wieder schneller. Ich verliere einfach die Geduld, sagte sie in der Gruppenversammlung. Seit Wochen haben wir einen Aufbaueinsatz vorgesehen, sie zeigte zur Wandzeitung, unzählige Male haben wir dich erinnert, dass du dich um die Aufbaueinsätze zu kümmern hast. Dich ließ alles ungerührt.

Walter sah Waltraud an, senkte den Blick.

Kümmerst dich um nichts. Schon lange kann dir Regine aus unserer Nachbarklasse sagen, wo wir den Aufbaueinsatz ableisten können. Ich frage dich, soll deine grenzenlose Bummelei so weiter gehen?

Irina saß unbeweglich.

Ich bitte Walter um eine mündliche Stellungnahme, entschied Johannes. Jetzt gleich oder schriftlich, fragte Waltraud. Rudi verlangte, dass wir das jetzt klären.

Ob mich das ungerührt lässt, kannst du nicht beurteilen, fing Walter an. Vielleicht war er nahe dran zu sagen, was sollen diese Einsätze!? Ihr könnt kaum die Schaufel heben, alles Augenauswischerei, Punktesammeln. Ich hänge was an die Wandzeitung.

Wann?

Morgen.

Margot Roebke meldete sich. Beschlüsse werden gefasst, damit sie nicht erfüllt werden. Dem Grundsatz scheinen auch andre zu huldigen, nicht bloß Walter. Handheben und Ja-Sagen fällt keinem schwer, und Skat spielen ist bestimmt angenehmer als Vokabeln lernen. Sie fasste Böckler ins Auge, die ganze Truppe, als sie sagte: Vielleicht habt ihr es auch nicht nötig?!

Manche Leute sind über derartige Kleinigkeiten erhaben. Vielleicht könnt ihr zugunsten des Französischen noch eine Stunde in der Woche opfern? schlug Hans Joachim vor.

Rudi zeigte Bereitschaft.

Ein neues Schuljahr hatte begonnen. Das Herbstsportfest 1954 der Bibliothekarschule »Erich Weinert« folgte. Johannes siegte im Kugelstoß der männlichen Jugend. Die Urkunde zeigte mit nacktem Oberkörper einen jungen Mann, in den Händen Eichenlaub. Regina organisierte das Herbstsportfest. Die Weiten eintragen an der Weitsprunggrube, machst du für mich? Jochen nimmt Zeit bei den Hundert Metern. Nicht auf den Balken treten! Drei Sprünge.

Ein Mädchen, das am weitesten sprang, blieb im Sand sitzen. Sie ließ sich hochziehn, umarmte ihn. Sie hieß Regine.

An der Universität meldete sich Johannes beim Stellvertreter des Prorektors wegen der Sonderreife. Sie stellen den Antrag, sagte der, und wenn Sie die Prüfung erfolgreich abgelegt haben, steht einem Studium nichts mehr im Wege. Von der Weinertschule aus der Werktätigenklasse werden Sie sich unter die Arbeiterstudenten unserer Karl-Marx-Universität einreihen.

Zschiedert hatte die Beurteilung geschrieben, auf Kopfbogen, und war sich ziemlich sicher, dass Rückfragen nicht zu befürchten waren. Mit einem mächtigen Lachen draußen im Park antwortete der, als er vom Gespräch im Prorektorat hörte.

Die Herbstmesse nahte. Sie liefen das ganze Angebot ab, bis die monumentalen Hallen der Messehäuser schlossen. Auch das war Leipzig. Was bot diese Stadt nicht alles. Theater, Museen, zweimal die großartigen Messen.

Die Frau mit dem Anna-Seghers-Gesicht kam zum Unterricht, führte an Einsichten heran, das mochten sie, die feine Art, in der sie über Literatur sprach, Texte auswählte, Zusammenhänge erörterte. Die Behutsamkeit ihrer Bewegungen blieb, auch Willy Zschiederts dröhnendes Lachen, die brennenden Augen am Text oder den Blick deklamierend an die Decke der Unterrichtsbaracke geheftet.

Sie beschlossen für die FDJ-Jahreshauptversammlung Ende Oktober eine Arbeitsentschließung. Von dir, Klaus, hätte ich ein Zeichen erwartet, wenigstens den guten Willen. Pockrandt bewegte die Lippen.

Inka rief: Fürchtest du dich, wieder mal eine Verpflichtung einzugehen, die du nicht einhalten wirst? Der soll uns nicht wieder auf dem Kopf rumtanzen, meinte Irina auf dem Weg zur Straßenbahn.

Johannes scheute die Auseinandersetzung mit der Partei. Lass dir nichts bieten von ihnen, sagte sie. Seine Stube war ausgekühlt, als er ankam, denn Wolframs feuerten nur die Küche. Ob Walter krank machen würde oder die Stellungnahme mitbrachte? Wie wäre es, wenn er Waltraud bei den bevorstehenden FDJ-Wahlen zum Gruppensekretär vorschlug? In manchem glich sie Harry, bloß baute sie keine Luftschlösser.

Walter erschien ohne Stellungnahme. Morgen, wenn ich nicht wieder diese Kopfschmerzen bekomme. Alles lachte. Dann hing Walters Antwort doch an der Wandzeitung: »Ob mich alles ungerührt läßt und ich mich um gar nichts kümmere, kannst Du, liebe Waltraud, am allerwenigsten beurteilen. Wenn Du versuchst, es mit der Gruppenversammlung zu beweisen, so könnte ich ja von dir das Gleiche behaupten, denn Du als Klassenfunktionärin hieltest es ja auch nicht für nötig, trotz Einladung der Parteileitung, an der öffentlichen Parteiversammlung teilzunehmen, in der wichtige Fragen der FDJ-Arbeit zur Debatte standen. Von mir wußtest Du, dass ich zur Zeit in ärztlicher Behandlung stehe. Außerdem war die Gruppenversammlung, wo der Auftrag verteilt wurde, auf Dienstag angesetzt, und der Termin ist wieder, wie üblich, verändert worden, so daß ich nicht teilnehmen konnte. Du hast mich angeblich unzählige Male an die Durchführung eines Aufbaueinsatzes erinnert. Jawohl, ich streite das nicht ab, aber auch ich habe unseren mit der zentralen Leitung beauftragten FDJ-Funktionär mehrmals um einen Aufbaueinsatz angehalten. Er ist für mich maßgebend und nicht Regine. Der in der ZSGL dazu betraute Funktionär kann sich auch nicht noch um Aufbaueinsätze kümmern, da er seine Zeit zur Vorbereitung der Zwischenprüfung braucht. Wörtliche Äußerung desselben zu mir. Leider muß ich also deine Anschuldigungen zurückweisen und dir raten, in Zukunft genaue Erkundigungen einzuziehen, eh Du über einen Freund herfällst. Ist das nicht auch Bummelei? Walter.«

 

In der Pause heftete Waltraud die Antwort an.

»Nur kurz will ich auf deinen Artikel eingehn. Erstens. Nicht aus Interessenlosigkeit oder Bummelei kam ich nicht zu eurer Parteiversammlung, sondern ich war verhindert, daran teilzunehmen. Zweitens. FDJ-Versammlungen sind nur sehr selten verschoben worden, und dann nur aus schulischen Gründen. Es kann also kein Grund sein, daß Du deine Verantwortung nicht wahrgenommen hast. Waltraud.«

Einer greift den anderen an, an der Wandzeitung, und das Kollektiv existiert. War es nicht so? Die Ausarbeitung war von Irina, behauptete Friedhelm. So schreibt Walter nicht, ich werde Waltraud auch ins Gespräch bringen. Hast die Scheiße ein Jahr gemacht, Hannes, soll ein andrer ran.

Inka schlug dann Waltraud vor, was viel Zustimmung fand.

Den Entwurf der Verpflichtungsentschließung zum Jugendgesetz hatte Evelyne ausgearbeitet. »Erstens. Wir wollen uns bemühen, unsere Studienarbeit und -disziplin zu verbessern. Zur Verbesserung der kollektiven Studienarbeit soll das wöchentliche gemeinsame Wiederholen des Französischstoffes beitragen. Zweitens. Jeder Schüler unserer Klasse soll sich bemühen, nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Jeder, der zu spät kommt, soll 0,20 DM in die Klassenkasse zahlen. Drittens. Um unsere Wandzeitung noch besser zu gestalten, verpflichten wir uns alle, an ihrer Ausgestaltung zu helfen. Viertens. Im Jahre 1955 wird unsere Klasse 400 Aufbaustunden ableisten.«

Hätte Harry uns nicht verlassen, er würde jetzt aufhören. Wie meinst du das?

Irina wusste genau, was er meinte. Was geschieht, passiert auf dem Papier. Darin besteht der Fortschritt, und steht er in der Zeitung, »beflügelt« er andere. Solche Selbstverpflichtungen gebe ich am laufenden Band ab, damit ich meine Ruhe habe.

Für mich ist es die erste.

Na dann prost, Hannes! Auf die nächsten!

Je weiter sie sich von jenem Juni entfernten, desto deutlicher wurde, dass sie sich nicht entfernen konnten, der Tag ging mit, womit sich Friedhelm wiederholte, aber vielleicht bildeten sie sich das auch nur ein. Die Gruppierungen blieben. Klaus hatte sie nicht erfunden. Es gab sie seit jenem Juni.

Der erste Schnee. Mutter wollte die Wäsche am liebsten gleich haben. Auf eine Weihnachtsgans kannst du dich freuen, schrieb Vater, eine aus der Heide vom Bäckermeister Rötzschke, Neudorf an der Spree, Bautzner Verwandtschaft, sonst hätten wir keine. Horst Adolph hat die Absicht, hat Mutter gehört, das Studium vielleicht aufzugeben, er könnte als Elektrotechniker beim Rundfunk anfangen, 550 Anfangsgehalt.

Im Auwald war die Schneedecke zu dünn. Die Eichenriesen standen schwarz in dem weiten Gelände, nichts hüllte sie ein.

Hat dir das Adventskränzel gefallen? Auf dem Tisch lag es. Neben dem Tisch das Sofa mit den wuchtigen Seitenlehnen, mit dem das Zimmer fast vollgestellt war. Mutter hatte die Milchkarte beigelegt. Die Milch musst du warm machen, brennt schnell an. Bei wem warm machen? In der Küche bei Wolframs? Lass dir die Äpfel schmecken. Der angehängte Zettel mahnte: »Vergiß deine Haare nicht zu pflegen«. Mitgeschickt hatte Mutter ein Nachthemd, zwei Taghemden, drei Paar Strümpfe, Taschentücher, ein Sporthemd, zwei Handtücher, »eins davon ist um den Kuchen gewickelt«.

Weihnachten ging vorüber. Die Räder der Straßenbahnen drehten durch dicken Schnee, bis der Verkehr stillstand. Man musste zur Arbeit laufen. Wer es weit hatte, blieb zu Hause. Schnee lag bis in die Frühjahrsmesse. Waltraud Arlt war FDJ-Sekretär, Evelyne Fehrmann Stellvertreter. Immer war was. Er wartete auf Nachricht von der Universität. Von der Bewerbung zum Studium wusste an der Schule niemand außer Zschiedert.

Bloß gut.

19

Die Schillerehrung im Schauspielhaus

Sie hatten sich verpflichtet, an der Schillerehrung im Schauspielhaus teilzunehmen. Die orangefarbene Sonne versank an einem sonst grauen Himmel. Den Auwald tränkte Frühjahrsnässe. Regina setzte sich zwischen Irina und Walter, neben ihm saß Hans Joachim. Das Haus füllte sich. Der Platz zwischen Johannes und Pockrandt war frei. Bei Vorträgen sitz ich gerne vorn, sagte Regine, Abiturklasse, die er vom Sportfest kannte und setzte sich. Sie hatte ein hochgeschlossnes Kleid mit kleinen Kragenecken.

Schwer zu sagen, ob es damit anfing.

In der ersten Reihe kam Beifall auf. Korffs Junge Gemeinde, murmelte Pockrandt. In der Körperhaltung nicht mehr ganz sicher, in Gamaschen, trat Professor Korff ans Rednerpult, und Zschiedert applaudierte. Der Beifall übersprang die vorderen Reihen.

Pockrandt hatte keine Hand gerührt. Das Mädchen, das Regine hieß, flüsterte: Ich sag dazu später was. Es kam nicht dazu. Ihr Freund wartete.

Johannes ließ sich von Frau Wolfram die Gamasche erklären. Zu Friedenszeiten trugen das feine Messegäste unter der Anzughose, der Überstrumpf war die Halbgamasche.

Über drei Punkte wolle Korff zum Schillerfrühling sprechen. Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen? Zweitens. Welche Auffassung hatte er vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst? Drittens. Zum ästhetischen Moment in Schillers Wirken.

Johannes schrieb was auf. Pockrandt schob die Lippen vor.

Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen oder nicht? Für Korff war Schiller ein leidenschaftlich Vorwärtsstürmender, der den Weg zu den Sternen suche, getrieben vom Drang nach Höhe und Größe. In Kampf und Widerstreit sind die gewaltigen Jugendwerke entstanden, und die waren Ausbruch eines großen Geistes. Schiller gestalte den großen Menschen auf dem Kolossalgemälde der Zeit, die ihm zur Darstellung die Mittel gäbe. Seine Entwicklung verlief stürmisch vorwärts – experimentell, nach allen Seiten –, aber er wurde nicht zum politischen Dichter.

Typisch idealistisch! zischte Pockrandt. Muss Büchner lesen, den Danton, den im Räderwerk der Revolution steckenden Menschen.

Stimme in der hinteren Reihe: Ruhe!

Im Mittelpunkt stehe das Ringen großer Menschen, zum Beispiel Kabale und Liebe. Die Helden scheitern nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern an ihrer eigenen Unzulänglichkeit.

Niemals!

Das Mädchen aus der Abiturklasse: Jetzt halte einfach mal den Mund!

Zwischen Don Carlos und Wallenstein liege in Schillers Schaffen eine Pause von mehreren Jahren, der gereifte Dichter habe sie benötigt, um sich der eigenen, rein gefühlsmäßig vollzogenen Entwicklung bewusst zu werden. Das führe vom »Kraftmenschen«, man denke an Die Räuber, zum Edelmenschen. Ich glaube, das Wort sagte er. Nach der Größe des Menschengeschlechts fragte der Vortrag auch.

Die höchste Forderung in Schillers hoher Tragödie sei das Wecken der Begeisterung und die Parteinahme für das Edle. Für Schiller bestehe der Sinn der Kunst darin, wenn ich richtig mitgeschrieben habe, die Wirklichkeit in Bildern zu erleben, ohne von den Bildern erschlagen zu werden.

Die Geschichtsphilosophie bereichere Schiller durch die Herausstellung des Anteils der Kunst an der Menschheitsentwicklung.

Menschheit! Die zerfällt in Klassen, murmelte Klaus.

Bei Regine entdeckte er einen winzigen Ohrring, als sie ihm zuflüsterte: Sag nichts. Er spürte ihr Haar.

Warum sei die Tragödie Gegenstand der Kunst, obwohl sie Zerwürfnis und Niedergang zeige, ja Schiller den Untergang geradezu feiere? Trotzdem verließe der Zuschauer das Theater in erhabener Stimmung. Liebe bzw. Hass empfinde der Mensch beim Kunstgenuss. Diese Fähigkeit des Menschen habe den Dichter angetrieben, den Kunstgenuss theoretisch zu fassen.

Ende und Beifall.

Regine stand auf. Bis zum Wiedersehn, ich werde erwartet.

Friedhelm hatte den Vortrag verschlafen. Korff war gut, was? Wie ich dich kenne, hast du mitgeschrieben.

Er wartete an der Schulbaracke: Seh ich schlimm aus?

Erschreckend!

Glaub ich dir nicht. Sie liebt mich, bloß ich bin fix und fertig.

Hab nicht alles verstanden, ich tröste mich, dass seine Jünger, die ihm zu Füßen gesessen haben, auch nicht alles verstehen. Vom Wissen hängt es ab. Ich weiß zu wenig.

Korff hätte ich mir gern angehört, ich frag mich, was sie hundertfünfzig Jahre nach unserm Tod über uns sagen werden? Über mich? Den Eichler. Der war ein ... Wie sagt Irina?

Molch. Nein, Lustmolch. Der Eichler war ein Lustmolch, der für sein Leben gern vögelte, werden sie sagen, wenn sie überhaupt was sagen. War ihr Lustmolch auch dort?

Regina saß dazwischen.

Siehst du, das sind die Zufälle. So ein Zufall ist verräterisch. Frauen erzählen sich alles, wenn sie glücklich sind, musst du wissen, und sind sie unglücklich, auch. Wirst es erleben.

Wie meinte er das? Dass die aus der Abiturklasse neben ihm saß, war Irina bestimmt nicht entgangen und Regina auch nicht.

Mittag wars. Wir nehmen die Bank. Die trugen sie auf die Wiese und machten in der Märzensonne die Beine lang. Wenn eine auf ihre Tage wartet, ehe sie’s dir sagt, sagt sie’s der liebsten Freundin, setzte er das Gespräch fort, bilde mir das wenigstens ein. War bei Bärbel so, die hat mal verzweifelt gewartet.

Sie sahen zu, wer die Freitreppe herunterkam und den Klub­raum verließ. Friedhelm tippte mit der Fußspitze den Takt einer Melodie. Sonnenstrahlen hellten die Gesimse aus Porphyr auf.

Friedhelm rauchte sich eine an. Die nach uns kommen, werden vielleicht nicht mal mehr wissen, dass es uns gegeben hat. Kannst du dir vorstellen, dass du restlos weg bist?

Ja, habs gesehn, zweimal, wenn Erde reinfällt und der drin liegt, auch zu Erde wird. Die schaufeln neu aus, wenn die Zeit rum ist. Auf den Friedhof geht ihr wohl nicht?

Friedhelm schüttelte den Kopf. Den Vater haben die Fische gefressen, meinen, und Mutter hat das Elterngrab aufgegeben, ich weiß nicht mal genau, wo es war. Er ließ die Schultern hängen. Ist bei dir anders, du Bauer, bist du doch?

Johannes verschlug es die Sprache, was Friedhelm bemerkte. Ich meins anerkennend, positiv, wenn ich an die Äpfel denke, die du im Koffer angeschleppt bringst. Friedhelm lachte.

Isst erst die gedrückten, die ramponierten, danach die guten, ich machs umgekehrt, sagt Irina.

Damit ärgerten sie ihn. Stirbt der Bauer, bekommt er seinen Platz, wo die andern schon liegen, und glaubt er, dass er dem Dorf was bedeutet, liegt der Bauer eben vor der Kirche. Als hätte Friedhelm gesehn, wo die Patzigs liegen. Wer in die Kirche geht, muss an ihnen vorbei. Rolf Patzig hat keine Kinder, der wird das Elterngrab mal aufgeben. Als er aus Gefangenschaft kam, sagte er, mich hätten die Fische beinahe auch gefressen. Sie haben mich rausgefischt.

Sie drehten die Bank zur Sonne. Den Korff hätte ich gerne gehört, schade, ein Lehrer aus meiner Penne redete von ihm, der hatte ihn im Examen.

Du hättest vielleicht auch nur die Hälfte verstanden.

Einen Großen muss man nicht immer verstehen, aber die Hälfte verstehn, nimm mirs nicht übel, geht überhaupt nicht, die ist dann auch unverstanden. Den Geist der Goethezeit bewunderte unser Deutschlehrer. Von Korff hat er eine extrem hohe Meinung gehabt. Kommt bei Morgenstern vor, der Name, sonst hätte ich ihn mir als Schüler vielleicht nicht gemerkt.

Schiller suchte den Weg zu den Sternen, sagst du, seine gewaltigen Jugendwerke sind Ausbruch eines großen Geistes.

Ich habs so mitgeschrieben, nur die Zeit hätte dem Dichter die Mittel an die Hand gegeben, etwas Gewaltiges darzustellen. Seine Entwicklung verlief stürmisch. Das sind Stichpunkte. Er wäre kein politischer Dichter gewesen. Ich irre mich nicht, dass er das gesagt hat; denn Pockrandt protestierte.

Leuchtet mir nicht ein, Hannes, der nächste Punkt auch nicht: Du sagst, er sagte, im Mittelpunkt steht das Ringen großer Menschen. In Kabale und Liebe würden die Helden nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern, sondern an ihrer Unzulänglichkeit. Verstehe ich überhaupt nicht. Für mich war Schiller immer ein politischer Dichter.

Es sind meine Stichpunkte. Man müsste richtig studieren.

Stimmt, wir hier sind, entschuldige, im Schnellkurs, im Schnelldurchlauf, Überblicksmenschen, kriegen den Kurzen Lehrgang. Studiere! Bist der Mensch dazu, ich nicht. Überpolitisch alles, er meinte, hochpolitisch. Was nicht reinpasst ins Schema, in den ML, wird reingepasst oder abgeschafft.

Würdest du studieren, wenn sie dich lassen?

Die Fakten bleiben, denke ich, da studiere ich eben die.

Dass du dich nicht irrst. Lieber verkrieche ich mich in eine Bibliothek, wo die vielen schönen Frauen an der Theke stehen.

 

Er zerriss die Zigarettenschachtel. Kannst du mir was borgen? Bis morgen nur.

Ich brauch das Geld fürs Fahrrad.

Fahrrad? Nicht schlecht.

Was Gebrauchtes.

Von wem?

Von Wolframs Sohn, der mir das Zimmer verschafft hat. Wenn die Luft hält, nehm ichs.

In deiner Brieftasche ist wenigstens was drin. Entschuldige, dass ich dich anpumpe. Von Gernitz will ichs nicht.

20

Befreiungstag mit Regine

Hannes mit Fahrrad! Viel hatte der Sohn von Wolframs nicht dafür verlangt, als er seins für mich gegen ein Friedensfahrtfahrrad abgab. Friedhelm fuhr gleich eine Runde. Sattel zu tief. Er stieg ab. Sie standen an der Tischtennishalle. Jetzt du, Irina?

Ich kann Rad fahren.

Schön die Jahreszeit. Besorgt euch ein Fahrrad.

Zwischen Flutbecken und »Kleinmesse« bog er in Richtung Angerbrücke ab, wenn er zur Schule fuhr. Wenn die aus war, fuhr er den großen Bogen zum Lindenauer Markt.

Die Neuigkeit war keine mehr.

Sie gingen zum Unterricht.

Auf der anderen Seite vom Flutbecken wuchs aus Schutt das »Stadion der Hunderttausend«. Auf der Schuttmasse grünte es. Grasinseln, Büsche. Bäume fingen an hochzuwachsen auf Schutt, den Leipziger beim Enttrümmern zusammengekarrt hatten.

Das Schwimmstadion war fertig. Wie eine Schüssel mit aufsteigenden Sitzreihen. Der Sport brachte Farbe. Wenn Sportfest war, war alles bunt.

Auch die der »Kleinmesse« zugewandte Straßenseite war von Büschen eingefasst, am dichtesten standen sie am Flutbecken. Manchmal ließ er das Rad stehen. Im Vorbeiziehen war die Strömung der Elster kaum zu bemerken. Möwen in ständiger Unruhe. Mal schwebend, mal stürzend. Möwen gibt’s nicht bloß am Meer.

Die Märzenbecher an der Schulbaracke waren im Verblühen. Er wollte losfahren, als Friedhelm sagte: Mir zuckts in den Gliedern, dir auch?

Du hast eine? fragte er plötzlich, Eichler spürt das. Sag wenigstens, wie sie heißt. Jemand von der Schule?

Als er den Namen hörte, sagte er: So verrückt geht’s zu.

Und Irina?

Was weiß ich.

Als die bessere Jahreszeit anfing, hatte Regine vorgeschlagen, dass sie ja ab und zu mitfahren könnte.

Diesmal begleitete er sie bis zum Palmengartenwehr. Das Wasser toste, es roch nach Chemie, sie stellten die Räder aneinander.

Er pflückte Veilchen. Schenk ich dir. In Masse standen die hier.

Morgen ist was? Was? Keine Schule.

Noch was? Sie kam nicht drauf.

Befreiungstag. Als ich am Achten reingestolpert kam in die Klasse, verstauten die unten ihre Transparente. Kennst du nicht.

Doch.

Am Stadion zwischen Elsterbecken und Kleinmesse fing es an. Sie hielten sich umschlungen. Ich glaube, die Fahrradklingel hörten sie gar nicht. Der Rock rutschte. Kann uns jemand sehen?

Sie küsste, er biss die Zähne zusammen, bis es verebbte, lachte, strich sich übers Haar. Oh Gott, was war mit mir los? Ich war weg.

Schämst du dich?

Hebt sich auf.

Ich könnte mich gleich ausziehn. Bloß viel zu kalt. Puh, hast du kalte Hände.

Und Christian?

Freund.

Früh fiel ihm ein, er hatte gefragt, wer anfängt, wenns wärmer wird.

Wird sich finden. Weil zwei Räder dort gestanden hatten und niemand zu sehen war, hatte jemand geklingelt.

Du gefällst mir. Die Veilchen waren der Anfang. An den Kuss in der Weitsprunggrube erinnerte sie sich nicht. Wen küsst man nicht alles.

Im Zimmer hatte er sich aufs Bett geworfen, durchgeschlafen, am Befreiungstag die Kasernierten, stahlblau gekleidete Arbeiterwehren mit roter Armbinde, die Lützner Straße entlang marschieren gehört, Schritt gehalten, halb im Schlaf, wie in der Marschkolonne Unter den Linden. War der Heimfahrtstag ein Planungsfehler, den die Schule nicht mehr umeseln konnte?

In meiner Angelegenheit ist noch keine endgültige Klärung erfolgt, schrieb er nach Hause, nur dass ich für Ende Juni zur Sonderreifeprüfung zugelassen bin. Ich möchte dem Prorektorat Studienwünsche nennen. Publizistik = fünf Jahre, das nicht, viel Gewi. Frei war Geschichte. Die größte Aussicht besteht für Oberschullehrer. Bibliothekswissenschaften ja, aber sich vom Bibliothekswesen auf entfernt liegende Fächer zu bewerben, wäre zwecklos. Im Internat könnte ich unterkommen.

Dass ich studieren möchte, muss ich Regine sagen, selbst wenn sie aus allen Wolken fällt.

Am Nachmittag fuhren sie zur Schule, stellten die Räder ab, hörten Friedhelm spielen.

Dass du in Begleitung bist, hatte ich gar nicht erwartet.

Regine sagte, wir kennen uns von Korff.

Hab gefehlt, weil ich so erledigt war.

Bin im Bilde, sagte sie.

Die ist in Ordnung, meinte Friedhelm, als sie mal raus musste. Wenn ihr allein sein wollt, ich mache den Wächter.

Sie setzten sich ans Fenster mit dem Blick auf die Terrasse. Friedhelm spielte seinen geliebten Gershwin.

Als sie ihn wieder hörte, sagte sie: Wenn du mich anfasst, das kommt wie in kleinen Wellen, ich geh wie auf Zehenspitzen. Sie kitzelte ihn mit der Zungenspitze. Als ob die Zeit stehn bleibt.

Es fing an dunkel zu werden. Friedhelm hatte aufgehört zu spielen. Ich hab gewacht, sagte er, als sie ankamen.

Sie standen an den Rädern. Soll ich dir sagen, was mir durch den Kopf geht? Christian. Wenns auch nichts war.

Dieses eine Mal nur erwähnte sie Christian noch.

Schöne warme Tage folgten, alles grün. Grün fiel richtig über einen her. Wenn sie durch den Auwald radelten, dann anhielten, die Schule vorbei war, kam selten jemand. Sie hatten ihren Platz. Es hatte mit Lust zu tun. Wie im Leerlauf einen Berg runterrasen, war das. Wenn Friedhelm von einer sagte, die lässt, meinte er diese Hemmungslosigkeit.

Es war warm am Flutbecken, wo die Möwen über dem seichten Wasser herumkurvten. Die Erde war warm, ganz oben kreiste ein Vogel. In den Himmel gucken, aufgehoben sein, noch nicht an die Zeit nach der Schule denken, war schön. Irgendwie planten alle schon. Denkst du, dass welche weggehn?

Aus allen Klassen sind welche gegangen, sagte er.

Ich meine, weiter weg. Hast du mal dran gedacht? Sie überdrehte die Augen, als wolle sie an seinen Augen die Antwort prüfen.

Ich bleibe.

Du meinst, Arbeiterkinder bleiben. Sie sagte das so hin, obwohl da Absicht war. Sie erwähnte den Vater, der bei München lebte, der nicht noch einmal hatte anfangen können.

Weißt du, wie das war? Sie wartete nicht auf Antwort. In zwanzig Minuten mussten wir raus, sagt Mutti, die SS. Wir haben kaum Andenken. Das goldne Kettchen, was ich im Theater umhatte, ist eins. Plötzlich waren die Russen da. Die Erinnerung raubt mir den Schlaf, sagt Mutter.

Regine hatte die Sandalen abgestreift. Sind noch mehr in der Klasse, wie ich, sagt meine Freundin, bloß redet niemand drüber, wird alles gleich politisch aufgefasst. Oder?

Die Sonne blendete, sie schloss die Augen, sagte, der Zug stand auf freier Fläche, und ich sehe, wie sich der Himmel färbt. Wir alle von Breslau klebten am Abteilfenster. Dresden brennt.

Ihr Vater war in amerikanischer Gefangenschaft gewesen.

Seid ihr geschieden? Sie lächelte. So ungefähr.

Sie lebten getrennt.

Er kaute an einem Grashalm, hatte das süße Ende herausgezogen.

Wenn das wiederkommt? Sie lag ausgestreckt.

Was?

Dass ihr die Uniform anziehen müsst.

Später dachte er manchmal daran, dass sie das fragte. Die Wolken segelten. An was denkst du? Sie zog die Beine an. Wer anfängt.

Ich sags jetzt, sagte er plötzlich, und sein Herz fing an zu pochen. Wolframs haben einen Ferienplatz. Ab übermorgen.

Sie ließ sich hochziehn, strich übers verstrubbelte Haar. Soll ich kommen?

Würd ichs sagen?

Muss ich mich kämmen?

Sie fuhren nebeneinander her, und als die Stelle erreicht war, wo sie sich meist trennten, winkte sie in die Kurve hineinfahrend und das Rad verschwand auf dem Weg zum Palmengarten.