Leipzig

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Was man im Kopfe rumschleppt, geht aus dem dummen Schädel nicht raus, dachte er, und jetzt, beim Pissen, fällt mir ein, was ich Gernitz sagen wollte.

Du kommst so leise, Hannes. Hast mich erschreckt. Ich musste dauernd schiffen gehn, als hätte ich Bier gesoffen.

Friedhelm holte den Mantel. Um die Joppe beneide ich dich, die du anhast.

War Gustav seine.

Friedhelm konnte mit dem Namen nichts anfangen, fragte aber auch nicht, setzte die Baskenmütze auf. Friedhelm trug seinen dünnen Mantel, er hatte nur den. So ein Erbstück, wie deins, fehlt mir.

Der Sommer war längst vorbei. Der Wind hatte die Wolken weggeschoben. In unendlicher Zahl funkelten Sterne. Mir ist Rudi eingefallen. Nicht dumm, was er sagte, der Panzersoldat, der Italien gesehen hat. Nimm unsre Klasse. Was klein abläuft, sagt sich Rudi, passiert groß genauso, vielleicht heute nicht, aber morgen. Lethargie legt sich aufs Ganze. Würdest du sonst den Wettbewerb brauchen?

Pockrandt ist dumm, politisch. Friedhelm schlug den Kragen hoch. Sie fürchten diese Apathie. Er hauchte sich in die Hände. Verdammt kalt. Ich gucke zu den Sternen. Diese unermessliche Kälte dort oben.

Früh in der Schule Harry. Auf der Treppe im Vorbeigehen gaben sie sich die Hand.

Die Wandzeitung umlagert. Neben Pockrandts Artikel Erwiderungen. Regina im blauen Pullover. Im Gesicht Trotz. Irina an ihrem Platz. Gertraude rief: Lasst mich durch! Klemmte einen Zettel an Pockrandts Stellungnahme. »Ich stimme den Artikeln von Koll. Halmich und Neumann zu. Zu den Punkten, die mich selbst betreffen, werde ich im Gruppennachmittag Stellung nehmen. G. Schubert.«

Pockrandt schubste die kleine Porzelle weg.

Entschuldigung, Klaus!

Vor der Wandzeitung hatte er Regina die Zunge gezeigt, die Zungenspitze, und war im Kabuff verschwunden.

»Ich möchte Stellung nehmen zu den Anschuldigungen von Kollege Gernitz u. Pockrandt.«

Oh, Regina, muss das sein?

»Schon lange spaltet sich unsere Klasse in drei Gruppen. Die erste setzt sich aus Kollegen Gernitz, Pockrandt, Brigitta Richter und Böckler zusammen, die zweite aus Fehrmann, Roebke, aus Hans Joachim, Irina, Regina, Johannes und Grimm.«

Hannes und Grimm kannten sich aus dem Lehrlingskurs. Grimm lief damals in einer umgearbeiteten schwarzer Kordhose, die Beine nackt. Solche Hosen hatten die Jungs aus dem Sägewerk, die nicht wiederkamen. Klaus Grimm wurde zum Skat gebraucht, weil Walter übers Wochenende bei seiner Familie war. Die Fußballhelden damals waren Ferenc Puskás und Nándor Hidegkuti, die hatten im November 1953 im Londoner Wembleystadion gegen England Sechs zu Drei gewonnen und im Rückspiel im Mai 1954 die Engländer Sieben zu Eins heimgeschickt.

»Dann gibt es in unserer Klasse noch einige Freunde, die keine eigene Meinung haben und alles das gut heißen, was andere sagen und tun. Ich möchte gern von Klaus und Rudi wissen, inwiefern andere und ich kollektivfeindlich sind. Kollektivfeindlich ist, wenn man sich der Mehrheit der Klasse entzieht und abseits steht.«

Schiebst mich weg, Walter, gunkst mir hinten rein, du Schrank! protestierte Uta.

»Meiner Meinung nach ist Kollege Pockrandt kollektivfeindlich, weil er dauernd versucht, Spannung und Zwietracht zwischen uns zu bringen. Alle diejenigen, die nicht seine Vorschläge und Anordnungen befolgen, nennt er reaktionär.« Walter las und schwieg. »Ich sehe in Klaus Pockrandt einen Menschen, der nur versucht, über andere Macht zu haben. Alle sollen nach seiner Pfeife tanzen, und wehe dem, der versuchen sollte, eine andere Meinung als er an den Tag zu legen. Seine ganze Stärke besteht im Reden, andere Kollegen, die nicht über solch ein ›Geschenk der Natur‹ besitzen, regelrecht totzuquatschen.«

Als Harry das las, sah er aus, als würde er ins kalte Wasser springen müssen.

»Was wir von Klaus und seinen Anschuldigungen zu halten haben, erkennen wir im Folgenden am Besten. Als ich Klaus fragte, inwieweit ich mich dem Kollektiv entziehe, antwortete er mir: ›Dich habe ich ja gar nicht damit gemeint, sondern andere.‹ Diese Antwort ist charakteristisch für Klaus. Außerdem schreibt Kollege Pockrandt noch, daß ich mich durch Lippenbekenntnisse, die Ausdruck meiner Desinteressiertheit sind, zum Bibliothekar qualifizieren will. Ich möchte darum bitten, daß Klaus mir die Richtigkeit dieses Satzes durch konkrete Beispiele beweist! Frechheit und Beweis seiner Zwietrachtpolitik ist, daß Klaus nachdem wir seinen Artikel gelesen haben, triumphierend zu seinen Gesinnungsgenossen sagte: ›Seht Ihr, wie Sie sich getroffen fühlen.‹ Wenn man so beschuldigt und angegriffen wird, muß man sich empören, oder man kann herrlich schauspielern!«

Inka fing ihren Beitrag mit Selbstkritik an. »Klaus hat recht, wenn er sagt, daß ich mich an gemeinsamen Unternehmungen der Klasse nie beteiligte. Ich hatte bisher wenig Interesse daran. Um meinen Fehler wieder gutzumachen, will ich jetzt mit ganzem Herzen helfen, aus unserer Klasse ein gutes, festes Kollektiv zu schaffen.«

Klingt nach Lippenbekenntnis, ist keins, Hannes. Lies weiter! »Aber eins, Klaus und Rudi, ist nicht richtig an Eurer Haltung. Warum eröffnet Ihr diese Diskussion an unserer Wandzeitung erst, nachdem die Sache auf der Schülervollversammlung ins Rollen gebracht wurde? Ihr wußtet schon eine ganze Weile, daß unser Klassenkollektiv vollkommen zerfallen war und daß sich dies schon in unserem Studium bemerkbar machte. Es stimmt, daß Klaus ein Klassennapoleon sein will, der alle diese Freunde nicht leiden kann, die seine Vorschläge und Taten nicht unterstützen. Auf Kritik reagiert Klaus stets unsachlich und jäh aufbrausend. Ich glaube, mit seiner ganzen Art hat er viel dazu beigetragen, daß in unserer Klasse zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager entstanden sind.«

Inkas Strickjacke war an den Ärmeln so kurz geworden, die dünnen Handgelenke guckten heraus. »Außerdem ist es ein Zeichen von Feigheit, wenn Klaus an der Wandzeitung Regina, Irina und andere als kollektivfeindlich bezeichnet und bei der Bitte um konkrete Angaben sagt: ›Euch habe ich ja gar nicht gemeint‹. Inka Knetsch.«

Pockrandt wich nicht von Rudis Seite, was den störte. Für Friedhelm war das Schwäche. Die Partei ist schwach, Brigitta haben sie eingebüßt, Harry erzieht und überdreht.

Harrys Lippen waren ein Strich. Bei der HJ gabs solche Typen auch. An der Stelle, wo das Lindenblatt klebt, sind sie verwundbar.

Regina stand auf, nahm die Schultern zurück.

Ich mag einen schönen Körper, bloß sie mag mich nicht, bin ihr zu unsolide. Die sehe ich schon mit Säugling. Ich bewundre einen schönen Körper, ich, mit meinen hängenden Schultern, beim Fußball nicht zu gebrauchen. Eine wie die Regina gönn ich dir, bissel trotzig, bissel bockig, unersättlich und treu. Was willst du mehr?

Pause.

Ein Lungenzug verstärkte die Nachdenklichkeit. Vergiss deine Ruth. Es gibt Dinge, die du als Junge machen willst und solche, die Mädchen machen wollen. Püppchen halten. Alle, die wir hier sind, wollen Bibliothekare werden. Mit einem Unterschied, sie bringts raus. Niemand ändert das. Böckler wieherte.

Sag Harry, ich geh früher weg, sag, dass ich beim Arzt bin. Eine wie Regina wünsch ich dir. Das Mädchen aus der Arztpraxis wartete. An nichts andres denke ich. Bei der verströme ich mich.

Sie gingen auf ihre Plätze.

Am Nachmittag die Versammlung. Es gibt eine neue Situation in der Klasse, erklärte Harry Matter, denn als sich die Klasse zusammenfand, unter den besonderen Bedingungen, hatte es den Anschein, als wollte sie nicht nur in ihrer Stellung zum Ausbildungsplan eine Ausnahme machen, sondern auch in kollektiver Beziehung, weil wir überwiegend Arbeiterkinder sind. Jetzt ist von Anschuldigungen die Rede, von Kollektivfeindlichkeit. Das Klassenkollektiv ist zerfallen.

Gertraude schrieb mit.

Ich sags mal einfach, sagte Rudi, der wieder aufstand, wir sind eine Klasse, die aus neuen Menschen bestehen soll. Das gabs in den anderen Klassen bisher so nicht. Er sprach von einem Fall Bärlach. An dem erklärte er die antagonistische Stimmung des größten Teils der Schüler gegenüber unserer Klasse, sodass sich die 7 a fester zusammenschloss. Als der Vorbereitungslehrgang zu Ende war, verwischte sich die labile Stellung unserer Klasse innerhalb des Schulkörpers. Inzwischen hat die Akklimatisation einiger Schüler aus der 7 a dazu geführt, dass sie von den reaktionären Schülern anerkannt sind. Jetzt, denkt man, kann man die Maske fallen lassen. Ich sage, der Klassenkampf beginnt auch in der 7 a.

Brauchst du ein Kissen, Friedhelm? Weil du so kippelst?

Darf ich das nicht, Evi? Niemand lachte. Er ging.

Bist entschuldigt, sagte Harry.

Wir streiten, setzte Rudi fort, die sonst so trägen Gemüter sind aus ihrer Defensive herausgekommen, was zu der Hoffnung berechtigt, dass im Laufe unseres Zusammenseins auch sie zwar kaum Genossen, aber Gesinnungsfreunde werden.

Irinas Gesicht hellte sich um eine Andeutung auf.

Nochmal Pause.

Die denken, die können uns einwickeln. Hannes, es wird in der Klasse bei einem Fall Bärlach nicht bleiben. Er hat Die tote Tante einstudiert, sie hat sie gespielt. Sind beide fort. »Die Innocentia liegt mir« – die ist das, sagte Irina leise. Du steigst in Gesundbrunnen aus der S-Bahn und bist raus aus allem. Ich bleibe hier. Ich hänge an Dresden.

Nach der Pause hatte sie ihren Auftritt.

Was du gesagt hast, Rudi, klingt vernünftig, dass wir als künftige Bibliothekare auch kaum Genossen sein werden, so doch wenigstens – ich suche das Wort, das du verwendet hast – Gesinnungsfreunde, danke, hört sich gut an, zum Beispiel Jugendfreunde innerhalb eines Kollektivs – (Pockrandt notierte das) – Kollektiv­freunde, Busenfreunde, nein, Busenfreunde ziehe ich zurück, das geht zu weit.

 

Rudi sprang auf. Die Auseinandersetzung zum Wandzeitungsartikel unserer zukünftigen Gesinnungsfreundinnen sehe ich durchaus positiv, weil jemand »gewagt« hat, einen Gegenartikel zu schreiben, mir kommt der Artikel aber auch vor wie der Aufschrei des getroffenen Wildes. Solange Artikel ohne offene Stellungnahme erscheinen und ohne die Namen der beteiligten Gesinnungsgenossen, sind sie keine Kritik, sondern eine Verteidigung.

Verteidigung der von ihnen selbst erkannten Schwächen, warf Pockrandt dazwischen.

Irina blieb sitzen, als sie sagte: Getroffnes Wild finde ich schlecht, Rudi. Willst du damit sagen, dass wir gejagt werden? Der Knall, ich gebs zu, hat uns erschreckt. Trotzdem. Ihr habt daneben geschossen.

Das ließ Rudi nicht auf sich sitzen. Ich bin überzeugt, dass alle, die nicht zum Kollektiv finden oder aus dem Kollektiv ausbrechen, von der Kraft des Kollektivs auf den richtigen Weg gebracht werden. Wer Zweifel an meinen Worten hegt, dem empfehle ich Makarenko: Der Weg ins Leben.

Gertraude, jetzt du.

Was antagonistisch heißt, weiß ich nicht, aber ich ahne, bestimmt nichts Gutes. Harry half aus. Unversöhnlich.

Also feindlich. Sie redete schnell. Das »Feindlich« für meine Person weise ich zurück. Ich denke sogar, dass ich für alle spreche, die Klaus Pockrandt kollektivfeindlich einsortiert hat: Die Falschen ins Kröpfchen. Der Artikel sät Unfrieden. Was du sagst, Klaus, bleibt unbewiesen, du kannst mir damit gestohlen bleiben und solltest dir eine Entschuldigung ausdenken.

Sie hatte ihn abgefertigt.

Pockrandt reagierte mit Selbstkritik. Festgestellt sei zuerst, dass mein Artikel die Diskussion eröffnet hat, wenn er auch nicht in allem sachlich und richtig war. Er danke den Jungendfreundinnen Neumann und Halmich für ihre Kritik, weil sie erstmals und offen ihre Meinung zum Ausdruck brachten, die nicht in allem richtig sei, und sah Harry, als er das sagte, herausfordernd an. Es sei selbstverständlich nicht jedem gegegeben, ein brillanter Rhetoriker zu sein. Er fasste zusammen: Es gibt eben drei Lager in unserer Klasse, und wenn Regina Halmich in ihr »Gesinnungsgenossen« erkannt hat, bekenne er sich dazu. Fest steht, dass diese Gruppe die politisch fortschrittlichste und aktivste ist. Als kollektivfeindlich habe ich die Gruppierung Halmich bezeichnet, weil sie sich von den politisch fortschrittlichsten Freunden abkapselt und gegen die Beschlüsse der Gruppenleitung insgeheim opponierte.

Das beweise mir mal, rief sie.

Harry sah auf die Uhr.

Es gibt Jugendfreunde, die noch nie durch besondere politische Aktivität ihre politische Überzeugung demonstriert haben.

Das bringst du in Russisch zum Ausdruck! rief Irina.

Klaus brachte kein Wort heraus, was Harry genoss, bis Pockrandt die Sprache wiederfand. Er sei überzeugt, dass die »Gesinnungsgenossen« und der andere Teil der Gruppe nach harter politischer Diskussion ein gutes Kollektiv werden. Trotz allem. Danke.

Jetzt weiß ich, was du mit uns vor hast, sagte Irina, ich bedanke mich auch.

Da kniff er die Augen zusammen. Weil niemand was sagte, knöpfte Harry die Federmappe zu. Walter meldete sich. Musste auch was sagen. Weil der Wettbewerb alle angeht, er las vor: »Die Mithilfe am freiwilligen Aufbau unserer vom Krieg zerstörten Heimat und die Mithilfe am Aufbau des Sozialismus ist für jeden FDJler nicht nur Ehrensache, sondern heilige Verpflichtung.«

Eins von Walters großen Worten. Dem fleißigsten und besten Freund winke bei der Weihnachtsfeier eine Buchprämie.

Nach der Versammlung wurde gefragt, ob Verpflichtung nicht genüge. Ist mir rausgerutscht.

Du wirst an das Dritte Gebot gedacht haben, unbewusst, grinste jemand.

Das Thema wechselte.

Die Tage wären zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen, hätte Pockrandt nicht wieder für Aufregung gesorgt und neue Tinte an die Wandzeitung gespritzt. »Ist es nicht denkbar, daß einige Freunde davon wußten, daß die Schülerinnen Otto und Knetsch bereits seit drei Wochen unbezahltes Essen bezogen? Nun, diese Möglichkeit sei außer acht gelassen, obgleich es sehr aufschlußreich und interessant sein würde, diese Linie weiter zu verfolgen.«

Inka unter Tränen: Was Klaus behauptet, stimmt nicht, ich habe Nachschlag geholt ohne alles.

Mit dir diskutiere ich nicht, fertigte Pockrandt sie ab.

Du weißt, dass du die gewählte Leitung ignorierst, Klaus, hielt Harry ihm vor.

Ich musste handeln, weil du nicht handelst. Da schoss Harry das Blut ins Gesicht. Verstehe.

Ich bitte, dass nach dem Unterricht alle dableiben.

An der Wandzeitung eine Berichtigung: »Ich habe in 4 Wochen 8 mal den Nachschlag geholt, ohne Kompott, Semmeln, ohne Fleisch. Inka Knetsch.«

Ich kann nicht mehr hingucken ans Brett, wenn ich zum Unterricht komme, beklagte sich Gertraude. Viel Hunger könne ein Grund sein, meinte einer von den Jungs.

Pockrandt schrieb gleich im Stehen. »Es ist eine Frechheit von Seiten der Schülerin Knetsch, sich mit irgendeiner Summe von gestohlenem Essen zu ›entschuldigen‹. Klaus.«

»Nachsatz: In meinem Verständnis jedenfalls ist es unmöglich, daß überhaupt einer der Freunde versuchen kann, diesen Betrug und Diebstahl am Kollektiv irgendwie ›menschlich‹ zu motivieren.«

Die dünne Inka, dem Weinen nahe, wollte reden, kam nicht dazu.

Klaus Pockrandt schlug vor, heute noch den Beschluss zu fassen, beiden Schülerinnen eine Verwarnung auszusprechen, ihnen für die Dauer eines halben Jahres das Recht abzusprechen, irgendeine Funktion auszuüben, und sie zu veranlassen, dass sie das bezogene Essen nachträglich bezahlen. Die Tat selbst und das arrogante und freche Verhalten dieser Schülerinnen zu ihrem unkameradschaftlichen Verhalten fordern diese Bestrafung.

Wenn die Frauen in der Essenausgabe einen Nachschlag geben, ist das ihre Entscheidung, und dir, Klaus, wenn du darum bittest, werden sie auch einen Nachschlag geben oder dich abweisen, weil du wohlgenährt bist, schrie Irina, schickt den mal weg, werden sie sagen.

Hans Joachim sagte dazu nur: Der ist krank – und vielleicht traf es das auch.

Ausgedehnte Diskussionen, erklärte Gisela Otto, die auch Nachschlag genommen hatte, sind bei dieser »Verfehlung« nicht erforderlich, ich habe weder betrogen noch gestohlen, ich gehe. Gertraude schloss sich an. Dann gehen wir auch, sagte die Mehrheit. Die Versammlung löste sich auf. Harry verließ den Raum.

Du hättest dich mit den Genossen beraten sollen, nuschelte Böckler, meinte er Pockrandt?

Friedhelm wartete. Es gibt zwei Verlierer, Hannes. Siehst du das auch so? Pockrandt ist angeschlagen.

Harry auch.

Einige Tage verstrichen, und Harry setzte eine außerordentliche Gruppenversammlung an. Dazu erschien er im Anzug, in diesem dunklen Anzug, den er fürs Theater hatte. Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: Wir haben es soweit gebracht, dass unsere Klasse, die sich aus Kindern von Werktätigen zusammensetzt, als abschreckendes Beispiel dient. Man nennt im Dozentenzimmer keine Namen. Sind eben Arbeiterkinder, was erwartet ihr von denen?

Es gibt Lehrer, die gern kommen.

Weiß ich, Regina.

Wir vergessen die Tradition unserer Väter, die weiterzuführen wir da sind. Aber so wie jetzt können wir sie nicht weiterführen und sinken zu Parasiten herab, die zwar nehmen, aber nichts geben und den Wirt innerlich zerfressen.

Friedhelm stocherte im Mund, das Streichholz brach ab. Gulasch, sagte er. Vor den Fensterscheiben eine kalte Sonne.

Harry stellte im Unterricht unerwartete Fragen, las viel, von Thomas Mann alles, was er kriegen konnte.

Schwebt in ziemlicher Höhe, meinte Irina.

Inzwischen trieb Harry im Strom eines über die Ufer tretenden Monologs dahin. Es ist keine Schande, sondern eine Ehre, Arbeiter zu sein, bewusster Arbeiter. Wir müssen diesem Namen Ehre gebühren. Wie könnten wir es besser tun als durch den Beweis, hier zu lernen, was bisher nur bürgerliche oder begüterte Schichten konnten. Wir können es und noch besser.

Walter Döring sah auf die Uhr.

Die Zeit gebt ihr mir noch für das, was ich vorbereitet habe.

Margot Roebke, das dünnfingrige blasse Mädchen, sagte, ja, aber … Evelyne nickte.

Doch wie sieht es in unserer Klasse aus? Bla, bla, würde Irina sagen. Da drehte sich Harry, wie von einem Strudel erfasst, schon im Kreise. Und wir? Katastrophal.

Mit einem Mal erfasste Johannes, wie ernst es Harry Matter mit dem Bibliothekarsberuf war, mit Bildung. Was für andere bloß Hingehn, Ableisten, Schule war, ihm reichte das nicht.

Eine letzte Schubkarre Schlamm aus dem Teich herauszukratzen zum Düngen, um zu überleben, daran musste Johannes denken, wer sich geschunden hatte, bis das Herz kaputt war, wusste er.

Wir verschleudern doch nur Geld unseres Staates, der Arbeiter, wenn wir uns weiter so verhalten wie bisher. Die Schule, ihre Einrichtungen sind Volkseigentum. Handelt man so mit Dingen, die allen gehören? Warum zerstören, wenn bei etwas Vernunft auch ohne Schäden gelernt werden kann? Viele benehmen sich, als wären sie gezwungen, diese Schule zu besuchen. Wer so denkt, braucht nicht länger unser Mitschüler zu sein. Die Arbeiter bezahlen solche Menschen nicht. Wer den Unterricht nur erträgt, kann künftig diese Schule meiden. Wer denkt, vorläufig gut untergekommen zu sein und das Vertrauen von Millionen Werktätigen missbraucht, muss unsere Schule verlassen. Gerade von uns hat man anderes erwartet als Ignorieren des Unterrichtsstoffes, Nichtvorbereitetsein, keine Fragen haben, Privatgespräche führen, den Russischunterricht schwänzen.

Was war mit Harry passiert? Mit uns? Wann mag ihm zu Bewusstsein gekommen sein, was es bedeutete, sich Liederlichkeit anzupassen und ihr zu unterwerfen?

Wenn von irgendwo Maßnahmen getroffen werden, übergeht man die, wir wundern uns, dass härtere folgen. Freunde, so geht das nicht, so etwas darf man nicht übergehen. Dass es geschieht, zeigt, dass etwas faul bei uns ist, was ausgerottet werden muss.

Was Harry beunruhigte, lag tiefer. Er hatte einen Defekt entdeckt, den andere nicht bemerkten, als läge da eine Bombe, die jeden Moment in die Luft gehen konnte.

Die Ursachen liegen bei uns. Er wendete wieder ein Blatt um. Es gibt Freunde, die alles ignorieren, die jede geäußerte bessere Einsicht verspotten, missachten, dagegen handeln. Sind wir so weit gekommen, dass nicht einmal die persönliche Meinung geachtet wird? Das Bessere muss gewählt werden. Wer dagegen handelt, stellt sich außerhalb der Gruppe und muss bestraft werden oder soll seiner eigenen Wege gehen.

Im Klubraum, am Flügel, wo Friedhelm nach Schulschluss am liebsten saß, griff der diesen Punkt auf: Harry meint Pockrandt. Pockrandt fühlt sich sicher, weil die Mehrheit nicht sagt, was sie denkt, weil sie sich fürchtet. Das hat Gründe. Harry hat das erkannt. Gehen wir mal davon aus, dass ers erkannt hat, er könnte den Defekt erkannt haben, die Gründe will ich gar nicht untersuchen, wenn er sagt: Die große Meinung herrscht, dass gesellschaftliche Betätigung etwas Zusätzliches ist, eine Bürde, die man abwerfen muss. Das ängstigt Harry.

Evelyne Fehrmann putzt keine Ziegel, war für Wandzeitung verantwortlich, aber Wandzeitungsartikel wollte niemand schreiben. Sie legte fest, dass geschrieben wird, wer schreibt, Hannes über den Waffenstillstand in Korea, und wann. Das Politbüro zum Beispiel bemängelte die ungenügende Propagierung der fortschrittlichen Literatur beim Kampf des deutschen Volkes für Frieden, Demokratie und Sozialismus. Dazu trieb sie einen Artikel ein. Über die Propagierung des neuen Buches wollte niemand schreiben, deshalb, liebe Freunde, bitte ich nochmals, die Richtlinien für unsere spätere Arbeit als Kulturfunktionäre und Bibliothekare durchzustudieren (rot unterstrichen) und für die Wandzeitung zu schreiben.

Die Initiative fehlt. Harry hatte das erkannt. Er sah den Aufwand, den Verdruss, die Verluste an Kraft und Zeit. Ohne endloses Überzeugen und Drängen bewegte sich nichts. Was als Mittel übrig bleibt, ist Zwang, ganzer Zwang, halber. Wenn es nicht gelingt, das zu ändern, wird Harry gedacht haben, sind wir verloren. Harry war hellhörig geworden gegenüber den üblichen Entschuldigungen, diesen schlangengleichen Wendungen und dazwischengewebten Lügen, bestimmt auch den eigenen.

Mit grüner Tinte hatte Friedhelm Eichler die Oktoberrevolution gewürdigt, die den Werktätigen den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft öffnete, und Evelyne den Artikel ans blaue Brett geheftet.

 

Wissenschaft und Gesellschaft sind gleichwertige Bestandteile des Unterrichts. Als Harry das sagte, lachte Gertraude laut.

Wer das nicht anerkennt, muss die Konsequenz ziehen. Wieder drehte sich Harry im Kreis.

Vielleicht sollte ich nicht weiter reden, sagte er plötzlich, das beschriebne Papier vor sich. Ich hab mir zuviel vorgenommen. Ein großer Teil von euch will mein Tun nicht anerkennen. Ich wende mich nicht aus Sucht nach Vorherrschaft an oder gewissermaßen gegen euch, ich habe das nie getan, nicht in der Vergangenheit und nicht heute. Er zögerte und sagte dann mit fast tonloser Stimme: In einigen Tagen verlasse ich diese Schule.

Jemand atmete tief. Das sagst du uns jetzt?!

Genossen wissen nicht alles, verriet Gertraudes Blick.

Schafft das Kollektiv! – forderst du und verlässt uns, sagte Rudi Gernitz, die Schule verlassen, geht zu weit.

Friedhelm erinnerte sich, dass Rudi mal sagte: Unsre Aufgabe ist, den Fortschritt durchzusetzen, da stand er im Mantel vor Harry. Musst die Machtfrage stellen, und Rudi Gernitz hatte mit zwei Fingern den Mantelknopf von Matter angefasst.

Die Abiturklassen spielen Theater, reden über Inszenierungen, schwelgen in Gedichten. Bei uns gibt’s aber auch Schüler, denen genügt die Zusammenfassung. Die wollen die Maggiwürze, wie Friedhelm es nannte.

Mir nicht, hatte Gertraude gesagt. Johannes imponierte das.

Weil Harry nicht aufstand, blieben alle sitzen. Er sagte nicht, ich verzichte auf eure Gemeinschaft, hatte nur ruhig gesagt, ich verlasse die Schule.

Vielleicht greifen wieder einige die Person an, ich habe auch Fehler gemacht, große oder kleine, das sagte er noch, aber noch nie haben mein ehrlicher Wille, meine Disziplin und Einsatzbereitschaft gefehlt. Bei vielen unter uns vermisse ich das, was kein persönlicher Angriff sein soll, bloß die Feststellung einer Tatsache. Wir müssen nicht diskutieren, das wäre Unfug. Handelt so, dass diese Worte der Enttäuschung in Zukunft verfallen. Redet nicht vom Kollektiv, schafft es, fügt euch der besseren Einsicht. Nicht der Mensch handelt frei, der immer anderer Meinung ist, sondern derjenige, der sich der Notwendigkeit fügt.

Da die Gruppe weiter sitzen blieb, blieb er auch sitzen, eher erleichtert, dass er, die Brille in der Hand, die Gruppe nicht deutlich sah.

Mir war es unmöglich, weiter zuzusehn. Ich muss nun keine Bemerkungen mehr fürchten. Es wird sich zeigen, wer ehrlich ist mit sich selbst. Der neu zu wählenden Leitung, der ich nicht mehr angehören werde, gebe ich den Rat, energisch gegen Störenfriede vorzugehen, Störungen im Keim zu ersticken. Die neue Leitung wird es nicht leicht haben, sondern schwerer. Vor ihr steht der Erfolg, den wir nicht hatten. Ihr werdet Erfolg haben, wenn ihr konsequent seid. Ich spreche hiermit jeden Freund von uns an. Jeder aufrechte FDJler und besonders die Genossen unserer Partei müssen sich für die Durchführung des Kampfes einsetzen; das muss man von ihnen verlangen.

Beweist eure Bereitschaft in den Tagen, die bis Weihnachten noch bleiben, dann wird das Weihnachtsfest doppelt so schön ausfallen. Ich war offen und ehrlich, seid ihr es auch. Noch ist es nicht zu spät.

Das war am 9. Dezember 1953.

Irrtum, sagte Friedhelm, bloß Harry trifft keine Schuld, es sind die Verhältnisse.

Sie gingen zur Straßenbahn. Hat er mit denen abgerechnet, die die Disziplin verletzen? Oder mit denen, die an dem Zustand Schuld sind? Wenn ja, griff Matter den Zustand an, in dem er nicht bleiben wollte. Erwartete er Unterwerfung durch Einsicht? Für mich bleibt das im Zwielicht.

Ich seh nicht mal das, Hannes. Erinnerst du dich, wie das war mit Harry? Quatsch, kannst du nicht, weil du sonstwo warst, als die Panzer kamen, während wir uns bewähren durften. Harry war anwesend, ich entsinne mich bloß nicht, eigenartigerweise, dass ich ihn gesehen habe. War vielleicht auf dem Lokus.

Die Kälte kommt einem durch die Schuhsohlen, die Baskenmütze habe ich auch vergessen in dieser Dezemberluft, bei der die Wäsche reingenommen wird. Schlenkernden Schritts, Hände in den Manteltaschen sagte er das. Am Tag, als du ankamst und Pockrandt über dich herfiel, war das.

Wo Pockrandt steht, weiß ich, wo Harry steht, habe ich in seiner Abschiedsrede zu verstehen versucht, ich finde es nicht heraus. Wie denn? Nichts bleibt, wie es ist. Ich weiß nicht, auf welcher Seite er steht. Bei uns suchte er die Arbeiterseele oder hat sie gesucht, die ist nicht zu finden, höchstens bei Böckler. Ich suchte die Liebe, Arnold hat sie gefunden, da verlor er den Faden, ich bin müde. Sie sahen die Bahn davonfahren.

Harry drehte sich wie im Gewinde. Nehmen wir mal an, dass er das Gewinde untersucht hat, in dem er sich drehte. Könnte doch sein? Er brannte sich eine Zigarette an. Harry wollte nicht mehr.

Vielleicht sollten wir einen saufen gehn.

15

Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los

Er zog die altmodischen Fenstervorhänge zu, sah den Brief liegen, hörte Wolfram über den Flur tappen.

Ruth hatte geschrieben. »Ich habe Deinen Brief erhalten und danke Dir für Deine Offenheit und Ehrlichkeit. Mit den gleichen Voraussetzungen will ich Dir antworten. Dass Du so enttäuscht bist über unsere Freundschaft, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich kann eben nicht unehrlich gegen meine Empfindungen sein und möchte Dich doch bitten, mir nicht böse zu sein, wenn ich unsere Beziehungen abbreche. Entschuldige bitte, daß ich am Sonntag auf dem Bahnhof ohne mich von Dir zu verabschieden fortgegangen bin, da ich doch schnell zur Bahn musste. Du weißt doch, daß wir ab 24 Uhr nicht mehr rein dürfen. Für mein schlechtes Benehmen während der Fahrt von Dresden nach Leipzig möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht schön von mir. Deine Vermutung, daß ich Dir mißtraue, trifft nicht zu. Ich habe Dich immer als Freund geachtet und tue es auch jetzt noch. Deine Neckereien habe ich nicht übel genommen, da kannst Du beruhigt sein. Sei mir bitte nicht böse, daß ich Dir diese Enttäuschung bereiten musste. Meine Briefe und Bilder kannst Du gerne behalten. Ich möchte, daß Du nicht schlecht von mir denkst. Meine Freundschaft zu Dir war ehrlich. Viele Grüße Ruth Jansen.«

Den Brief hatte er Friedhelm zu lesen gegeben. Wirklich verbunden waren wir nicht. Viel Schreiberei, wenig Küsse, sagte Friedhelm dazu. Die ist schon Frau, wie sie schreibt, die will was Festes, nicht bloß Gedachtes. Im Unterricht wars, da saß er mit hängenden Schultern auf seinem Platz, als er das sagte, wartete auf die Pause und dachte an wer weiß wen.

Den ockerfarbnen Mond sah er im Fenster cremig weiß. Mich fröstelt. Die Straßenbeauftragte wollte sich um die Feuerung kümmern. Die Kohlen auf Gutschein werden Sie vielleicht noch bekommen. Wenns schlimm kommt, sagte Frau Wolfram, halten Sie sich bei uns auf.

Du könntest dunkle Handtücher gebrauchen, schrieb Vater, ich brauche auch welche. Geh durch die Warenhäuser und gib Bescheid, wenn du dunkle Handtücher erspähst.

Die Milch säuert. Den Gaskocher könnte ich benutzen, wenn ich Wolframs frage. Irina fiel ihm ein. Der irre Streit. Harry ist fertig, ich auch, bloß andersrum. Eins kommt zum andern, wenn man nicht einschläft.

Auf das Plüschsofa, das mit den hohen Seitenlehnen, hatte er sich hingehangen, die Beine über die Plüschwulst der Seitenlehne, er döste, ging die Versammlungsgesichter durch.

Harry macht zu viel Wesens um die Arbeiter. Regina trug den blauen Pullover, den sie liebte. Er dachte an Klaus Grimm, die Roschkampfbahn, wenn hinter Stehern die letzte Runde eingeläutet wurde. Die Frau mit dem Seghersgesicht hatte seine Nachbewilligung unterstützt. Willi Tschiedert heftete seine vor Begeisterung brennenden Augen an einen Text und warf dichtes schwarzbraunes Haar aus dem Gesicht. Sein Lachen dröhnte. Der Unterrichtstag im Juni, an dem er mit den Worten seines akademischen Lehrers abtauchte, geriet fast in Vergessenheit. Die überschlanke Ellen Recknagel kam ihm in den Sinn, die im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am Dittrichring, über die großen Russen sprach, die Weltliteratur, die großen Amerikaner. Rolf Recknagel suchte nach B. Traven.