Leipzig

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Irina sagte: Versteh ich, Friedhelm, Künstler empfinden eben anders, wenn ich an Hanno Buddenbrook denke und an Zschiedert. Die Gestalt des Künstlers im Erzählwerk Thomas Manns. Den Künstler friert, wenn er die Masse sieht. Ich meins nicht mal ironisch, ich verstehs sogar.

Die Kameraden von der Spatzenelf, soll ich die vergessen? Sie haben sich nicht Majakowski genannt.

Glaubst du, dass da keine Kameradschaft war, keine echte, Irina, das ist der Irrtum, dass sie unecht gewesen sein könnte. Die hätten nicht so verbissen gekämpft, nur war diese Kameradschaft nicht für mich gemacht.

So hab ichs nicht gemeint.

Ich dachte, du nimmst Anstoß, dass sie sich gleich einen Namen umgehangen haben. Dem Namen entkommen wir nicht.

Ich glaube, die Bahn kommt.

Wenn ich dran denke, wie unsre Straße das letzte halbe Jahrhundert geheißen hat. Meine Mutter betet die Namen her, jetzt heißen wir Thälmann. Mich werden die Kinder vergessen.

Regina erzählte von Mädchen, die Gedichte aufsagten, und jede fand, sie hätte das schönste ausgesucht, als sie auf der Bühne standen. Spreewald. »Heimat, wie bist du so schön.« Die Heimat besäuseln. Bei Lampenfieber auf erleuchteter Bühne gings schief. Vierter Platz.

Sie stiegen ein. Über die aufdringlichen Männer im Blauhemd haben wir viel geredet, solche wie dich, die einen schnell mal umfassen. Friedhelm protestierte.

Hugo, gibt’s den noch? Wie der im Auwald zu Petrus kommt. Du warst einzig, Friedhelm, das sagt dir eine deiner heftigsten Kritikerinnen. Also gut, nochmal, weil Johannes nicht dabei war: Hugo klopft an die Himmelspforte, bekommt Einlass. Die Voraussetzung für die nächste Ausbildungsstufe wäre erfüllt, meint er, bloß die rote Unterschrift stört auf dem Zeugnis? Schwarz wäre ihm lieber. Dass auf der Erde einer mit Rotstift unterschreibe, hätte er noch nie gehört. Oh, doch, sagt Hugo, seit Juni hat sich die Zeit verändert.

Soll ich lachen?

Die Version kannte ich noch nicht.

Die Schule, natürlich unsre, ist nur Vorstufe. Die wirkliche Schule der Kader bringt die lebendige Arbeit, die Überwindung von Schwierigkeiten. Steht drin. Auf Baby-Rosa. Ihr wisst von wem der Spruch ist?

Gewusst oder geraten? Natürlich geraten, sagte Irina.

Die Straßenbahn war aus dem Auwald heraus. Die Leute guckten, warum so gelacht wurde. Wenn das Brimborium versunken sein wird, von dem wir erzählen, werden die sagen, die das als Kinder erlebt haben: Wunderbar! Wars ja auch. Ich geb dich doch richtig wieder, Inka? Sechzehn Stunden Bahnfahrt, Balgen, Kichern, die Gedichte, du im Tor. Erst haben sie mitgepfiffen, dann gesungen. So ist das. Ich muss raus. Friedhelm stieg aus.

Warum singen wir? Hat Harry zugehört? Wir sind Schulgespräch. Die wissen sowieso, wie sie mich einzuschätzen haben. Johannes meinte Pockrandt und Rudi.

Am Lindenauer Markt stieg er aus. Wir ziehn die Fühler ein, hatte Friedhelm gesagt, und weil wir uns anpassen, erscheinen wir als Kollektiv. Bloß dem Harry genügt der Schein nicht.

Mir genügt er, sagte Friedhelm, als er am Tag drauf eintrudelte, die Hand in der Hosentasche, und das Jackett über die Lehne hing.

9

Steht unter einem unglücklichen Stern, deine Liebesgeschichte

Die Klasse stellte sich auf. Harry: Wir wollen singen. »Des Morgens wenn die Hähne krähn.« Waltraud Arlt, die Augen niedergeschlagen, stand da und dachte vielleicht: Von dem hab ich mich küssen lassen.

Hähne krähen wenigstens, sagte Harry, nachdem alle standen. Wenn man vor Beginn des Unterrichts die Freunde beobachtet, sträuben sich selbst dem Hahn sämtliche Federn.

Ich denke, es soll ein Lied gesungen werden.

Sind wir Pioniere, rief Gertraude von hinten.

Ihr seid FDJ-ler! Harry gab den Einsatz.

Mitgesungen hat Gertraude nicht.

Ich frage dich, was ist in den gefahren? Da war dann wieder Pause. Matters Stellungnahme hing am blauen Brett. »Wird ein Lied angestimmt, gefällt das einigen Freunden nicht, ja, sie müssen erst persönlich aufgefordert werden, sich zu erheben. Stehen sie endlich und das Lied beginnt, nun, so sind diejenigen nicht etwa schweigsam – beim Singen geht das schlecht – sie singen aber auch nicht; es gibt so viel zu erzählen, daß Singen Zeitvergeudung wäre.«

Gestern Umbenennung, heute Sangeskritik, erklärt mir das, sagte Irina leise, er denkt vielleicht, dass er mehr hervortreten muss, weil er nicht in der Partei ist, und arbeitet so was aus. Zufall kanns nicht sein. Sie las weiter:

»Und Freunde, habt Ihr schon einmal vorn gestanden und die Gesichter beim Singen gesehen? Das solltet Ihr mal tun. Die Augen sind noch verschleiert, ebenso die Kehle der wenigen, die noch mitsingen. Ölig und zäh kommen Worte und Melodien hervor geflossen. Ich bekomme jeden Morgen Angst, daß Ihr daran ersticken werdet. Freunde, es kommt darauf an zu singen, nicht schön, sondern kräftig, frei und fröhlich. Da gibt es keine Entschuldigung für Stumme. Jeder soll singen – jeder kann singen. Mit Freude und Lust geht alles. Wir sind keine Greise und müssen uns der fehlenden Zähne schämen. Es soll kein kunstvoller Kanon werden, aber die Freude am neuen Tag, die Freude am Leben, die Freude unserer Jugend soll morgendlich aus den Liedern erklingen. Dem bisherigen Gesang nach zu urteilen, müßten wir alle schon an Stöcken gehen, und vorbeigehende Straßenpassanten vermuten ein Altersheim, aber keine Schule, wo 90 Prozent unter 25 Jahre alt sind. Warum sollen wir nicht so singen können, wie es andere Klassen tun?

Ich bitte Euch alle: beteiligt Euch am Morgenlied. Zeigt, daß wir keine versauerten Tröpfe sind. Wenn wir es schaffen, unseres Gesanges wegen von der Schulleitung Singeverbot zu bekommen, dann können wir sagen: wir haben gesungen. So aber bekommt man Mitleid mit Eurer Quälerei und den verhunzelten Liedern. Wir wollen das Lied nicht des Liedes wegen singen, sondern damit zum Ausdruck bringen, daß wir junge, fröhliche Menschen sind. Manchmal steigen mir Zweifel hoch. Also zeigt, was Ihr könnt. Lasst mich nicht immer allein singen. Singt und redet nicht und legt mehr Gefühl in die Melodie. Über Kunst beim Lied zu reden, erübrigt sich, denn die will niemand von Euch fordern. Leipzig, 16.9.53. Harry Matter«

Singend in die neue Zeit zu gehen? Matter seine Idee war das nicht, meinte Friedhelm, das hat die Schule entschieden.

Ruth war in Leipzig zur Prüfung, sagte Johannes.

Bring sie mit, ich geh für dich zu Wolframs, darfst ihr bloß kein Kind machen.

Sie ist schon wieder weg.

Warum weißt du nichts?

Wie denn? Dass sie Aufnahmeprüfung hat, kam mit Postkarte. »Komme uns doch, wenn es Dir möglich ist, am Sonntag gegen 11 Uhr abholen. Alles andere mündlich. Herzliche Grüße. Deine Ruth und Maria.«

Abends, wie ich zu Wolframs komme, war die Prüfung vorbei.

Ich wäre hingefahren.

Zum Zimmernachweis?

Dann war das unlösbar, Hannes, du hättest nicht mal anrufen können.

Bei wem denn? Bei Kollegin Trautmann? Hol da mal jemand ran.

Der Unterricht fing an. Er schob Friedhelm den Brief hin. »In Leipzig kam die nächste Enttäuschung. Kein Mensch stand an der Sperre und holte uns ab. Wir waren bald am Verzweifeln. Maria konnte doch nicht richtig laufen.«

Als erstes sind sie zum Zimmernachweis. Zimmer sehr nett, nicht weit bis zur Schule. Die Prüfung ging Montag früh los, um Neun. 16 Uhr war Schluss. »Hoffnungslos. Erstens: 300 haben sich gemeldet und 200 werden bloß angenommen. Zweitens sind alle schon älter als wir. Der Schulleiter sagte mir persönlich, daß ich noch sehr jung sei. Drittens bin ich kein FDJ-Mitglied. Also kannst Du Dir denken, wie uns war«, berichtete Ruth.

Pause.

Friedhelm meinte, das hätte höchstens mit Telegramm an Wolframs geklappt.

Die beiden waren sogar auf der Kleinmesse. Die Wirtin hat sie dazu aufgemuntert.

Ich denke, sie hatte was mit dem Fuß, die Freundin?

»Das Schönste war, daß uns zu Hause niemand glaubte, wie hoffnungslos unsere Lage war. Dann bleibe ich eben in Ebersbach. Viele Grüße sendet Dir Deine Ruth. Briefumschlag der Kreispoliklinik-Apotheke. War damit eigentlich zufrieden.«

So groß kann die Liebe nicht sein, Hannes.

»Wenn sie uns nicht nehmen, sind wir wenigstens mal in Leipzig gewesen.«

Dann ihr Brief, der Mittwoch ankam. »Das Schicksal wollte es anders: Bestanden!«

Der verhängnisvolle Brief, schreibt sie. Freut sich gar nicht, ich verstehe das nicht, Friedhelm. Sie saßen im Klubraum. Drei Jahre nichts verdienen, würde ihr nicht gefallen, schreibt sie.

Ist für sie eben alles neu, ungewohnt. Ginge mir auch so. Oder die Liebe ist nicht so groß, kann auch sein, dass das so ist, damit musst du auch rechnen.

»Doch nun läßt sich nichts mehr ändern, und wir kommen am 15. Oktober nach Leipzig. Abholen kannst Du uns ja nicht, denn wir kommen um 11 Uhr in Leipzig an. Du hast doch um die Zeit noch Schule. Wir müssten uns dann eben was ausmachen. Mit unserem Treffen in Leipzig war es wirklich Pech.«

Schuld gibt sie dir nicht.

Wie gefällt dir denn meine zweite Heimat, hat sie noch gefragt und dass sie Betriebsfest hatte und furchtbar müde ist.

So eine Umstellung verändert alles.

Warum freut sie sich nicht?

Was weiß ich, Hannes. Weil sich für sie alles ändert. Steht unter einem unglücklichen Stern deine Liebesgeschichte.

10

Brigitta hatte den Autor von »Jungen, die übrig blieben« als Gruppennamen vorgeschlagen. War das falsch? Ich war schon immer für Majakowski, beteuerte Wolfgang Böckler

Böckler hüpfte in den Klubraum. Friedhelm beugte sich über die Tasten, spielte was Festliches. Ob es der Wolfgang schon weiß? Berlin hatte dem Ausschluss von Erich Loest aus der Bezirksorganisation Leipzig des Deutschen Schriftstellerverbandes nicht zugestimmt, und fast triumphierend ließ Friedhelm diese Überraschung hinübergleiten in Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja, das Böckler so liebte, zu dem er den Takt schlug, mit Fingern seiner gesunden Körperhälfte.

 

Friedhelm nahm die Finger von den Tasten, knetete sie. Dass sie den Ausschluss nicht bestätigt haben, wirst du mitgekriegt haben. Ja, da staunen wir, sagte Friedhelm. Was Böckler nuschelte, war nicht zu verstehen. Den wir umbenannt haben, kennst du den? Nö. Ich wollte immer Majakowski. Weißt du, wie der aussieht? setzte Friedhelm nach. Ist jetzt auch egal, er bleibt. Hast ihn also noch nicht gesehn? Böckler presste den Mund zusammen.

Macht nichts, ich auch nicht. Friedhelm richtete sich auf, lächelte, sang: Und ein Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen darauf wird entschwinden mit mir. Friedhelm machte den Rücken rund, als Wolfgang verschwand. Mit einem Rumpfbeugen, bei dem die Stirn fast die Tasten berührte, spielte er einen Rausschmeißer.

Ich soll euch holen, auswerten, sagte Johannes, da war Böckler bereits unterwegs. Die diskutieren schon. Sie saßen wieder zwischen den schiefen Wänden.

Joachim lachte. Der junge Schriftsteller, wie er ihn nannte, bleibt drin. Hast du damit gerechnet? Mit allem, bloß damit nicht. Und du, Friedhelm? Nie im Leben.

Politik. Ich habe nichts gegen Majakowski, um den geht’s gar nicht. Unsre beiden werden das lösen. Hast du Loest mal gesehn, Jochen? Du auch nicht? Wir alle nicht, außer Brigitta, hoffe ich. Die wird wissen, wie er aussieht, Hannes. Sie hat ihn vorgeschlagen. Ich sage dir, hier gabs zwei Richtungen, die eine hat gesiegt, die andre ordnet sich unter, das wird, wie’s aussieht, Leipzig sein, und du wirst nichts hören, was da vor sich gegangen ist.

Das weiß von uns keiner, auch Brigitta nicht, sagte Hans Joachim.

Rudi Gernitz und Pockrandt erschienen. Ihr seid die Letzten, die diese Vorstellung besuchen, sagte Irina, sonst seid ihr meist vorne dran. Typisch Irina, wie sie das sagte.

Du bist dran, Brigitta.

Soll ich, Evi? Liebe Freunde, redete sie die Gruppe an.

Ich dachte, sie ist von der Bildfläche schon verschwunden, meinte Johannes.

Es werden an der Wandzeitung Vorschläge gebracht, den Namen »W. Majakowski« beizubehalten.

Wer sagt das? Es gibt die Meinung, egal, wer es gesagt hat, unser Wolfgang wird’s nicht gewesen sein.

Ich war schon immer für Majakowski, beteuerte Böckler.

Hör mich erst mal an, Wolfgang, wir dürfen jetzt nicht wieder übereilt handeln, ist meine Meinung, und müssen die Diskussion im Rahmen der Schule abwarten.

Warum im Rahmen der Schule? Wir bilden uns selber unser Urteil, sagte Waltraud Arlt, ich hoffe, alle sehen das so. Brigitta hat mit Erich Loest gesprochen, er wird nach dem achten Oktober zu uns kommen, und wir werden uns mit ihm auseinandersetzen.

Warum nach dem achten? Wegen dem Siebenten. Weil da Festveranstaltungen sein werden.

Ruths Brief war ihm durch den Kopf gegangen, die Termine, sie saß in der Prüfung, und die Gruppe stritt um die Umbenennung.

Ich hoffe, dass ihr bis zum achten Oktober bei dieser Diskussion an der Wandzeitung eure Meinung zum Ausdruck bringt. Ich erwarte die Stellungnahme vieler Freunde.

Der achte Oktober ’53 verstrich. Loest erschien nicht. Ruth teilte am zwölften mit, sie kommt am Donnerstag und wie wir uns treffen. »Schnell ein paar Zeilen in der Mittagspause«, schreibt sie. »Ich hab in den letzten Tagen wirklich keine Zeit gehabt. Also mit der Schule hat es nun geklappt. Ich hatte nämlich noch einmal wegen dem Stipendium angefragt. Es hieß doch, wer über 300.- DM bekommt (also meine Mutter), kann nicht mit einem Stipendium rechnen. Daraufhin bekam ich die Mitteilung, daß ich bei guten fachlichen und gesellschaftlichen Leistungen mit 150.- DM rechnen kann. Da käme ich ja aus. Jedenfalls komme ich Donnerstag um 11 Uhr in Leipzig an (mit Maria und Helga Nusser). Auf die Fahrt mit den Beiden freue ich mich schon ganz besonders. Mit Maria könnte ich mich stundenlang zanken. Na ja, der Klügere gibt nach. Hoffentlich klappt es nun mit unserem Wiedersehen. Wenn es Dir recht ist, kannst Du uns ja 14.30 an der Pharmazie­schule abholen. Entschuldige bitte die schlechte Schrift und die Geschäftspapiere, aber es musste schnell gehen. Viele Grüße bis Donnerstag Deine Ruth.«

Länger konnte die Gruppenleitung nicht warten. Brigitta entschied früh, die Versammlung am Donnerstag durchzuführen, sie hatte den Schriftsteller noch einmal für Donnerstag eingeladen, nach dem Unterricht, und da stießen die beiden Termine zusammen, der von Ruth, der von der Versammlung. Er hatte angerufen, vergebens. Ich hätte ein Telegramm schicken müssen.

Pockrandt machte Anstalten, sich neben Brigitta hinzusetzen. Sie sah zur Wandzeitung. Auf blauem Fahnenstoff der Gruppenname.

Können wir endlich anfangen, Gertraude?

Ich sag ja gar nichts.

Es gibt überhaupt keinen Fall Loest, meinte Pockrandt, es gibt einen Artikel mit Fehlern, weiter nichts.

Brigitta zögerte, und Matter fing an: Wankelmut und Unentschlossenheit sind das, wenn sich von unserer FDJ-Gruppe von achtundzwanzig FDJlern noch kein Freund bereitgefunden hat, seine Meinung über das zur Diskussion gestellte Problem abzugeben. Niemand hat den Mut gehabt, was dazu zu schreiben.

Pockrandt dazwischenredend: Alle tun so, als hätten sie diese Entscheidung vorausgeahnt, ich nicht, Harry.

Uns ist ein Fehler unterlaufen, keiner ist jetzt an diesem Fehler schuld und zu seiner Meinung zu bewegen, werdet ihr sagen und fragen, was es nutzt, eine Meinung zu haben?

Nichts, sagten die Augen der Jugendfreundin Otto, die Harry ansah, verschlossen, wie sie war, Findelkind, was anfangs nur Irina wusste, in einer Sammelstelle in Thüringen hatten sie das Kind aufgelesen.

Harry wartete auf Antwort, sagte dann: Ist euch egal, denkt, ihr könnt daran nichts ändern,

Freunde, sagte Gernitz, uns ist ein Fehler unterlaufen.

Ich bin für Majakowski, Rudi, ich sage offen meine Meinung. Nöch? Beim Skat! rief Hans Joachim dazwischen.

Wolfgangs Gesicht ging zu wie eine Wickenblüte, wenns dunkel wird. Ich war von Anfang an für Majakowski, Jochen.

Warst aber sehr leise.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, erhärtet wird es erst durch Erfahrung. Wie seit Juni, was Harry nicht sagte, als er fortsetzte. Ihr seid doch sonst nicht auf den Mund gefallen, im Unterricht schon gar nicht, bloß die schönsten Meinungen verstecken sich allzu schnell wieder. Fehler können gemacht werden. Vorwürfe erheben und selbst dreimal klug oder schweigend daneben zu stehen, liegt nicht im Sinne einer neuen, heranwachsenden Jugend. Brigitta hatte den Autor von Jungen, die übrig blieben für den Gruppennamen vorgeschlagen. War das falsch? Hat sie sich was vorzuwerfen? Die eigene Meinung braucht nicht in ein anderes Ohr geflüstert zu werden, um nachher behaupten zu können, ich hab es vorher gewusst. Scheinbar haben die Freunde den 17. Juni vergessen und nichts draus gelernt. So viel von mir zur Diskussion, ich sehe, ich habe zu lange gesprochen.

Sagst du uns noch: Möchtest du bei Majakowski bleiben oder zurück?

Ich will die Diskussion nicht gleich in eine bestimmte Richtung lenken, Evelyne.

Majakowski, sagte jetzt Rudi Gernitz.

Wollte Harry Matter sagen, dieser Siebzehnte hätte verhindert werden können, hätten alle offen geredet?

Ruths Brief hatte Johannes tagelang in der Tasche gehabt. Im Mai hätte ich hinfahren müssen. Er sparte das Fahrgeld und war nicht nach Ebersbach gefahren.

Entfernung, alles Quatsch. Sie hatte Sehnsucht, sagte Friedhelm.

Sie können niemand ranholen, hatte man im Sekretariat gesagt, ganz ausgeschlossen, die vielen Schüler, die ankommen. Ich muss sie Freitag erreichen, aber Freitag war Heimfahrtwochenende. Ich muss zuhören, was Gernitz sagt.

Die Genossen in Leipzig sind der Partei gefolgt, das war die Erklärung. Er zwang sich zuzuhören. Die ganze Schule lacht. Der Wind drehte sich plötzlich.

Wir waren doch scharf auf einen Namen, um zu zeigen, wir sind voraus, sagte Friedhelm, wir haben den Namen dann fallen lassen, und was sehen wir? Es wäre nicht nötig gewesen. Die in den Elfenbeintürmen hätten anfangen müssen, die Dienststellen, Ministerien, die Partei, die Behörden, Institutionen und Ämter, das hatte Loest gesagt.

»Schreibt die Wahrheit!«, sagt Günter Cwojdrak, es passierte nicht, es waren Einzelne. Wie der junge Schriftsteller.

Meine Meinung zu dem Fall Loest, meldete sich Uta Schäfer, ist die: – Was heißt hier Fall Loest?

Entschuldige, Brigitta, aber dass unsere Klasse bzw. Gruppenleitung in dieser Sache viel zu voreilig gehandelt hat, stimmt. Ich glaube, wir machen uns in der ganzen Schule lächerlich, wenn wir uns wieder in »Erich Loest« umbenennen. Deshalb bin ich dafür, den Namen »Majakowski« weiterhin beizubehalten, schließlich hat er in der Literatur mehr Bedeutung als Loest.

Friedhelm kippelnd: Was hat das mit der Bedeutung zu tun, Uta? Ob unsre Entscheidung richtig war oder falsch, steht an.

Denke ich auch, aber fall nicht vom Stuhl, sagte Irina.

Jochen hatte sich von Anfang an für Loest eingesetzt. Meine Meinung ist: Unsere Klasse trägt weiter den Namen »Erich Loest«. Das sind wir dem Schriftsteller, der mit seinem Artikel nicht das bezweckte, was aus ihm herausgelesen wurde, unbedingt schuldig. Die sogenannte Umbenennung war völlig ungerecht, übereilt und ziemlich lächerlich. Er sah zu Rudi hin und von dem zu Klaus Pockrandt: Was alles nicht so schlimm wäre, wenn die gesamte Klasse eine genügend begründete und nicht kränkende Umbenennung einstimmig durchgeführt hätte.

Rudis Hand ging hoch.

Ich bin noch nicht fertig. Du hast unsre Meinung dahin zusammengefasst, Majakowski solls sein, abgestimmt haben wir darüber nicht. Oder? Ich hätte widersprechen müssen, habs sein lassen, weil … Jochen redete erstmal nicht weiter, und Rudi zog den Arm ein.

Ich erinnere mich gut, als der Artikel erschien, und einige Freunde dachten, noch schnell ihre Meinung ändern zu müssen, Ihr wisst, welchen Artikel ich meine. Das zeigt sehr wenig eigene Meinung. Eine restlose Klärung werden wir bestimmt erst bei einer Aussprache mit Erich Loest erreichen.

Jetzt du, Waltraud. Sehr aufgeregt war sie.

Erst Waltraud, dann du, Rudi.

Ich bin für Erich Loest. Unschuldig haben wir ihn vor einigen Wochen aus unseren Reihen gestoßen. Warum und wieso, darüber ist genug geredet worden, bloß nicht an der Wandzeitung. Jeder von uns weiß, dass wir, als wir uns in Majakowski umbenannten, übereilt gehandelt haben. Durch die Wiederbenennung können wir diesem jungen Schriftsteller die ihm gebührende Achtung wieder erweisen.

Den Fehler haben wir gemacht. Evelyne stand auf. Ich muss gehen. Wird der Fehler korrigiert, wenn wir uns schnell wieder zurückbenennen? Ich glaube, nein! Wir sollten ruhig bei Majakowski bleiben, was gar keine Nichtachtung für Erich Loest bedeutet. Wir dürfen uns nicht lächerlich machen vor der ganzen Schule.

Warum bin ich nicht losgefahren? Zu Ruth in die Schule? Evelyne geht einfach.

Rudi war aufgestanden. Für uns ist der Fall Loest zum Reinfall geworden. Durch weitere Fehler kann er uns zumindest vor der Schülerschaft lächerlich machen. Der tatsächliche Fehler lag durch voreiliges Handeln bei uns.

Entschuldige, Rudi, wolltest du die Namensänderung nicht vor den Ferien schon durchsetzen?

Stimmt. Seh ich als Fehler an, dass ich nicht dabei geblieben bin, weil ich von Anfang an für Majakowski war, wandte er sich der blonden Waltraud zu. Die Namensänderung ist an und für sich kein Fehler. Uns hätte der in aller Welt bekannte Majakowski früher einfallen müssen. Es ist beschämend, dass erst durch einen allgemeinen Irrtum unsre Gruppe den Namen des großen sowjetischen Dichters trägt, deshalb schlage ich vor, heute nicht zu entscheiden.

Brigitta überrascht, beugte sich vor. Als nächster Friedhelm.

Ich will ein paar Punkte aufgreifen. Zum ersten. Dass schnelles, übereiltes Handeln falsch sein kann, haben wir bei der Umbenennung erkennen müssen. Zweitens. Sollen wir etwa wieder eine Umbenennung von Majakowski zu Loest vornehmen? Ein solches Umherirren ist lächerlich. Drittens. Den Namen Majakowski können wir beibehalten, denn von beiden Schriftstellern ist Majakowski doch wohl der größere.

Darum geht’s nicht, Friedhelm.

 

Nehms zurück, Jochen. Was bleibt übrig? Man sollte mit einer Namensgebung kein Würfelspiel treiben.

Die Rückbenennung passt nicht zu der Hochachtung, die ich für Majakowski habe. Die Jungen hab ich verschlungen, da war ich Lehrling. Annelies Müller, ewig in Strickjacke, protestierte. Ich war dran, Hannes. Die ganze Schule lacht schon. Wenn wir uns wieder umtaufen, und Loest macht noch einen Fehler, dann dürfen wir unseren Namen wieder ändern. Es wäre besser gewesen, die öffentliche Diskussion über Loest abzuwarten.

Als letzte sagte Christel Porzelle ihre Meinung. Ich bin für Majakowski. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Loest nochmals Fehler begehe, wir wären dann gezwungen, unsere Klasse wieder anders zu betiteln.

Pockrandt rief dazwischen: Opportunismus! Diese Linie, wie bei Annelies, ist für den bei einigen Freunden vorhandenen Opportunismus ganz typisch.

Sag das in der Diskussion, Klaus!

Brigitta entschied: Pause.

Friedhelm beim Rauchen unter vier Augen: Loest hatte den Leipziger Verband gegen sich.

Ich denke, die hier den Verband lenken, hatten entschieden, bloß hatte die andre Richtung mehr Macht, war Joachim überzeugt.

Auf die Richtung kommts an, denke ich auch.

Er hatte Ruth anrufen wollen. Sinnlos. Privat gar nicht, gehen Sie zur Öffentlichen, hatte Frau Trautmann gesagt, Münzen kann ich Ihnen geben, da brauchten wir ja ein Telefon bloß für Privates. Sie hat mich stehen lassen.

Hätte ich dir vorher sagen können.

Die Pause war zu Ende. Joachim, Waltraud und Regina unterstützten Loest, andre konnten sich nicht entscheiden. Pockrandt reckte den dicken Kopf. Der Name eines lebenden Schriftstellers berge immer die Gefahr in sich, dass dieser Schriftsteller politische Fehler machen könne und man »um des lieben Friedens willen« …

Du hängst mir was an, Klaus, was ich nicht gesagt habe!

Im Falle Majakowski abzuwarten, was drückt das aus? Was ist das für eine Lebensauffassung, frage ich die Jugendfreundin Müller, die aus Anpassung und dem Nachsprechen der offiziellen Meinung besteht? Ich wenigstens lehne ihre Stellungnahme entschieden ab. Wir sollten Annelies helfen, diesen Fehler zu erkennen.

Nie habe ich behauptet, um des lieben Friedens willen …

Du hast gesagt, weil man politische Fehler machen könnte. Was ist das anderes als Opportunismus? Er wartete auf Antwort, sie zögerte. – Gut, ich sags anders. Erkläre mir mal, Klaus, warum das Opportunismus sein soll, Anpassung, bloß Nachsprechen, wenn der Artikel im Börsenblatt, um den es sich drehte, sie fand den Titel nicht, suchte Evelyne, die gegangen war: Helft mir mal.

Elfenbeinturm und rote Fahne, sagte Jochen..

Ja, den. Rudi und Klaus behaupten was dagegen, gegen Loest, und schon springt ihr. Für einen Augenblick war es ganz still. Sie hörten die Straßenbahn.

Mit dir setz ich mich nicht auseinander, Annelies.

Dass du Loest ranholen wolltest, war gut. Rudi war dafür, wir sollten noch einen Versuch machen, obwohl ich eine Mehrheit für Majakowski sehe.

Meldung bei Harry.

Gleich, aber ich muss erst was loswerden. Egal, wie wir künftig heißen, ich lege meine Funktion nieder und schlage für die nächste Wahl Harry vor.

Jetzt du.

Dass ich mich zu diesem Antrag nicht äußere, werdet ihr verstehen, was sie nicht verstanden, aber niemand reagierte auf Harry. Ich rede zum Wettbewerb um die beste Klasse, den wir seit 1. Oktober führen. Sonderlich gut stehn wir nicht da, und es wäre ein Triumph für uns, einmal in jeder Hinsicht als Erste in der Schule zu gelten. Selbstüberwindung üben und Disziplin, gerade bei denen, die sich als ältere Freunde immer so reif und verständig hinstellen. Wie Verpflichtungen eingegangen und nicht gehalten werden, ist uns allen in Erinnerung, und ich möchte sämtliche Funktionäre, die eine solche unterschrieben haben, darauf aufmerksam gemacht haben.

Wieder holte Harry weit aus, bevor er sagte: Wir dürfen uns nie über andere beklagen, wenn wir selbst einen losen Haufen bilden. Drum, liebe Freunde, gebt auf euch und den Nachbarn acht, haltet Ordnung und lernt für eine bessere Zeit. Verhelft unserem Kollektiv zu einer besseren und größeren Leistung.

Die Rückbenennung blieb auf der Tagesordnung. Wichtig war, dass sich Harry Matter zum Schluss zur Wahl stellte.

Klar wird gesteuert. Da saßen sie schon in der Straßenbahn, als Johannes das sagte, bloß Brigitta spielt nicht mehr mit.

Vom Hinterhof waren Schritte zu hören. Das war dann schon spät abends. Wolfram kam angetappt.

Böckler hatte die Sache mit dem Mitgliedsbuch schleifen lassen, und jetzt geht das in der Gruppenversammlung weiter.

Mutters Fragen, ihre Briefe. »Kommst Du mit den Hemden aus? Du hast ja meist nur Sommerhemden mitgenommen. Lass es nicht am Essen fehlen. Nimm viel Zucker. An die Luft gehen. Hast Du das Bett bezogen? Der Hultsch Robert ist gestorben. Wir sind die nächsten, die gehen.« Der hagere Mann mit dem schwarzen Hut war das, der den Kranz niedergelegt hatte für Gerber Lehmann. Inzwischen war die Gerberei volkseigen. Lene steckt mit Stundengeben in tiefster Arbeit, schrieb Mutter, viel Probenarbeit, Konzerte. Vater nannte sie eine alte Nazisse wegen damals, als die Lene keine Zeit für Besuch hatte, weil in Pirna der Führer sprach.

Jürgen war im Zirkus, schreibt Mutter. Sonst dreht sich alles um mich, dachte er. »Wir wissen so wenig von Dir.«

Warum habe ich Mutter von Ruth nichts gesagt?

11

Will mich nicht reinwaschen. Die Schuld bleibt, bloß gehen die am Rhein spazieren, als ob nichts gewesen wäre

Heimfahrtwochenende.

Ruth war seit gestern Fachschülerin. Die Pharmazieschule ständig besetzt. Haben Sie Verständnis, ich kann nichts übermitteln. Bei so vielen Schülern. Mehr kann ich nicht tun für Sie, hatte ihm Frau Trautmann wieder erklärt.

»Entgegen dem kühlenden Morgen, entgegen am Flusse dem Wind, Was sollen noch jetzt deine Sorgen, Wenn froh die Sirene erklingt«, werden sie vielleicht singen, bevor der Unterricht anfängt.

Entengrütze bedeckte den Teich, in dem sich kein Himmel spiegelte, als er zu Hause ankam.

Trink, iss, Junge. Bist so ernst.

Mir ist die Schmidt Anna auf der Treppe begegnet.

Musst leise sprechen.

Vater brachte Flaschenbier. Mutter hatte Einkäufe am Fahrrad hängen. Was du transportierst, beängstigt mich, sagte er zu Johannes. Die Kasper Martha will im Haus wohnen, als Besitzerin, was ich verstehen kann, sie wird sich reindrängen, vielleicht wird das Wohnungsamt jetzt reagieren. Du bist in Leipzig, zählst nicht, Jürgen ist Schulkind. Sie setzten sich in die Küche. Sie werden uns mehr Wohnung geben müssen.

Die Erlen vorm Fenster hatten die Blätter verloren. Unvermittelt sagte Mutter: Meine Jugendfreundin hat sich gemeldet, sie lebt, Marie Antonia, geb. Gräfin zu Stolberg-Wernigerode, Kupferhaus, Dierdorf, Bezirk Koblenz. Über ein Lebenszeichen würde sie sich sehr freuen, schreibt Klärchen aus Strahwalde, die das vermittelt hat. Lange her alles. Mizi hat aus erster Ehe zwei Söhne und die Tochter und aus zweiter Ehe zwei Kinder. Ich bin gesund, schreibt Klärchen, was will man sonst auch schreiben?

Was soll die Gräfin mit uns anfangen, Edith, ich als rausgeschmissner Beamter?

Ist sie ja nicht mehr, Gräfin. Vielleicht kann sie dir bessre Arbeit beschaffen. In der Güterverwaltung? Im Park?

Als Hofgärtner? Inspektor? Dort passe ich nicht hin. Die Kollegen gehn inzwischen am Rhein spazieren in ihrem Beruf. Du willst nicht fort, also muss ich bleiben.

Erinnerst du dich an die Herrnhuter Windmühle, Hannes?

Ich sollte schaukeln.

Das letzte Mal war das, dass wir uns gesehen haben, als sie uns herumgeführt hat, sie in Trauer.

Ich wollte nicht schaukeln.

Georg hörte nicht zu. Der Rhein erinnerte ihn an das Finanzamt, an damals. Diese Uniform hab ich gehasst, du weißt, welche ich meine, jung verheiratet, wie wir waren, und ich fürchtete, die entlassen mich. Die Furcht hatten vielleicht alle, sagte einem ja keiner, was, und keiner wusste, wie’s ausgeht. Will mich nicht reinwaschen. Die Schuld bleibt, bloß sind die am Rhein, als ob nichts gewesen wäre. Mir sagte Gommon, katholisch, dass ich der Letzte bin, der außer ihm noch da ist.