Abschiednehmen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Erst die Mutter. Ja, ich bin durch, sagte sie nach einer Weile und gab Edith den Brief. Aber laut, rief die Tante.

»Hier ist endlich auch einmal eine geschlossene Schneedecke, und heute war Pulverschnee, wie er zum Skifahren gebraucht wird. Ich sehe unsern kleinen Lauser im Geiste vor mir, wie er mit seiner Mutti auf dem Rodelschlitten sitzt und den Berg bei Hempels heruntersegelt.« Ich überspringe was. »Ja, es gab schöne Sachen und Genüsse, damals, zu Weihnachten, auf die wir jetzt nur hoffen können.« Am Fenster die Tante seufzte. »Die Päckchen, die ich Euch geschickt habe, werden zu den Fischen gegangen sein, sonst hättest Du sie erwähnt.« Er bedankt sich für die Äpfel, die Zwiebeln. »Habt Ihr denn genug, dass Ihr mir welche schicken könnt? Ich bitte aber nochmals dringend, keine Wintersachen usw. zu schicken. Du kannst ein oder zwei Paar von den reparaturbedürftigen Socken beifügen, sonst aber nichts. Auch andere Lebensmittel außer Zwiebeln und Äpfeln will ich auf keinen Fall haben. Wenn Du von den guten Kartoffeln und Quark schreibst, bekomme ich gleich Appetit, Kartoffeln sind für uns eine Delikatesse.« Die armen Kerle. »Es hat im Januar noch eine zweite Zweikilo-Marke gegeben. Ich lege sie bei.«

Sind inzwischen auch wertlos, man kriegt hier auch nichts mehr dafür, sagte Christiane.

Wegen der »Winterhilfe« hat Georg gefragt, was ich zuerst reingeben soll, und was mit der Uniform wird. Den Stoff nehme ich am besten für die Kinder, den lasse ich liegen. Denkst du nicht auch, Mutter, dass das richtig ist?

Er meint, so verstehe ich den Brief, Edith soll die Uniform weggeben, sie wandte sich ihrer Schwester zu. Der schämte sich mit dieser Mütze, sagte die Tante, er wollte nicht gesehen werden. Mit greisenhaftem Kichern: Ich glaube, bei mir hat er sie nie aufgehabt. Georg schrieb: »Du schreibst wegen der Stoffsammlung«. Abgeben kann ich nicht mehr, Mutter, weil die Sammler nicht mehr da sind, vielleicht sollte ich auftrennen?

Was?

Die Uniform

Laut. Ins Ohr, rief die Tante.

»Den Mantel werde ich abgeben müssen. Sonst ist wohl weiter nichts mehr da. Von meinen anderen Sachen kann ich nichts entbehren.«

Ich denke, er will den Mantel behalten. Wie soll er sich denn verständlich machen, Kind? Ich denke, Georg möchte mit der Uniform nichts mehr zu tun haben. Die Mütze wird vielleicht auch gebraucht, gib sie hin.

Die ist bei der »Winterhilfe«.

Christiane nickte. »Bei der nächsten Sammlung kannst Du eventuell die Bluse oder die Hose mit abgeben, oder Du machst es umgekehrt und gibst zuerst den Mantel ab. Ich würde den dicken Mantel zur zweiten Sammlung abgeben.« Also will er den Mantel behalten. »Die Zeltplane solltest Du nicht mit abgeben.«

Die Tante kicherte. Inzwischen sind die Russen dagewesen.

Du musst los, Kind!

Sie sei dagegen gewesen, sagte die Tante, dass Georg eingetreten ist – ich bin Beamter, der Staat wird mich entlassen.

Christiane gab ihr zu verstehen, dass sie dazu nichts hören wollte, weil das nichts änderte.

Lies alles vor, verlangte die Tante, als wär der Brief ein letztes Lebenszeichen. »Mit den Spinnstoffen wird es sehr knapp werden. Für die Jungen wirst Du kaum noch etwas zu kaufen bekommen, und es wird nur der Weg bleiben, aus meinen Sachen etwas zu machen.«

Georg weiß, wie’s nach dem Ersten Krieg war, sagte Christiane, er war aus den Schulhosen rausgewachsen, und Paul, Tante Maries Sohn, sagte, der Kaiser ist weg.

Die Neunzigjährige hatte das schlohweiße Haar zum Zopf geflochten, unter der Stoffrolle aus Sackleinen, die überm Fenster hing, sah das aus, als hätte sie den Stoffknäuel auf dem Kopf. Grete wird bei ihrer Kirche in Sicherheit sein, sagte sie.

Auf der Gasse waren Stiefel zu hören.

Kind!, mahnte die Tante.

Georg lässt Anneliese und Christian grüßen. Anneliese war mit dem Fahrrad unterwegs nach Wartha, zu Christian, und hat nicht gemerkt, dass sie den Russen entgegenfährt. Lebten sie? Sie schwiegen.

Ich hab Alfred gut versorgt, wie er bei mir war, Mutter. Christiane konnte die Tränen nicht zurückhalten. Er hätte ins Lazarett gekonnt, sagte sie.

Wenn Edith an Anneliese dachte, hing sie an Alfreds Arm. Das Bild hatte sie vor Augen. Sie sah Christiane weinen. Alfred lachte, er nimmt das Leben leichter. Wer hat da wen eingefangen? Umworben wie sie war, begehrt von den Herren Seminaristen, umschwärmt, das Kleid tailliert. Er überragte die schöne Lehrerstochter. Mir hat Alfred auch gefallen, die Deckelmütze stand ihm, seit er als Zahlmeister eingerückt war, danach in Thorn, ich glaube so hieß die Stadt, wo er stationiert war. Zweimal hat ihn Anneliese besucht, zweiundvierzig im Frühjahr ein letztes Mal, da teilten sie die Wohnung mit einem anderen Zahlmeister und seiner Familie.

Kind, du musst fort!

Bloß die Tante steckte die Hand durchs Fenster.

Was ich aufgeschrieben habe, liegt im Keller, ganz zum Schluss sagte das Georgs Mutter, wenn ich sterben sollte.

Über den Burglehn musste sie das Rad tragen, Glasscherben, alles voll, auch die Steintreppe herunter zur Michaeliskirche, die ausgebrannt war. Der Himmel hatte sich zugezogen.

In Frankreich haben wir so gefischt, sagte Gustav, als Edith am Tisch saß und erzählte, wie es im Wasser krachte. Sie war am Einschlafen. Sie hatte den Brief auf den Tisch gelegt. Ich bin erlöst, sagte Hedwig, ich bin dir sehr böse, da schlief Edith schon. »Auf Urlaub ist bei den jetzigen Verhältnissen wohl nicht zu rechnen. Es sieht jeder vernünftige Mensch ein, daß eine Urlaubsfahrerei über das unerläßliche Maß (Bombentotalgeschädigte, Todesfälle usw.) gar nicht möglich ist. Solchen Sonderurlaub will ich nicht haben. Wir wollen geduldig warten, bis es wieder vorwärts geht an der Front. Es muß durchgehalten werden, bis wir am Ende doch siegen. Sonst haben alle Träume von der Zukunft keinen Sinn.« Der Lastwagen war über die Böschung geschoben. Der Rückspiegel fing den Himmel ein, der grau war. Im Traum kehrte dieses Bild zurück. Die Tante legte die Hand ans Ohr. Kind, lauter reden, sie hört schwer! Im Traum erschien auch der blonde Junge, der sich vom Lastwagen herunterbeugte.

13

Bernhard, mir ist ganz drehend, sagte Hedwig. Spät abends war das grüne Dreirad zurück. Warum hab ich Edith fortgelassen?

Fällt jetzt das Haus ein? Hedwig hatte dieses Gefühl. Auf der Treppe fremde Leute, die mit dem Finger zeigten, die sich nahmen, was sie brauchten. Dem Eichenwirt hatten sie Flüchtlinge auf den Saal gelegt. Die bleiben, Hedwig. Frauen, die rauchten. Mit Kreide schrieb ein Offizier Zahlen an die Tür, redete russisch. In der Schule Verwundete. Alfred, mir geht’s manchmal gar nicht gut. Der Eichenwirt stand vor ihr, schmal geworden, die Nase spitz, das Gesicht durchscheinend.

Der Patzig-Vater hatte für Alfred an der Dresdner Straße diesen Gasthof hingestellt, mit Schützenhalle und Rummelplatz. In der »Eiche« hatte das junge Paar Hochzeit gefeiert. Inge war die Tochter. Sie konnte nicht warten. Wenn sie ihr Hochzeitsbild sieht, weint sie. Ich glaub nich dran, dass der Inge ihr Mann wiederkommt, hörte sie Alfred sagen. Eine hat die andre verrückt gemacht, nu heulen und trauern sie alle, brummte Bernhard. Er war der jüngste von den Geschwistern. Wenns brenzlig wird, und der Russe kommt, zieht ihr in den Busch. Bernhard sah aus wie die Mutter, sie hatte dunkles Haar, noch als sie im Sarge lag. Bloß ich bin schneeweiß geworden. Auf die Mistgabel gestützt, sah Bernhard Hedwig an. Wohin mit den Kühen? Die machen Krawall, wenn sie nischt kriegen. Die nischt haben, setzen die Hühner in den Korb und warten, bis der Russe durch ist.

Alfred, du hörst mir nicht zu, aber es war nicht Alfred, mit dem sie redete, es war Bernhard. Ich führe Selbstgespräche, stehe wie vorm Spiegel, weil ich nicht schlafen kann. Hedwig nahm den Abschneider. Am Alten Bethlehemstift stand das Türchen offen, das den Schulweg abkürzte. Zur Selma muss ich nicht gehn.

Bernhard, mir ist ganz drehend, sagte Hedwig, die ihre Verwandtschaft im Schlaf durchgegangen war. Jedes von uns Sechsen hat seinen Teil bekommen. Bernhard, sagt Hedwig, Georgs Mutter lebt. Handgranaten sind in den Garten und aufs Dach geflogen. Selma fiel ihr ein. Adeles Mann, den Erwin, holen sie nicht mehr. Als Selma mit dem Ernst Silberhuxt feierte, war Frieden. Ernst war immer im Steinbruch gewesen. Wenns nötig war, hat er noch abends geackert oder am Sonntag Holz gehackt. Holzschuhe anziehn, Bemmen nich vergessen, Steine spellen, behauen, schleifen, in der Holzbude auf den Feierabend warten. So verstrich sein Leben. Wenn der Ernst feiert, setzt er alle an den Tisch, die ganze Verwandtschaft, meinte Gustav, damit zu sehen ist, dass er’s bezahlen kann. Er rückt Tische zusammen, stellt die Kuchenteller auf. Ernst war Kuchenesser und Kaffeetrinker. Streefl, Streifen hießen die Stücke, die wurden aufgesetzt zu kleinen Säulen, aus Streusel-, Quark-, Mohn- und Kleckselkuchen, da waren Mohn, Quark und Pflaumen gemischt. Bienenstich gabs und dünnen, leichten Zuckerkuchen. Hedwigs Galle regte sich.

Mir wulln nich joammern, sagte Ernst, mir sein drheeme, nich uuf dar Stroasse, nich bei’n Suldooten.

Bin die Wege abgegangen, Gustav. Meinen Anteil vom Erbe hast du verbaut, die Mühle. Er hat Trost gesucht und gefunden.

Da hörte sie Edith über die Treppe poltern. Sie bugsierte den Reisekoffer, den mit Tragegriffen, über die Bodentreppe. Das war der Augenblick, als Hedwig aufwachte. Ich bin in Sorge.

Adele wird auf die Flucht gehn zur Schwester, die das schöne Haus in Sebnitz hat. Selma hat das eingerührt, Edith wird vermutlich mitgehn. Der Schlenkrich Otto wird sie hinbringen mit Erwin, den Kindern, der fährt das Dreirad. So teilte Selma die Gefahr. Wie vom Patzigerbe bekam jeder ein Stück zugeteilt, jetzt bestimmte Selma. Von uns war sie die älteste. Wenn die ne Heemfuhre machte, sollte ich auch eine machen. Wenn Hedwig den Feldweg nahm, das fiel ihr ein, durchquerte sie Patzigfelder, egal, wer der Pächter war. Der Dornbusch hing mit Hagebutten voll. Jetzt standen die Buden auf dem Steinbruch leer. Berlin hatte zu Ende gebaut. Ach, wie flüchtig sind der Menschen Sachen! Gustav, was hast du mir aufgeladen? Sie ging die Fichtenhecke lang, jedes Jahr hat sie der Zeidler kurz geschnitten, der war gefallen, als alle jauchzten vor lauter Siegen.

 

Träume sind Schäume. Hab ich auch gejauchzt? Die Seibt Elise, Ediths beste Strahwälder Freundin, schwärmte von Kraft durch Freude. Wenn was spaßig war, was haben wir gekichert. Ich weiß, Herbert, der bei Siemens arbeitet, den braucht der Betrieb. Ich weiß, warum Frauen, die ihre Männer noch haben, am liebsten ins Loch kriechen, sagt sie. Wenn jemand schwarz geht, wie die Lehrersfrau, hab ich weggeguckt. Hedwig tat die Galle weh. Ich habe auch gewartet, damals, als du in England warst. Hedwig stand auf. Gustav war aufgestanden, saß in der Küche, setzte das Auge ein, das er die Nacht über in die Henkeltasse legte. Ich hab gewartet, das Kind hat gewartet, bis Nachricht kam.

Beide löffelten sie Mehlsuppe, in die ein Schwapp Ziegenmilch kam. Heute hatte Gustav gemolken. Sie sah in Ediths Augen Tränen.

Mädel, um Himmelswillen!

Muttel, ich hab Angst.

Vater wird uns erschießen, wenn die Russen kommen. Da war Gustav nicht mehr in der Küche. Die Amerikaner werden die Tschechei besetzen, sagt Adele, Erwin sagt das auch.

Längst war Feuer im Herd.

Kind, Angst musst du nicht haben. Das Gewehr liegt im Bruch, ich habs reinklatschen hören. Gustav hatte den Karabiner bei sich zu Hause gehabt, seit er diente.

Muttel, nicht böse sein, sie legte die Arme um die Mutter, die machen’s richtig, bringen sich in Sicherheit.

Bist wie der Vater, mehr sagte sie nicht.

Edith fuhr mit. Es war entschieden.

Unter der Plane die beiden Frauen, der Kinderwagen, die Jungs. Erwin hatte sich mit in die Fahrerkabine gezwängt.

Spät abends war das grüne Dreirad zurück, wo die Schlenkrich Else hinter der Eisenbahnunterführung ihren Laden hatte.

Otto berichtete: Gott sei Dank! Ich dacht schunn, ich tät stecken bleiben.

Gustav fragte nach Lanni, Adeles Schwester Melanie.

In der Villa die Treppe stand voll Kartons.

Gustav brachte Klaren, stellte Gläschen hin. Kunstblumen will keener, außer fürs Grab. Prost Otto, eh’s die Russen saufen. Sie spendierten sich mehrere.

Und Erwin? Hat er was rausgerückt?

Zwee Zigarrn, den Sprit vom Steinbruch und was für die Else.

Wenigstens was.

Enge wars, Gustav.

Eine Granate hatte dem Weltkriegskavalleristen den Fuß zerschmettert. Hättchn Hals gebrochn, müsstch ni hinken, sagte er manchmal. War er in Stimmung, nach’m Kaffeetrinken, ritt Otto Attacke, und die Else hing sich’s Akkordeon um. Himmlisch, wenn Johannes auf den ersten Ton wartete, wenn sie Johannes aufs Ohrläppchen küsste. In der Laube hinterm Rhododendron saßen wir, und war Pfingsten, kochte Else Kaffee vom feinsten.

Ausladen müsst ihr selber, habch gesagt. Durchgerutscht simmer, Gustav, und im Kinderwagen der Kleene schrie jedsmal, wie ich hupte.

Hedwig war hereingekommen, als sich die beiden zuprosteten, mir keinen, sagte sie. Erwin und der Neumann Paul, da hat sich einer so viel zu sagen, wie der andre.

Otto lachte.

Sind sich eenig. Frau Adolph und Horst gehen mit in’n Wald.

Panzer bleiben im Flachen, den Schluss zog Otto Schlenkrich.

Ich weiß nicht, was aus uns werden soll, sagte Hedwig.

Es war tief in der Nacht, als Hedwig aus dem Grübeln herausfand. Gustav hatte sich auf die andre Seite gedreht. Meine Tropfen. Die Galle. In der Küche ließ sie das Nachthemd fallen, zog sich an, holte den kleinen Koffer, steckte ihre Tropfen ein, die Zäpfchen, Geld und Papiere, einen Waschlappen, Brot, zum Lutschen Drops. Sie füllte die Feldflasche, band sich das Kopftuch um.

Hedwig!, hörte sie Gustav rufen.

Ja doch. Sie war schon im Mantel. Schrieb was auf einen Zettel.

Im Hof übers Pflaster hörte sie den Leiterwagen rollen, danach nichts mehr.

Sie nahm den Weg zum Gusshübel, auf halber Höhe vorbei am Valtenberg. Ihr Körper drückte schwer auf die Beine, sie blieb immer mal stehn. Warum hab ich Edith fortgelassen? Ein viertel Mond stand am Himmel. Sie erreichte die Kreuzbuche, eine Wegmarke, hörte den Verkehr auf der stark befahrenen Hohwaldstraße, wich aus. Otto hatte Sorge, dass er mit dem Dreirad steckenbleibt. Im Hohwald kannte sich Gustav besser aus. Den ersten Abzweig hatte sie liegenlassen, den zweiten. Ich hab die Uhr vergessen. Wind strich über die Wipfel. Dass die Pascher, die Schmuggler, rück zu Zucker nach Hause brachten, gegen Leinen, hatte ihr Mutter erzählt, als sie Kind war. Mit einem Mal spürte sie Schmerzen im Bauch, trank was, ich bin falsch gegangen. Sie erschrak, drehte den Wagen um, ging zurück, fand die Verbindung zur Straße.

Ab und zu Scheinwerfer. Leer war die Straße nicht. Am Gasthof »Stiller Fritz« Fuhrwerke, Leiterwagen. Dieses Brennen zwischen den Beinen. Mit der Hand unterm Kleid ließ der Schmerz nach. Oh, Gott. Sie fuhr an den Straßenrand, stellte sich breitbeinig hin, fasste wieder die Deichsel.

Lichtpunkte, die größer wurden. Sie fuhr an die Seite. Ein Windstoß fuhr in die Bäume.

Hielt der Lastwagen deswegen an? Sie hörte Urin laufen. Jemand schnaufte. Sauft weniger.

Kindersch, ne Frau.

Der Fahrer zerrte an seiner Hose.

Nehmt mich alte Muttel mit.

Er sah den Leiterwagen.

Blutjunge Kerle zogen sie hoch. Auf der Ladefläche hockte sie, als wären ihr die Arme ausgerissen. Im Frühlicht, dem sie entgegenfuhren, jetzt Flüchtlinge in Kolonne, die fuhren Richtung Sebnitz.

Ob sie Zigaretten hätte. Oder was Süßes? Sie holte die Dropse aus dem Mantel. Sie lutschten, dösten. Einer summte, die Melodie kannte sie.

Später sagte sie: Als würde ich schweben, so sanft haben sie mich abgesetzt. Vor der Villa am Eisenzaun hatte sie sich bemerkbar gemacht. Auf dem Balkon erschien Lanni, nach ihr Adele. Beide riefen sie nach Edith. Du glaubst nicht, wer unten steht.

Gustav kannte die Geschichte von diesem Ankommen. Mutter hat sich auf dieser Fahrt den Tod geholt.

14

Auch für Hedwig war die Flucht zu Ende. Über den Bahndamm war die Zeit gesprungen, als hätte die Dietrich und Manfred weggeblasen

Johannes wars. Seine Beine blieben nicht stehen, nicht mal im Schlaf, sondern waren weitergegangen, obwohl der Krieg aus war. Der Russe sah das eingestaubte Gesicht im Kinderwagen. Das Kind auf dem Kopfkissen weinte. Die Straße schlang sich in die nächste Biegung, bis sie plötzlich zu Ende war, weil Horst im Lindenbaum saß, der bloß noch ein Stumpf mit gewaltigen Ästen war. Horst hatte kurze Hosen an. Frau Adolph am Teich im Sommerkleid, nicht schwarz, was nicht sein konnte.

Wie abgekehrt der Klötzerplan, verlassen.

Zieh, hörte er rufen, ziehe! Johannes rief das Horst zu, und auf einmal saß auch Johannes in der Linde, die belaubt war, sodass er wie in einem hellgrünen Versteck saß.

Ho-orst! Frau Adolph rief. Der Freund balancierte auf dem rostigen Gleis.

Das Sägewerk war ein graublauer Bretterbau mit einem einzigen Fenster, dem vom Kontor. Das lange Dach mit Teerpappe bedeckt, das Rolltor verschlossen. Das Untergeschoss war gemauert, Stein, Fensterreihen, vergittert. Hinter Spinnweben und Dreck, hieß es, wären Schwungräder zu sehen, Treibriemen. Schmutzigweiß der Boden. Mit der Zeit hatte sich das Sägemehl verdichtet, und später, als sie es sahen, sah es aus, als würde dort Stoff liegen. Das Wasserrad war inzwischen unsichtbar, ummauert, ein Kasten aus Ziegeln, damit war der Zufluss aus dem Teich, der das Wasserrad angetrieben hatte, unterbrochen. Die Dampfmaschine verrottete im Kesselhaus, seit das Sägewerk Stromanschluss hatte. Die verschmierten Kesselhausfenster steckten hinter Büschen.

Über den Bahndamm war die Zeit gesprungen, als hätte die Dietrich und Manfred weggeblasen, die aus dem Tunnel marschiert und verschwunden waren.

Die Flucht nach Sebnitz war zu Ende; sie hatten den Weg zurück zu Fuß überstanden. Keine Fahnen zum Heraushängen, ausgenommen die von Frau Käthe Aebi, ihre Schweizer Fahne; die hing anstelle der weißen Fahne. Die eidgenössische hatte im Schrank gelegen, seit für sie und das kleine Kaffeehaus im Valtental die Hitlerzeit begann, die inzwischen beendet war.

Horst, Johannes, Jürgen gehörten zu den Jüngsten, über die der Krieg weggefegt war. Auf den ersten Blick lief das Leben die Straße geradeaus weiter. Vor der Sägemühle und dem stattlichen Haus, das im Vergleich zum Dorf eher eine Villa war, eine mit ziegelrotem Walmdach, lag der Teich, den Entengrütze bedeckte. Der Himmel fand den Wasserspiegel nicht. Ins Wasser gucken, sich bespiegeln? Wie denn?

In der Linde sitzend, ließ Johannes die Beine hängen, und säße er nicht an diesem Platz, würde er vielleicht den Eisenring klirren lassen. Warum an den Stein kein Reitpferd angebunden war, würde er bald schon erfahren. Die große Krise hatte den Reiter, zu dem das Pferd gehörte, umgebracht. Geschäftsbriefe lagen auf dem Dachboden, ein Papierhaufen, sie hatten Briefmarken ausgeschnitten.

Wie eines Tages in den Wiesen die Soldatenpferde standen, berichtete Horst, die keiner mehr brauchte, das war die Zeit zwischen den Untergängen, eine spätere Zeit, nicht die von Mierisch, zu dem das Reitpferd gehörte. Die Soldaten hatten die Pferde zurückgelassen. Die waren nicht zum Reiten, sondern zum Ziehen. Kanonen wurden gezogen, Ausrüstung, Waffen, Munition, Sprengstoff, Nebelbüchsen.

Zu allen, die nicht flüchteten, sondern geblieben waren, zum Beispiel Adolphs, Hultsches, Köhlers, Schlenkrichs, gehörte eine Masse Kinder, und die blieben nicht an den Rockzipfeln hängen, der Horst, das Zeidler Dorchen, Zeidlers Inge, die Puhst-Mädchen, der Hultsch Winfried und Friedlinde, seine ältere Schwester. Im Wald war man einigermaßen sicher. Horst hatte das hinter sich, war wieder zu Hause.

Johannes hatte den Kinderwagen stehen lassen, die Mutter Jürgens verstaubtes Gesicht abgewischt. Leere Blumenkästen. Nein, irgend etwas stimmte nicht. Zwischen den Levkojen, die jedes Jahr diesen starken Duft verströmten, standen Holzstöcke ohne Glaskugeln, ohne dieses lilane, silberne, goldne Leuchten, kopflos, was nicht sein konnte, denn der Winter war vorbei. Die in Buchsbaum eingefassten Beete waren nicht bepflanzt, das Sägewerk schwieg, die Schiebetüren blieben verschlossen.

Horst war essen. Die Sonne stieg. Schön, dass du von der Flucht zurück bist, wieder da, hat er gesagt und sich vom Baum heruntergelassen.

Die Kreissäge fehlt, sssss, ssss, das Gatter, das stampft, auch. Das fehlt dem Herrn Richter auch, sagte Horst, der das beobachtet hatte, manchmal, wenn sie unter sich waren, sagte er Gustav, dem fehlt das ssss, ssss, mir auch, sagte Horst, als sie wieder in der Linde saßen.

Die Lok war zu hören. Du musst winken, sagte Horst, die sehn dich. Die Soldaten saßen in den Waggons, Türen aufgeschoben. Wie oft hat der Zug hier angehalten, keine Einfahrt, und hatte sich der Dampf verzogen, saßen Verwundete in der Tür. Die sehn uns nicht, sagte Johannes. Mich sehen sie. Horst winkte in einem fort. So lang war der Zug. Er rollte. Oft fuhren die Züge nachts, und wenn die Waggons aneinanderstießen, krachten die Puffer.

Die Brücken liegen unten, da fahren keine Züge mehr. Ich höre sie trotzdem. Die Lok schnauft. Jetzt höre ich sie auch.

Ich fahre nach Teplitz.

Zum Vati. An die Elbe.

Dass sein Vater eine Pistole gehabt hat, wusste Johannes von Horst. Das war früher. Bloß den Weg nach Teplitz fand er nicht mehr. Wenn Blut trocknet, sieht es schwarz aus, sagt Horst.

Schlaf, sagte Mutter, Flüchtlinge vor den Augen und die Straße. Muttel liegt. Die ist völlig erschöpft. Vertrocknetes Blut sieht so schwarz aus, das tut nicht mehr weh, beim Kopfverband, auch wenn das so aussieht, sagte Horst. Johannes nahm sich zu trinken. Muttel ist erschöpft. Ich hab geträumt. Ja, was? Johannes suchte sich den Traum zusammen. Wieder saß er mit Horst in der Linde, ließ die Beine baumeln. Zeig mir zuerst die Pferde.

Sie redeten über Pferde. Den Braunen fasst keiner an, bloß Gustav, sagte Horst. Die haben die Pferde stehen lassen, einfach so. Die wird noch der Russe einfangen.

 

Hast du Russen gesehn?

Viele.

Geredet auch? Mit dir?

Maltschik hat er gesagt, der mir den Kinderwagen hochgeschoben hat.

Das kleine Fahrrad hab ich später entdeckt.

Siggi war eher zu Hause.

Weil sie weitergefahren sind, ohne anzuhalten.

Im Kontor, er sagte Kommtor, stehn Kisten.

Weiß ich. Werden abgeholt.

Hunderterlei beredeten sie. Dass Horst im Wald war, weil sie dachten, die Russen kommen, sie sind nicht gekommen, und Feuer durften wir nicht anzünden.

Siegfried stand unten. Horst rief, du fällst nich runter.

Ich zerreiß mir die Sachen, sagte Siggi.

Die Oma Hedwig habt ihr im Stich gelassen.

Wir konnten nicht wissen, aus welcher Richtung ihr kommt.

Dort waren wir noch zusammen, rief Johannes aus der Linde.

Du wirst runterfliegen.

Johannes hat ein Fahrrad entdeckt, auf der Flucht, das holen wir, sagte Horst, machst du mit?

Du schwindelst.

Mit Luft eins? Das wird nicht mehr dort liegen.

Ihr habt nicht gewartet, sagte Johannes.

Siggi meinte: Ziemlich weit, das Rad dort.

Opa kommt mit.

Hochklettern wollte Siegfried nicht, und plötzlich war er verschwunden.

Vom Klötzerplan war die Linde mit den heruntergesägten dicken Ästen ungefähr die Mitte. Den Stamm hatte der Blitz getroffen; trotzdem schlug der Baum jedes Jahr aus, kannst drauf warten, sagt Großvater. Im zerfaserten Stumpf konnte man sitzen. Du findest im Straßengraben alles, Horst, und die Russen sind dran vorbeigefahren, an uns, immer andre, die genauso aussahen, Kanonen angehängt. Helme, wenn sie welche aufhatten. »Geil Gitler!« Sie kamen auf solchen grünlichen Lastwagen angefahren.

Was Polen sind, erkennst du?

An den eckigen Mützen. Der eine kam rein, die Oma hat mit der Hand gezeigt, er soll sich setzen. Hin und her ist die gerollt, die Eierhandgranate.

Weiß ich, rund, mit solchen Rillen.

Das ist Granatfeuer, sagte Onkel Paul. Vorher war das, im Keller, die MPi, Johannes sagte MPi, hab ich in der Aschegrube versteckt. Ich soll reinsteigen, hat der Neumann Paul gesagt, weil du leicht bist. Er hat das Blech weggeschoben, der Erwin mit, und ich bin rein. Unten hinten war Platz. Drei Stück.

Siggi auch?

Der ist hingekracht auf dem nassen Blech.

So eine MPi wiegt was.

Die Soldaten haben nicht gekämpft.

SS, sagte Johannes, wie die in den Keller gekommen sind, war Nacht. Die haben sich bei den Frauen in der Wohnung gleich umgezogen.

Ho-orst!

Glei-eich.

Hat sich der Pole hingesetzt?

Nein.

15

Sie redeten über Rügers Kisten. Und wie hat der ausgesehn,

der andre? Du meinst den Rüger?

Horst sagte Kommtor.

Damit fing es an, und weil die Jungs, die den Bahndamm stürmten, verschwunden waren, hatte für uns die Zeit nach dem Krieg begonnen. Die Flucht war zu Ende. Gustav war auf Hedwig zugeeilt, hatte sie umarmt, sie ließ die Arme hängen, seufzte, er nahm den Leiterwagen, schade um die Weste, das kragenlose weiße Hemd. Edith hat den Wagen geschoben. So waren sie angekommen. Ob wirklich die Zeit danach angefangen hat, wer will das wissen?

Gustav sagte, die sind uns hundertmal überlegen, er meinte Adele, diese Seite der Verwandtschaft. Edith kümmerte sich um Jürgen, Hedwig hatte sich auf dem Fußboden ausgestreckt und Gustav die gestrickte Decke ausgebreitet.

Johannes wartete auf Horst. Sie redeten über die Kisten.

Johannes: Drei Kisten. Horst: Zweie.

Durchs Fenster war bloß eine zu sehen.

Drei Kisten, ich war dabei.

Ein versprengter Trupp Wehrmacht, der sich ins Valtental zurückgezogen hatte, verschoss letzte Granaten, ohne die weiße Fahne an den Steinhübelhäusern zu treffen, als er sich im Hohwald und von dort weiter zu den Amerikaner absetzte.

An Schule war nicht zu denken. Frau Adolph berichtete, dass die Gemeinde Flüchtlinge auf Wohnungen verteilte, sie trug weiter Trauer. Dass es den Vater gab, war für Johannes selbstverständlich, für Gustav ziemlich sicher, für Hedwig und Edith eine große Hoffnung.

Am Bahndamm pflockte Gustav die Ziege an, die beiden Zickel standen noch wacklig auf ihren Beinen.

Edith räumte in Bautzen die Stadtwohnung auf. Die Russen hatten gleich in der Küche bei Frau Schneider geschlachtet, die Eisenringe vom Herd genommen und Feuer gemacht.

Hedwig saß in der Laube. Ich sollte die Glaskugeln aufstecken, überlegte sie, das fehlt auf den Beeten. Sie mochte diese Kullern auf den bunten Stöcken. Am Sägewerk pressten die Jungs die Nase an die Scheibe. Die Kisten hatten sie neugierig gemacht. Da war kein Reinkommen, und so ließ Hedwig sie machen. Als sie sich beobachtet fühlten, liefen sie weg.

Mit ihren Sperlingen hatte alles angefangen. Hedwig war überzeugt, der Offizier wollte die Jungs rausholen. Manfred war übrig geblieben. Kannst den »Blaupunkt« ja runterschaffen. Ich habe mein Spiel gespielt, er ist unverschämt geworden. Wie eine Mutter habe ich mich nicht verhalten. Spiele gingen eben verloren, wenn die Winterabende durchgespielt wurden. Brettspiele waren Hedwigs Stärke. Richtig heimisch geworden aber war sie in der Valtenmühle nicht. Eingezogen waren sie, da war Krise, die Pflasterstraße ins Dorf brachte ein bissel Arbeit. Leere Ställe gabs vorher schon. Der Besitz von Mierisch fiel an den Gutsbesitzer, den Weickersdorfer, der Gustav als Verwalter einsetzte. Hedwig hatte nichts mitzureden, eins aber wusste sie ziemlich sicher, an Gustav wird er nicht verkaufen, und außerdem: wer bewirtschaftet so einen Besitz? Edith, die einen Beamten geheiratet hatte? Georg, wenn er noch lebt? Zuguterletzt wird der Tod die Lösung bringen, vielleicht meiner, dachte sie, wenn sie wieder mal schwarz sah. Wie schnell die Zeit verfließt. Immer müde, seufzte sie. Die Begonien werden duften, dann ist Sommer.

Ihre Blumen liebte sie, den Garten, die Beerensträucher. Fremd geworden war ihr der Teich. Er erinnerte an die verlorene Mühle, an Kraft und Hoffnung, die vergebens waren. Den Weickersdorfer mied sie. Mit Gustav ging der die Mietposten durch; was Stunden dauerte. Ihm war alles zu teuer, Hunderterlei, was gebraucht wurde, Sensen, Wagenschmiere, Zaunsriegel dreieinhalb Meter lang und Staketen, Holz für Blumenkästen, das Bäumefällen, das Teichabfischen. Jedes Schwänzel, das er in die Wannen setzt, zählte der Martin ab. Bei ihm erledigten sich Versprechungen schon auf der Zunge. Wenn er sagte: Gustav, du hältst alles, wie mein’s, will er was. Die schwarzhaarige Martha, ein Luder ist das, sagte Gustav, wie der Weickersdorfer sie das erste Mal mitbrachte; sie hielt sich an die Kriegsgefangenen, den blutjungen Polinnen war der Dicke hinterher.

Seit der Krieg aus war, hatte sich der Weickersdorfer nicht sehen lassen. Werden ihm die Russen das Land wegnehmen?

Die Schule war in Gang gekommen, anfangs im Gasthof bei Sauerschneiders, solange Verwundete, dann Vertriebene die Schule belegten, danach fingen die Ferien an.

Sollen sie sich die Kisten ansehn, dachte Hedwig, ich schließe auf. Sie war selber neugierig und Gustav auch.

Die Kisten standen hochkant, zugenagelt.

Auf die eine Kiste kletterte Johannes. Du wirst damit umkippen! Gustav legte seine Kiste um, die von Horst auch. Jungstammführer Rüger, stellte der sich vor, sagte Gustav; die kamen ja halb erfroren an. Rüger hatte das Kommando. Was dem wichtig war, die Grundfarbe vom Jungzug ist grün, damit Sie das auch wissen. Den Hauptjungzugführer erkennen Sie an der grünschwarzen Schnur. Die ging von der Brusttasche zur Achselklappe. Schnur und Schulterklappe sind bei allen Führern rechts, war so ein Spruch von Rüger.

War das der Junge im viel zu langen Mantel, der Junge, der dir das geschenkt hat?

Nicht der.

Wer?

Der andre.

Hedwig kam gucken.

Wir erzählen uns.

Und wie hat der ausgesehn, der andre?