Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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Harry Kämmerer

DUNKLE SEITE

Mangfall

ermittelt

DER DRITTE FALL

Volk Verlag München

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

­Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2018 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 876; Fax: 089 / 420 79 69 86

Druck: Kösel, Krugzell

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks ­

sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-296-4 (ePUB)

ISBN 978-3-86222-297-1 (Mobi)

www.volkverlag.de

für euch

Das Personal

Andrea Mangfall ist Oberkommissarin bei der Münchner Mordkommission. Andrea ist Anfang 30. Sie hat nach kurzem, verwirrtem Studium zur Polizei gewechselt und spielt sporadisch noch Bass in der Band ihres Bruders. Im ersten Band Filmriss, in dem Andrea insgesamt vier Mordfälle aufzuklären hatte, konnte sie ihre unkonventionellen Ermittlermethoden bereits unter Beweis stellen. Allerdings auch, dass Berufliches und Privates bei ihr häufig durcheinandergeraten. Das gilt ebenfalls für Band II (Absturz), in dem sie es unter anderem mit einem U-Bahn-Attentäter zu tun hatte, der Menschen scheinbar wahllos vor einfahrende Züge stürzte.

Paul Mangfall ist Mitte 20, mittelloser Musiker und wohnt seit dem Scheitern seiner letzten Beziehung bei seiner Schwester Andrea im Westend. „Nur vorrübergehend“ – seit fast einem Jahr. Paul sieht gut aus und weiß das auch. Seine aktuelle Liebe, die reizende Französin Madelaine, ist allerdings überstürzt nach Frankreich zurückgekehrt, nachdem sie Pauls öligen Musikmanager Chris in einer Auseinandersetzung kankenhausreif geprügelt hat. Pauls große Liebe ist weg. Gut, dass Andrea ein Auge auf Paul hat, denn er zieht Unheil an wie „Scheiße die Fliegen“ (Zitat Andrea).

Josef Hirmer, Kriminalrat, ist Mitte 40 und Andreas Chef. Entspannter Typ, klassischer Beamter. Trotz beruflicher Coolness sorgen Andreas Alleingänge bei ihm immer wieder für Schweißausbrüche.

Karl Meier, Hauptkommissar, Mitte 30, ist ein ziemlicher Macho und gelegentlich unangenehm klugscheißerisch. Manchmal könnte Andrea ihn zum Mond schießen.

Christine Pulver, Hauptkommissarin, ist Ende 30 und stichelt aktuell nicht mehr gegen ihren Ex (Josef Hirmer), sondern hält aktiv die Augen nach anderen Männern offen. Ihre Hoffnung auf Liebesglück ist nach zahlreichen Enttäuschungen in den Kontakthöfen des Internets eher gering.

Harry Kramer, Oberkommissar, ist das „Schmuddelkind“ der Abteilung. Anfang 30, immer ein wenig ungepflegt. Lieblingskleidungsstück: ein alter Bundeswehrparka mit großem Peace-Aufnäher. Harry ist eine Seele von Mensch. Liebäugelt stark mit linksalternativen Positionen und mag Kakteen. Selbige bevölkern flächendeckend die Fensterbretter des gemeinsamen Großraumbüros. Was Karl nicht so super findet.

Dr. Tom Lechner ist Abteilungsleiter der Kriminaltechnischen Untersuchung und dem Morddezernat zugeordnet. Tom ist schwer verliebt in Andrea, die ihn allerdings am langen Arm verhungern lässt. Aber Tom ist geduldig. Momentan liegt er im Krankenhaus nach seinem „Unfall“ in der U-Bahn und hat viel Zeit zum Nachdenken.

Dr. Aschenbrenner („Asche“) ist der gut geölte Dezernatsleiter, der seine Leute stets zu Spitzenleistungen antreibt. Sein Job ist es, den Laden nach außen und oben zu vertreten. Das harmoniert nicht immer mit dem Ermittlungseifer von Josefs Team und Andreas Sonderwegen.

Was bisher geschah

Andrea hat in der ersten Folge Filmriss vier Mordfälle mustergültig aufgeklärt, und das obwohl ihr die Eskapaden ihres Bruders immer wieder einen Strich durch die Rechnung machten. Im zweiten Band Absturz hatte sie es mit einem U-Bahn-Attentäter zu tun und einem komplexen Fall mit Anknüpfungspunkten in ihrer eigenen Vergangenheit: Auf der Burg der Adelsfamilie ihres Ex-Freundes kam es zu einem Todesfall, bei dem sich schnell zeigte, dass der Hausherr nicht einfach so die Stufen des großen Treppenhauses im Burgturm hinuntergestürzt war. Und dann gab es da noch den hinterhältige U-Bahnschubser, dem Andreas Freund Tom zum Opfer fiel.

Band III beginnt mit den letzten Seiten von Band II, mit einem mysteriösen Autounfall mit Fahrerflucht. Das Opfer des tödlichen Unfalls ist kein anderer als der gesuchte U-Bahn-Attentäter. Und der „Unfall“ geschieht ausgerechnet vor dem Haus seines ersten Opfers …

Whoa, Black Betty (bam-ba-lam)

Whoa, Black Betty (bam-ba-lam)

She really gets me high (bam-ba-lam)

You know that’s no lie (bam-ba-lam)

She’s so rock steady (bam-ba-lam)

She’s always ready (bam-ba-lam)

Whoa, Black Betty (bam-ba-lam)

Whoa, Black Betty (bam-ba-lam)

(TRAD./LEAD BELLY )

Nummer 4

Josef reibt sich die müden Augen.

Er steht auf einem abgesperrten Parkplatz vor einem Hochhaus in der Quiddestraße in Neuperlach, einer Betonsiedlung im Osten Münchens. Die oberen Stockwerke der Hochhäuser stecken noch im Nebel, das verfilzte Gras der Grünflächen ist braun-schwarz gescheckt von feuchtem Laub. Die Waschbetoncontainer für die Mülltonnen glänzen nass. Vor den Hauseingängen rostige Fahrradgerippe in gefährlicher Schräglage. ‚Ja, ein Hort der Lebensfreude‘, denkt Josef. ‚Vielleicht sieht das bei Sonnenschein einen Hauch fröhlicher aus? Oder sieht man dann erst die Details, die Nebel und Morgengrauen jetzt noch gnädig kaschieren?‘ Josef kennt die Straße, den Ort. In der Hausnummer 4 hat das erste Opfer des U-Bahnschubsers gewohnt. Und hier liegt er nun selbst – der U-Bahn-Attentäter. Waren er und sein erstes Opfer Nachbarn?

Der Leichnam ist mit einem Sichtschutzzelt abgeschirmt. KTU und Rechtsmedizin sind bei der Arbeit. An vielen Fenstern der umliegenden Hochhäuser Schaulustige. Josef sieht dem Toten noch einmal ins Gesicht. Kein Zweifel – der Mann von ihrem Fahndungsfoto. Der Tom vor die U-Bahn gestoßen hat. Jetzt kommen die Kollegen an: Christine, Harry, Karl.

„Ist Andrea mit dir gefahren?“, fragt Harry.

„Ich hab versucht, sie anzurufen“, sagt Josef. „Wahrscheinlich meldet sie sich gleich. Sie ist gestern früher nach Hause. Hat sich nicht so gut gefühlt.“ Er deutet auf den Toten. „Und, was meint ihr?“

„Unfall mit Fahrerflucht?“, schlägt Karl vor.

Josef schüttelt den Kopf. „Offenbar ist das Auto mit Vollgas die Rampe vom Parkdeck runtergerauscht, trotz Bodenschwelle. Den Typen hat jemand mit voller Absicht umgefahren.“

„Papiere?“, fragt Christine.

Josef greift in die Jackentaschen des Toten. Keine Papiere, keine Geldbörse, nur ein Schlüsselbund. Und ein Autoschlüssel. Der ist alt, keiner von denen, die man nur drücken muss und schon blinkt einen der eigene Wagen an.

„Vermutlich wohnt er in einem der Häuser“, murmelt Josef. „Also, vielleicht hat er da gewohnt.“ Missmutig lässt er seinen Blick durch die Wohnanlage streifen. „Sind ja nur sechs große Wohnblöcke, jeder mit mindestens 15 Stockwerken.“

Josef nimmt das Fahndungsbild und geht zu der Menschentraube vor der Absperrung, hält das Bild hoch. „Kennt jemand von Ihnen diesen Mann?“

Interessiert betrachten die Leute das Bild.

„Das ist der Typ bei uns im siebten Stock“, meldet sich ein Mann mit alkoholgerötetem Gesicht. „Der Krämer. Der Bart ist allerdings neu.“

„Wie heißen Sie bitte?“

„Schlater. Herbert Schlater.“

„Wo wohnen Sie?“

Der Mann deutet zu einem der Hochbunker. „In der 4. Im achten Stock.“

Josef nickt, überlegt. Seine Gedanken rotieren. Ausgerechnet Hausnummer 4 – wo auch Peter Bruckner gewohnt hat, das erste Opfer des Schubsers. Vielleicht ist seine Witwe jetzt an einem der Fenster? Was ist das hier – ein Racheakt? Von ihr? Nein, sicher nicht, das war eine nette, empathische Frau. Sie war betroffen. Nicht voller Groll. Erstaunlich genug. Naja, ihr Mann war Sozialpädagoge. Und auch sie ist im sozialen Bereich tätig. Soll er ihr einen Besuch abstatten? Noch wissen sie ja nichts Näheres über den Täter. Der jetzt selbst ein Opfer ist.

Er sieht wieder zu dem Nachbarn, der wegen Josefs geistiger Abwesenheit ein wenig irritiert ist. Josef lächelt ihn an. „Ah, Herr …?“

„Schlater, Herbert Schlater. Ist der Mann von dem Foto der Tote da drüben?“

„Kommen Sie!“ Josef führt den Mann zu dem Toten und lässt ihn einen Blick auf dessen Gesicht werfen. Schlater nickt.

„Herr Schlater, was wissen Sie über Ihren Nachbarn?“

„Ich hab oft Ärger mit dem Typen. Der hat die Stereoanlage immer ewig laut aufgedreht. Ich mein, das geht ja nicht, in einem Haus mit so vielen Mietparteien. Richtig laut. Bässe voll aufgedreht. Bumm, bumm, bumm! Die ganze Nacht.“

„Herr Schlater, kommen Sie bitte mit. Karl, Christine, ihr auch. Harry, du bleibst bitte unten. Schau, ob du das Auto findest.“ Er gibt Harry die Autoschlüssel.

Sie fahren mit Schlater in den siebten Stock hoch und lassen sich die Wohnungstür zeigen. Vinzenz Krämer steht auf dem Klingelschild.

„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagt Schlater. „Also, das war ja voll der Assi, der Krämer. Der hat bestimmt eine Riesensauerei in seiner Bude.“

„Ja, dann bleiben Sie bitte weiterhin gespannt“, sagt Christine und deutet zum Lift. „Ab hier kommen wir alleine zurecht.“

 

Beleidigt zieht Schlater ab. Josef probiert die Schlüssel aus der Jackentasche des Toten. Einer passt, er sperrt auf. Sie schalten das Licht an. Eine kleine, zugemüllte Zweizimmerwohnung. Pizzakartons stapeln sich in der Küche, unter der Spüle befinden sich jede Menge leere Dosen und Gurkengläser, zum Teil mit flauschigen Schimmelkulturen. Das Wohnzimmer bietet neben einem riesigen Fernseher vor allem strenge Gerüche, die ein überquellender Aschenbecher auf dem Couchtisch und eine Batterie Flaschen mit Restflüssigkeiten absondern. Auffällig sind die großen Boxen, das Mischpult und die zwei Plattenspieler.

„Wer braucht so was, ein DJ?“, fragt Karl.

Christine zuckt die Achseln und öffnet die Balkontür, tritt raus, atmet tief durch, sieht nach unten: das Sichtschutzzelt auf dem Parkplatz, die Schaulustigen, die Polizeifahrzeuge. Hinter dem Parkplatz erstreckt sich der Ostpark. Hinter dem Park liegen das Michaelibad und die U-Bahnstation. Das ist alles nicht weit.

„Kommt ihr mal ins Schlafzimmer?“, ruft Karl.

Sie betreten das kleine Schlafzimmer. Neben dem großen Schrank steht in der Ecke ein schmaler Schreibtisch. Darauf ein Laptop. An der Pinnwand Fotos. Von Andrea. Selbst geschossen und aus dem Internet.

„Das ist ein Stalker, ein Irrer“, sagt Christine und sieht Josef an. „Wo ist Andrea?“

„Das frag ich mich langsam auch“, murmelt Josef und greift zum Handy. Er hat ein ungutes Gefühl, erinnert sich an Pauls panischen Anruf von gestern. Hat er Paul nicht ernst genug genommen? Er wählt Andreas Nummer. Nichts. Das Handy ist immer noch ausgestellt. Er probiert es auf dem Festnetz. Jetzt klappt es. „Paul, ist Andrea zu Hause?“

„Nein, sie ist heute Nacht nicht heimgekommen. Bei Tom kann sie ja nicht sein … Ich mach mir Sorgen …“ – „Paul, hör zu“, unterbricht ihn Josef. „Wir haben den U-Bahnschubser gefunden.“

„Was habt ihr?“

„Den Attentäter. Der auch Tom geschubst hat. Er ist tot.“

„Was, Tom ist tot?“

„Nein, der Attentäter. Und jetzt hör zu: Der hatte Andrea im Visier. Wir haben Fotos von ihr in seiner Wohnung gefunden. Auch von dir. Er hat euch zu Hause beobachtet und fotografiert. Offenbar von einem Haus gegenüber oder nebenan. Ich erreiche Andrea nicht, ihr Handy ist aus.“

„Scheiße! Wo seid ihr?“

„Neuperlach.“

„Wo genau?“

„Quiddestraße 4.“

„Wohnt er da, der U-Bahn-Heini?“

„Wohnte. Er ist tot.“

„Ich komme sofort.“

„Paul …!“

Die Leitung ist tot. Josef flucht. War das richtig, Paul zu informieren? Aber was hätte er sagen sollen? Dass alles okay ist? Dass er zu Hause bleiben und das den Profis überlassen soll? Unsinn. Profis! Sie haben nicht die geringste Spur von Andrea. Vielleicht hat Paul ja eine Idee. Er kennt sie von ihnen allen am besten.

Krank

Paul ist in Panik. Der Typ, der die Leute vor die U-Bahn gestoßen hat, ist tot und Andrea verschwunden. Wenn er sie in seiner Gewalt hat, nein, hatte – was ist jetzt mit ihr, wo ist sie? Wo hat er sie versteckt? Auf Autopilot fährt er zu der Adresse, die ihm Josef genannt hat. Viel zu schnell, über zwei rote Ampeln. Ist ihm egal.

Harry hat auf dem Parkdeck in der Quiddestraße nach zahlreichen Versuchen bei verschiedensten älteren Autos endlich die Fahrertür eines alten Fiesta geöffnet, der offenbar dem Toten gehört hat, als Josef ihn am Handy erreicht und von Pauls Kommen unterrichtet. „Kümmerst du dich bitte? Damit uns Paul die ganzen Schaulustigen da unten nicht aufstachelt.“

Pauls Ankunft ist dank kreischender Bremsen und Reifen nicht zu überhören. Er parkt einfach auf dem Gehweg und springt heraus.

Harry eilt die Rampe runter und fängt ihn ab. „Paul, ganz ruhig.“

„Ganz ruhig?! Der Typ hat wahrscheinlich Andrea hopsgenommen und jetzt ist er tot und Andrea sitzt irgendwo in einem Erdloch, in einem Keller …! Wohnt er hier? Habt ihr im Keller geschaut?“

„Klar, wir schauen uns auch den Keller an.“

„Wo ist Josef?“

„Er ist oben in der Wohnung von dem Typen. Sie haben dort Bilder von ihr gefunden.“

„Diese Drecksau! Ich will die Wohnung sehen!“

„Nein. Da ist die Spurensicherung drin. Lass die ihre Arbeit machen.“

„Spurensicherung? Ist das ein Tatort, oder was?!“

„Nein. Beruhig dich, Paul! Lass uns gemeinsam überlegen, wo Andrea sein könnte. Wenn er sie gekidnappt hat, wo könnte er sie verstecken?“

„Woher soll denn ich das wissen?! Ich sitz nicht in dem kranken Hirn von dem Typen!“

„Paul, wir überlegen in Ruhe, was zu tun ist.“

„Ich hab keine Ruhe!“

„Hat sie dir was zu den Ermittlungen gesagt? Oder was sie vorhat?“

„Nein. Was würdest denn du tun, wenn du den Täter suchst? Als Polizist. Ich mein, wo würdest du anfangen, wenn du ihn suchst?“

„Am Tatort. Also, wo er seine Verbrechen begangen hat.“

„An welchem Tatort?“

„Am ersten.“

„Warum?“

„Weil dort alles angefangen hat.“

„Das war im U-Bahnhof Michaelibad, oder?“

Harry nickt.

„Dann fahren wir jetzt da hin“, beschließt Paul.

„Ich geb Josef Bescheid.“

Sie steigen in Pauls Wagen. Inzwischen ist es zehn Uhr vormittags. Der Nebel hat sich fast verzogen, die Sonne wirft blasses Licht auf den Münchner Osten. Auf der Bad-Schachener-Straße herrscht reger Verkehr. Paul fährt wie der Henker, Harry verkneift sich jeglichen Kommentar, hält sich am Türgriff fest.

„Halt da vorn am Kiosk an“, sagt Harry.

Sie steigen aus. Zwei Gestalten schlagen an einem Stehtisch bereits die Zeit mit Bier und Zigaretten tot. Harry nickt ihnen zu.

„Na, heute ohne deine Freundin?“, fragt einer der alkoholgetränkten Rothäute.

„Sieht so aus“, meint Harry. „Habt ihr sie nochmal gesehen? Gestern?“

Die zwei Stehtischhänger sehen sich nachdenklich an.

„War das gestern?“, fragt schließlich einer den anderen.

„Kann sein. Doch, genau, das war gestern, wir haben ja dem Ernst seinen Geburtstag begossen.“

„Der Ernst, stimmt. Ja, dass der Ernst mal 70 wird, das hätt keiner gedacht, also, so wie der sich immer die Kante gibt.“

„Mann, Leute! Habt ihr sie gestern gesehen?“

„Ja, wenn gestern dem Ernst sein …“

„Welche Uhrzeit?“, insistiert Harry.

„Die Sonne sank bereits hinter den Horizont.“

„Und wo ist sie hin?“

„Erst hat es so ausgeschaut, als will sie zu uns, die Maus. Dann hat sie beigedreht. Wir sind ihr wohl nicht fein genug.“

„In welche Richtung ist sie gegangen?“

„Da runter“, sagt der Angesprochene und deutet die Bad-Schachener-Straße entlang. Der andere sieht verwirrt in diese Richtung, dann nickt er und trinkt einen großen Schluck Bier.

„Vielleicht ist sie nochmal zur Siedlung“, meint Harry.

„Wieso nochmal?“, fragt Paul.

„Als wir das erste Mal hier waren, dachte Andrea, er wohnt vielleicht da. Also der Täter.“

„Warum?“

„Nur ein Gefühl, eine Vermutung. Die kleinen Häuser, die Enge. Aber da hat sie sich getäuscht. Er wohnt in der Quiddestraße.“

„Das weiß Andrea ja nicht. Sie hat ihn da gesucht. Also los.“

Paul sieht im Loslaufen eine Gruppe junger Punks auf dem Lüftungsschacht der U-Bahn sitzen. „Sind die immer da?“, fragt er.

„Ja“, sagt Harry, der mit ihnen schon einmal gesprochen hat.

Paul geht zu ihnen rüber. „Hey Leute, ich such meine Schwester. Habt ihr sie gesehen? Gestern Abend beim Kiosk? Anfang 30, so 1,60 groß, schwarze Haare, dunkle Klamotten, sportlicher Typ.“

„Gibt’s viele“, sagt ein Mädchen mit schwarzem Bürstenhaarschnitt.

„Die Polizistin“, ergänzt Harry.

„Ach die. Nein, nie wieder gesehen.“

„Ist das ein kluger Hund?“, fragt Paul und deutet auf den Schäferhund mitten in der Gruppe.

„Klüger als viele Menschen.“

„Glaub ich. Wie heißt er denn?“

„Sie. Lassie.“

„Hübscher Name“, sagt Paul ohne jede Ironie und dreht sich weg.

Harry sieht ihm irritiert hinterher, wie er zum Auto geht. Kurz darauf kommt er mit einem Pullover zurück. „Der ist von meiner Schwester. Vielleicht findet Lassie die Spur.“

„Wir helfen keinen Cops“, murmelt eins der Kids.

„Ich bin kein Cop!“, bellt Paul. „Und meine Schwester ist in Lebensgefahr! Ihr helft mir jetzt, sonst vergess ich mich, ist das klar?“

Die Jugendlichen nicken eingeschüchtert.

Harry, Paul und die Kids samt Hund ziehen los. Bei der Siedlung hat sich einiges geändert, seit Harry das letzte Mal hier war. Nicht verschlafene Ruhe zwischen den kleinen Häusern, sondern ohrenbetäubender Lärm und der Sprühnebel von Wasserkanonen, der den Staub der Abbrucharbeiten binden soll.

„Verdammt!“, flucht Harry und rennt los. Paul versteht nicht sofort. Dann doch – wenn Andrea in einem der Abbruchhäuser ist! Jetzt rennen alle, selbst die Punks, der Hund stürmt voraus.

Harry sucht den Bauleiter. Findet ihn endlich in einem der Container. „Stoppen Sie sofort die Maschinen!“

Der Bauleiter sieht ihn konsterniert an. „Was soll’n des? Einfach da reinmarschier’n? Das ist eine Baustelle! Das ist gefährlich!“

Harry hält ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase.

Der Polier tritt nach draußen und macht seinen Kollegen Zeichen, die Arbeiten einzustellen. Der Motor des großen Baggers erstirbt, ebenso das Pochen der Presslufthämmer. Auch das Wasser der Sprühkanonen wird abgedreht.

Plötzlich ist es gespenstisch still. Von der Baustelle steigt eine dichte Wolke Staub auf. Glüht in der Vormittagssonne. ‚Wie bei einem Atombombentest in der Wüste von Nevada‘, denkt Harry. Auch die Punks sind beeindruckt.

Paul hält dem Hund Andreas Pulli hin, lässt ihn schnüffeln. „Such!“

Der Hund stürmt los. Harry ist skeptisch, ob er im Staubgewaber irgendwas wahrnimmt, aber der Hund wuselt zielsicher durch die Trümmer und verschwindet in einem der Gebäude.

„Halt!“, schreit der Polier. „Nicht ohne Helm!“ Er reicht Harry und Paul Helme und betritt das Gebäude als Erster. Harry und Paul folgen ihm.

Sie ziehen sich die T-Shirt-Krägen über Mund und Nase. Überall dichter Staub. Blindflug. Der Hund bellt. Erster Stock. Treppe hoch. Sie betreten einen Raum, dessen Fensterseite bereits teilweise weggerissen ist. Alles voller Dreck, Mörtel, Scherben.

Jetzt sehen sie Andrea. Sie lehnt an der Gasheizung, ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Im Gesicht schwarze Rinnsale, Tränen, die sich den Weg durch den Dreck gebahnt haben. Paul sieht ihre nasse Jeans. Sie hat sich angepinkelt. Ihre Augen sind weit vor Angst.

„Andrea!“ Paul nimmt ihr den Knebel aus dem Mund und umarmt sie.

Harry beauftragt den Polier, einen Krankenwagen zu rufen, und versucht, Andrea von den Fesseln zu befreien. Sie ist mit Kabelbindern am Gasrohr der Heizung fixiert. „Ich krieg die Scheiß-Kabelbinder nicht auf“, flucht er.

Paul greift in die Hosentasche und gibt ihm sein Feuerzeug. Jetzt mischt sich die staubige Luft mit dem scharfen Geruch von verschmortem Plastik. Andreas Hände fallen nach unten.

Paul sieht die blutigen Striemen an ihren Handgelenken. „Meine arme kleine Schwester, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Die Bestie ist tot.“

Andrea reagiert nicht.

„Der Typ ist tot“, sagt Harry zu ihr. „Überfahren. Die Gefahr ist vorbei.“

Andrea sieht ihn mit leeren Augen an.

Als der Rettungswagen kommt, gibt Paul Harry den Schlüssel für Andreas Wagen und fährt mit seiner Schwester ins Krankenhaus. Harry ruft Josef an, gibt ihm ein Update.

„Brauchst du uns noch?“, fragt eins der Punkmädchen hinterher.

„Nein, vielen Dank. Euer Hund hat unserer Kollegin das Leben gerettet. Der Bagger war schon an dem Haus dran. Vielen Dank. Hat Lassie gut gemacht.“

„Das mit Lassie war ein Witz.“

„Ja, ein guter. Danke nochmal!“

Die Jugendlichen trollen sich. Harry kratzt sich am Kopf. Hätte er ihnen was anbieten sollen? Geld, ein Gespräch, einen Rat, wie sie aus dieser Situation rauskommen? Aus welcher Situation? Jeder wählt seinen eigenen Lebensstil. Tut man das? Warum leben die so? Zu wenig Liebe zu Hause? Sicher. Nein, das geht ihn nichts an. Das kann er nicht lösen. Er ist kein Sozialarbeiter. Wie Peter Bruckner. Das erste Opfer des Attentäters.

„Wohin hat man Andrea gebracht?“, fragt Josef, als Harry wieder in der Quiddestraße eintrifft.

„Krankenhaus Bogenhausen. Paul will, dass sie in Toms Nähe ist.“

 

„War es knapp?“

„Arschknapp. Offenbar hat sie nach ihm gesucht. Und ihn gefunden. Oder andersrum.“

„Warum dreht Andrea immer allein diese Dinger?“

Karl zuckt mit den Schultern. „Das ist nicht ihre Schuld, sag ich mal. Der Typ hätte sie sowieso gekriegt. Wenn nicht da, dann woanders. Die ganzen Fotos in seiner Bude. Er war immer an ihr dran.“

„Jetzt nicht mehr“, sagt Christine.

„Ist der Fall mit dem U-Bahnschubser damit abgeschlossen?“, fragt Harry.

Josef wiegt zweifelnd den Kopf hin und her. „Die Motive liegen völlig im Dunkeln. Auch was zu seinem Tod geführt hat. Das ist kein Unfall, wenn du auf einem Parkplatz mit Vollgas überfahren wirst.“

„Aber das Motiv?“, fragt Christine.

„Der Schubser hatte auch keins“, meint Harry.

„Doch, Geltungssucht“, widerspricht Karl.

Josef nickt. „Vielleicht sind wir ein bisschen schlauer, wenn wir seinen Laptop gecheckt haben.“