Ich mach mir die Welt

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WIR LEBEN IN EINER PROGNOSTISCH VERSEUCHTEN ZEIT

Am Ende stehen wir da und sind unsicher, welche Meinung über eine Wetter-App nun die richtigere ist. Welche Prognose ist die validere? Wir können sicher sein, dass wir uns nicht sicher sein können. Wir sind prognostisch verseucht, permanent von Prognosen umgeben und können die Zukunft gerade deswegen kaum noch deuten. Dabei ist es genau das, was uns alle Prognosetools so innig versprechen: Zukunft zu deuten, den besseren Weg für uns zu finden, die richtige Versicherung abzuschließen, das Wahlergebnis vorherzusagen – vielleicht den Partner fürs Leben zu entdecken. Alle diese Prognosen kämpfen um unsere Aufmerksamkeit für Zukunft. Ich kann verstehen, dass sich viele Menschen zurücksehnen in eine Zeit, in der das alles noch keine Rolle gespielt hat.

Bis vor Kurzem gab es keine Wetter-Apps und auch keine Maps auf dem Smartphone, die die beste Route von A nach B prognostizierten. Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wachstumsraten, Wahlumfragen oder Prognosen für die Entwicklung des BIP. Bis zum 18. Jahrhundert war man im Großen und Ganzen davon ausgegangen, dass die Welt sich nach einer göttlichen Vorhersehung entwickle. Dass man sich als Individuum Gedanken über die Zukunft gemacht hat, war die Ausnahme. Dies war wenigen Vordenkern vorbehalten. Heute ist die Zukunft zu unserem Alltag geworden. Wir alle brauchen einen kompetenten Umgang mit der Zukunft, sonst landen wir im Dickicht von Prognosen und sind überfordert mit deren Interpretation.

PROGNOSEN SIND NICHT DIE ZUKUNFT

Im Zukunftsinstitut ist es unsere Vision, die Zukunftskompetenz der Menschen in der Wirtschaft und in der Gesellschaft stärker zu machen. Wir wollen Menschen begeistern für ihre Zukunft und daher forschen wir für ihre Entwicklung. Dabei unterscheiden wir zwischen zwei Zugängen: Zukunft als Wahrscheinlichkeit und Zukunft als Möglichkeit. Mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten ist ein statistisches Vorgehen. Man versucht zu verstehen, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis eintreten könnte. Hier handelt es sich um Prognosen und damit um die Art von Zukunft, die uns allen im Alltag vermehrt unterkommt. Nimmt man sich Möglichkeiten vor, sucht man Potenziale und erzeugt Bilder (Ausblicke) und Szenarien. Der größte Unterschied zwischen den beiden Zugängen: Bei Wahrscheinlichkeit nutzt und interpretiert man Daten. Das Ergebnis sind Prognosen. Diese helfen uns zu verstehen, welche Entscheidungen im Moment anstehen. Wie beim Wetter: Nehme ich den Regenschirm oder die Sonnencreme. Möglichkeiten gehen von Potenzialen aus und helfen uns alternative Vorstellungen zu entwickeln. Sie regen unsere Fantasie an und sind gewissermaßen fiktiv, nicht statistisch. Das Ergebnis ist eine umfangreichere Vorstellung von Zukunft. Neue Richtungen können sich daraus ergeben.

Die Unterscheidung zwischen Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit ist nicht trivial. Fangen wir mit den Wahrscheinlichkeiten an: Vorhin haben Sie von alltäglichen Prognosen gelesen: Von der Wetter-App bis hin zu Wahlprognosen. Diese Prognosen handeln von Wahrscheinlichkeiten und werden mit statistischen Werten ausgedrückt. Es gibt dann zum Beispiel eine 60 %ige Wahrscheinlichkeit auf Regen. Oder: Ihr Routenplaner sagt Ihnen, dass die eine Strecke um 5 Minuten schneller sein wird als eine andere. Beides sind errechnete Wahrscheinlichkeiten. Beide sagen nichts über die Zukunft aus. Wie meine ich das? Nehmen wir nur das Wetter. Wenn es eine 60 %ige Chance auf Regen gibt, was tun Sie dann? Nehmen Sie einen Schirm mit oder nicht? Die Prognose hilft Ihnen in dem Fall nicht, diese Entscheidung zu treffen. Das liegt ganz bei Ihnen. Vielleicht schauen Sie dann in den Himmel und denken sich »Na, lieber nehme ich mal einen Schirm mit.« Sollte es den ganzen Tag nicht regnen, hat Ihnen die Prognose nicht geholfen. Aber war sie falsch? Nein. Denn 60 % sind ja immerhin nicht 100 %. Die Prognose war nicht falsch: Sie setzt ein Thema auf den Plan. Nämlich, dass Sie überhaupt darüber nachdenken, einen Schirm mitzunehmen oder eben nicht. Prognosen können nicht die Zukunft vorhersagen: sie sensibilisieren dafür, welche Themen wir berücksichtigen müssen. Ähnliches gilt für die Route. Wenn auf einer Fahrtstrecke von einer Stunde ein Unterschied von 5 Minuten angezeigt wird, liegt es letztlich wieder bei Ihnen, sich zu entscheiden. Die Prognose sagt nur aus, dass es – momentan – fast keinen Unterschied macht. Wählen Sie dann eine Route aus und landen in einem Stau, hat Ihnen die Prognose wieder nicht geholfen. Aber: Zum Zeitpunkt der Erstellung war sie nicht falsch. Ein Unfall hat diesen Stau verursacht. Dieser war um diese Uhrzeit auf dieser Strecke äußerst unwahrscheinlich, daher konnte das Prognosetool nicht helfen.

Ähnliches passiert bei Versicherungen. Wenn wir eine Versicherung abschließen, wird das Risiko auf Basis von statistischen Rechenmodellen eingeschätzt. Die Prognosen können nur mit Daten agieren, die in der Vergangenheit beziehungsweise – mittels Einsatz von Big Data – in der Gegenwart einsichtig sind. Das bedeutet, wir haben es mit Wahrscheinlichkeiten im statistischen Sinne zu tun. Ob das Risiko, das wir versichern, für uns wirklich schlagend wird, kann niemand wissen. Es ist ausschließlich ein statistisches Modell. Aber: Ist die Prognose, dass eine spezifische Versicherung Sinn macht, daher falsch? Nein. Auf Basis unseres aktuellen Wissens und den uns zur Verfügung stehenden Modellen ist sie richtig. Die Qualität einer Prognose liegt nicht darin, dass sie sich bewahrheitet. Sie soll uns helfen, im gegenwärtigen Zeitpunkt ein Bild der Lage vom Heute und einem möglichen Morgen zu geben. Noch mal der Regenschirm: Das Einzige, was eine Prognose hier kann, ist, uns darauf zu sensibilisieren, dass es Sinn macht, über den Regenschirm grundsätzlich nachzudenken.

Gute Prognosen helfen zu verstehen, was wir überhaupt entscheiden sollten. Im Alltag ist das den meisten Menschen nicht klar. Auch vielen Profis nicht. Sehr häufig verlassen sich heute Manager auf Prognosemodelle und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Sogar immer mehr: Denn das Versprechen von technischen Prognosetools klingt großartig. Ganz automatisch und ohne Zutun sollen aus großen Datenmengen wahrscheinliche Entwicklungen sichtbar werden. Aber nimmt uns das Entscheidungen ab? Unsere Welt ist komplex. Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen. Da ist es nur verständlich, dass man gerne Systeme hätte, die uns die Entscheidung abnehmen. »Das hat ja der Computer errechnet, also machen wir das.« Aber so funktioniert die Welt leider nicht. Wenn es darum geht, dass Sie Ihre eigene Zukunftskompetenz erhöhen, dann ist diese Erkenntnis wesentlich: Prognosen helfen nicht, Entscheidungen zu treffen. Sie helfen nur zu verstehen, was überhaupt entschieden werden sollte.

DIE POPULÄRSTE PROGNOSE UNSERER ZEIT

Die populärste Prognose unserer Zeit ist die der Erderwärmung. Wiederum werden auf Basis von statistischen Daten und komplexen Modellen Wahrscheinlichkeiten errechnet. Die Erderwärmung wird, so die Prognosen, in einem Korridor von plus 2 Grad bis plus 5 Grad im Jahr 2100 zu messen sein. In einem Bericht der Vereinten Nationen (IPCC-Sachstandsbericht) wird davon ausgegangen, dass die angestoßene Erderwärmung für über Tausend Jahre irreversibel bleiben wird. Eine 2019 erschienene Studie des Crowther Lab der ETH in Zürich zeigt die Veränderungen für 520 Metropolen der Welt im Jahr 2050. Wien soll dann ein Klima wie Skopje haben, Hamburg wie San Marino und New York wie Virginia Beach.

All diese Aussagen sind Prognosen. Keine davon kennt die Zukunft wirklich. Dass all diese Aussagen nach heutigem Stand valide sind, steht außer Zweifel. Laut einer Untersuchung von John Cook et al. gibt es mehrere Hunderttausend Studien zum Klimawandel, das Team untersuchte knapp 11.000 davon, wovon wiederum 97 % den wissenschaftlichen Konsens der Erderwärmung stützen. Die Entwicklung der Erderwärmung ist eine Prognose, die einen wuchtigen Unterbau hat. Wir alle erahnen sehr besorgt die Auswirkungen. Und trotzdem: Das Jahr 2050 oder 2100 ist noch nicht da. Die Auswirkungen auf diese Jahre sind Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Auch hier wird nicht die Zukunft vorweggenommen. Wiederum liefert uns eine Prognose auf den Tisch, welches Spektrum an Entscheidungen wir haben. Es liegt letztlich an uns selbst, aus diesen Prognosen Ableitungen zu treffen. Greta Thunberg hat eine Entscheidung getroffen. Sie kämpft für einen radikalen Wandel. Donald Trump hat sich ebenfalls entschieden: Er pfeift auf den Klimawandel. Am Ende ist es unsere Verantwortung im Leben, die Schlüsse selbst zu ziehen. Darauf kommt es an. Egal ob Sie Topmanager, Präsident oder Schülerin sind. Es geht schlicht um Ihr Leben.

WIE WAHRSCHEINLICH IST WAHRSCHEINLICHKEIT

Die Bloomberg-Journalistin K Oanh Ha wollte mittels eines Gentests herausfinden, welche Krankheiten sie in Zukunft erwarten kann. Dabei hat die in Hongkong lebende Ha ein Experiment gewagt: Sie ist nicht nur zu einem Genlabor gegangen, sondern gleich zu zwei. Eines davon ist das Unternehmen 23 and Me. Ein amerikanisches Labor, gegründet von der Exfrau des Google-Gründers Sergey Brin. Das Unternehmen hat nach eigenen Angaben mittlerweile 10 Millionen Kunden und eine Sammlung von einer Milliarde genetischen Datenpunkten. Das andere Labor liegt in China, in Chengdu. Es heißt 23 Mofang und ist ein Startup, das gerade versucht, den aufkommenden Gen-Boom in China für sich zu nutzen. Das chinesische Labor hat nach eigenen Angaben rund 700.000 Kunden.

Die Resultate der beiden Gentests haben Ha sehr überrascht: Die chinesischen Auswertungen waren wesentlich ambitionierter und umfangreicher. So hat dieser Test Angaben zu einer hohen Wahrscheinlichkeit von schlaffer Haut geliefert. Inklusive Hinweisen, welche Creme von Estée Lauder Ha zukünftig nutzen sollte. Wie auch einen Hinweis, auf eine hohe Wahrscheinlichkeit, 95 Jahre alt zu werden. »Lächerlich«, sagt dazu Eric Topol, ein Genetiker am Scripps Research Translational Institute in La Jolla, Kalifornien, »es gibt keinen Weg, eine konkrete Jahreszahl zur Lebenserwartung zu bestimmen.« Dennoch wird es gemacht, zumindest im chinesischen Labor! Erneut mein Hinweis: Es ist eine Prognose, eine Wahrscheinlichkeit – ganz offensichtlich eine nicht besonders seriöse. Aber auch in der Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen haben die beiden Tests überaus unterschiedliche Ergebnisse gebracht. Das amerikanische Labor hat eine überdurchschnittliche Neigung zu Depressionserkrankungen festgestellt, was dem chinesischen Labor nicht aufgefallen ist. Beide Labors haben eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit für Diabetes bei Ha festgestellt. Die Auswertung von 23 and Me lag dabei auf 48 %, die des chinesischen Pendants 23 Mofang sagt 26 %. Was sollen wir nun glauben? Welche Prognose stimmt, und hilft diese Prognose? Die Journalistin Ha hat von beiden Laboren einen Onlinezugang erhalten, in dem ihre Daten abgebildet werden. Verwundert stellte sie fest, dass sich diese Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf Diabetes im Laufe von ein paar Wochen änderten – ohne dass Sie einen neuen Test gemacht hätte. Der Gründer des chinesischen Start-ups meinte dazu: »Es besteht die Möglichkeit, dass Sie später Resultate bekommen, die das Gegenteil von den heutigen Analysen ergeben.« Was nun? Wir machen einen Gentest, erhalten Aussagen über Wahrscheinlichkeiten und müssen damit rechnen, dass sich diese total verändern – obwohl sich unsere Gene nicht verändern! Wie kann das sein? Der Hintergrund sind die zur Verfügung stehenden Daten sowie die Rechenmodelle und Algorithmen. Im Laufe der Zeit ändern sich diese und damit ändern sich die möglichen Prognosen und Aussagen der Tests.

 

Wieder gilt in Sachen der eigenen Zukunftskompetenz: Jede Prognose ist nur eine Prognose. Sie ist so gut, wie die im Moment dafür herangezogenen Informationen und Modelle funktionieren. Prognosen sind immer gegenwarts- und vergangenheitsorientiert. Keine Prognose nimmt uns eine Entscheidung ab. Je besser die Prognose, desto mehr hilft sie uns, zu verstehen, welche Entscheidung wir überhaupt treffen können. Verwechseln wir Prognosen daher nicht mit Zukunft! Prognosen sind in Zukunft verpackte Vergangenheit.

HINTER DEN KULISSEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT

Einen wichtigen Lerneffekt hatte dieses Gentest-Experiment zusätzlich für die Journalistin Ha. Bei den Tests wurden auch ihre ethnischen Grundlagen untersucht. Ha ist gebürtige Vietnamesin, deren Familienstamm bis nach China zurückreicht. Aufgewachsen ist sie in Amerika. Der amerikanische Test hat ihr diese Mischung bestätigt. Der chinesische nicht: Laut diesem ist sie zu 63 % Han-Chinesin, zu 22 % Dai-Chinesin und zu 3 % Uigurin. Die vietnamesischen Wurzeln wurden nicht erkannt. Das chinesische Labor gleicht seine Daten ausschließlich mit der chinesischen Bevölkerung ab. Uiguren sind ein unterdrücktes Volk in China, und die Frage, die sich Ha nun stellen muss: Wer wird jemals die Daten dieses DNA-Tests erhalten? Ist sie dadurch in China noch sicher?

Wenn wir uns auf Prognosen einlassen, ist es wichtig, so viel wie möglich über die Prognostiker und ihre Modelle zu erfahren. Denn der Hintergrund jeglicher Prognose vermittelt ein Weltbild. An den beiden Gentests können wir die Differenz zwischen chinesischem und amerikanischem Weltzugang erahnen. Aber selbst jede Wetter-App ist auf Basis von gewissen Weltbildern und Anschauungen gemacht. Daher lohnt es sich, immer hinter die Kulissen von jenen zu blicken, deren Prognosen wir verwenden. Wer sind diese Menschen, was machen sie, und wie hat dies wiederum Einfluss auf deren Prognosen? Die Systemtheoretikerin Elena Esposito fasst die Antwort darauf so zusammen: »Eine Vorhersage, die aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung abgeleitet wird, ist also keine (mehr oder weniger gelungene) Vorherbestimmung der Zukunft, sondern ein permanenter Prozess auf der Grundlage provisorischer Prognosen, die kontinuierlich überprüft und angepasst werden müssen. Aber das lässt sich machen, und so wird es möglich, sich auf die Zukunft vorzubereiten, während man sie konstruiert.« Esposito forscht selbst in einem großen Projekt über die Zukunft der Prognostik. Deren alltäglicher Einsatz ändert, wer wir als Gesellschaft sind. Die Folgen daraus können wir noch nicht abschätzen. Daher meine Empfehlung: Seien Sie aufmerksam, wenn Sie das nächste Mal eine Prognose nutzen!

DIE ZUKUNFT IST EIN RAUM VOLLER MÖGLICHKEITEN

Wahrscheinlichkeiten sagen viel über Vergangenheit und Gegenwart aus. In der Wahrscheinlichkeit sehen wir, was wir heute an Daten und Modellen zur Verfügung haben. Die Zukunft wird dadurch nicht vorweggenommen. Diametral dazu arbeiten wir im Zukunftsinstitut mit dem Begriff der Möglichkeiten. Wahrscheinlichkeit liefert Prognosen, Möglichkeit nutzt Potenziale. Für mich persönlich war der Begriff der Möglichkeit immer faszinierend. Er beinhaltet gar nicht erst den Versuch, die Zukunft in statistischen Werten zu erfassen. Der Möglichkeitsraum ist erst mal unbegrenzt groß. Er wurzelt in Potenzialen. Wir können in der Gegenwart feststellen, welche Potenziale wir haben, und daraus Möglichkeitsräume konstruieren. Diese sind nicht in Zahlen und Daten zu fassen. Möglichkeiten sind diffuser und offener. Aber sie erzeugen einen Kontext, einen Denkraum, in dem sich Zukunft entfalten kann. Möglichkeitsräume lassen mehr Freiheiten und determinieren nicht unser Denken – wie Prognosen es tun. Sie öffnen es. Wenn wir uns mit Möglichkeiten beschäftigen, brauchen wir einen Blick für das pozentiell Mögliche.

Häufig treffen wir dies in der Kunst an. Jeder Film, den wir sehen, ist reine Fiktion. Geschichten sind immer erfunden. Selbst wenn diese auf wahren Begebenheiten beruhen, liegt es in der Hand von Drehbuchautoren und Regisseuren, eine Interpretation der Story zu finden. Filme sind Erfindungen und beschreiben Möglichkeiten. Insbesondere Filme, die in einer Zukunft spielen, wie Science-Fiction das zeigt. In Serien und Filmen von Star Trek beispielsweise werden Szenen gezeigt, die in einer fiktiven Zukunft spielen. Als Zuschauer staunen wir über die Kreativität und gleichen das Gesehene mit unseren Erfahrungen ab. Wir erweitern dadurch unseren Möglichkeitsraum. Werden wir in einer kommenden Zeitepoche in Raumschiffen per Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall rasen? Jedenfalls können wir es für möglich halten. Jeder, der schon einmal Star Trek gesehen hat, weiß, wie das aussehen könnte. Die Fiktion eröffnet uns einen Blick für Zukünftiges. Sehr häufig höre ich auch, dass die Autoren von Star Trek ohnehin die Zukunft vorhergesehen hätten. Ihre Kommunikatoren erinnern uns an das, was wir heute Handy nennen. Auch so etwas wie iPads kamen schon vor. Nun ist also die Frage: Haben die Autoren die Zukunft vorhergesehen? Oder haben sie Fiktionen und damit den Möglichkeitsraum für Handys geschaffen?

Für mich liegt die Antwort zu dieser Frage genau in der Mitte. Wer sich mit Sience-Fiction beschäftigt, muss ein Gespür für das Mögliche entwickeln. In der Fantasie malt sich ein Autor eine Zukunft aus und dockt diese an die Lebensbedingungen der Menschen im Heute an. Menschen haben schon lange telefoniert und dafür immer Kabel gebraucht. In Star Trek konnten sie den Kommunikator ohne Kabel benutzen. Diese Möglichkeit war potenziell vorstellbar und die Produzenten haben es umgesetzt. So wie viele Dinge, die wir im Hier und Jetzt erleben, wurden schon in unterschiedlichen Formen fiktiver Zukunftsdarstellung gezeigt.

In der aktuellen Version der Serie, Star Trek Discovery, wird die gesamte Crew inklusive dem Raumschiff per »Spur Drive« in eine Parallelwelt befördert. Dort finden sie all die Menschen und Charakteren wieder, die sie auch in »ihrer« Welt kennen. Nur hier, in der parallelen Realität, werden die Rollen vertauscht, die Welt hat sich anders entwickelt. Die potenziell vorhandenen Möglichkeiten haben sich anders realisiert. Die Idee, die die Drehbuchautoren aufgreifen, stammt aus der Quantenphysik. Dort gibt es eine Viele-Welten-Interpretation. Also im Grunde genau diese von Star Trek umgesetzte Vorstellung, dass es parallel zu unserer Realität ein Vielfaches an existierenden Welten gibt.

Diese Theorie ist umstritten. Aber das sagt noch nichts aus, vor allem dann nicht, wenn man daraus Fiktionen baut, wie das ein SciFi-Drehbuchautor tut. In dem Fall können wir nur erkennen: Potenziell ist diese Vorstellung nicht abwegig.

Was wir daraus für unser eigenes Leben lernen: Möglichkeitsräume handeln mit Potenzialen. Sie spielen mit unserer Fantasie und erzeugen Vorstellungen der Zukunft. Und genau das ist die Zukunft: ein Raum voller Möglichkeiten. Welche der Möglichkeiten sich realisieren wird, kann niemand sicher sagen. In vielen Fällen macht es keinen Sinn, aus den Möglichkeiten Wahrscheinlichkeiten zu machen. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir die Viele-Welten-Realität erleben werden? Dennoch helfen diese Art Theorien und Vorstellungen des Möglichen, uns in eine Zukunft hineinzubewegen. Die Zukunft ist per se unbekannt. Sie ist nicht fertig und kann von nichts und niemandem errechnet werden. Daher benötigen wir Denkweisen, um uns der Zukunft zu nähern oder um die Zukunft zu gestalten. Das Arbeiten mit Möglichkeiten ist ein wesentliches Mittel: Was wir für möglich erachten, kann sich realisieren. In der Geschichte gibt es viele Beispiele. Eine ehemalige Entwicklerin bei Apple hat über die Kultur von Steve Jobs gesagt: »Es gab bei Apple keine Vorstellung davon, dass etwas nicht möglich sei.«

ERKENNEN, WAS MÖGLICH IST

Wie findet man den Zugang zum Raum der Möglichkeiten? Mit einem ausgeprägten Sinn für Beobachtung, einem Verständnis für Zusammenhänge und Mut. Eine wesentliche Grundlage ist Gabe der Beobachtung: Frei von Wertung und ohne Kommentare. Das ist anspruchsvoll in einer Welt, die einen dauernd zum Bewerten und Kommentieren einlädt. Das Wahrnehmen und Erkennen von Möglichkeiten setzt einen Geist voraus, der offen ist. Wertungen verschließen das potenziell Mögliche.

Dazu hatte ich ein schönes Erlebnis: Auf einer Trendreise mit 20 UnternehmerInnen nach Berlin stand auch ein Besuch des Institute for Healing Architecture auf dem Programm. Dieses an der Technischen Universität angesiedelte Institut beschäftigt sich mit der Frage, wie Architektur dem Menschen helfen kann, gesund zu werden – und zu bleiben. Eine spannende Frage. Vor allem, wenn man weiß, dass immer mehr Menschen an psychischen Krankheiten leiden oder Schlafprobleme haben. Außerdem bewegen wir Mitteleuropäer uns über 90 % unserer Zeit innerhalb von Räumen. Der Einfluss der Räume auf unseren Gesundheitszustand ist durchaus relevant.

Wir erreichen das Institute for Healing Architecture. Die Räume wirken nüchtern, geradezu unwirtlich. Es empfing uns eine junge Frau, sie stellte sich als wissenschaftliche Assistentin vor. Die Frau Professor war kurzfristig indisponiert. Wir bewegten uns durch das Institut in Richtung Konferenzraum. Dort fiel uns auf: Die meisten Schreibtische waren leer. Die Assistentin erwähnte, dass fünf ihrer sieben Kollegen krank seien. Die Räume waren kahl eingerichtet, man fühlte sich nicht besonders wohl. Und die Zimmerpflanzen, allesamt Ficus Benjamini, trugen kaum mehr Blätter. Es war gespenstisch in diesem Institut, das für Heilung sorgen soll.

Nach einem detailreichen wissenschaftlichen Vortrag saßen wir in diesem Konferenzraum, kühl, still und ratlos. Allesamt haben sich mehr von diesem Besuch erwartet. In dem Moment wurde mir klar, dass ich die Gruppe auf die Beobachtungsfähigkeit hinweisen muss. Die räumlichen Erlebnisse haben uns zu sehr beeindruckt, als dass wir darin noch Potenziale sehen könnten. Enttäuschung wäre die Folge. Gleichzeitig ist das Thema der Healing Architecture mit enormem Potenzial ausgestattet. Die Notwendigkeit, unsere Häuser und auch Stadtteile gesund zu bauen, ist heute enorm groß. Auch wenn es in diesen Räumen des Instituts nicht direkt erlebbar war: Man hatte sich dort viel Kompetenz in genau diesen Fragen aufgebaut. Die Beispiele, an denen gearbeitet wird, und die akribischen Publikationen beweisen dies. Mir wurde klar: Wir sollten versuchen, das Potenzial des Moments zu erkennen. Dadurch bewegen wir uns im Raum der Möglichkeiten. Als ich der Gruppe dies gespiegelt habe, hat sich ad hoc die Stimmung gedreht. Den Menschen wurde bewusst, das hier kann zu einem ganz wichtigen Moment der Reise werden. Wir blicken in ein Zukunftspotenzial, das erst wenige kennen. Dieser Moment wurde zu einem der Highlights der Reise. Nicht aufgrund einer Sensation oder einer Euphorie, sondern weil es der Gruppe gelungen ist, ihre Beobachtung auf das Potenzial des Moments zu lenken. Werten verschließt die Tür zum Möglichen. Oft zu schnell. Halten Sie sich diese Türe offen: Der Preis ist gering. Beobachten und das Geschwader an Meinungen, Begründungen und Assoziationen im Kopf einfach ziehen lassen.