Tatort Nordsee

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Wiard bot August schweigend einen Hocker an, er selbst setzte sich auf einen alten Drehstuhl, den vierbeinigen (also in Amtsstuben gar nicht mehr zugelassen, denn die mussten fünf Beine haben. Er hatte einen der ausrangierten mitgenommen. Ein Kollege hatte zwar akribisch Buch geführt, und ein Stuhl musste in der Endstatistik gefehlt haben, aber gefragt hatte nie jemand, jedenfalls nicht ihn …). Wiard schaltete das Notebook ein. Beide starrten auf den Bildschirm, auf dem sich das altbekannte, weltweit verbreitete Betriebssystem mit der netten, aber allzu oft gehörten Begrüßungsmelodie meldete. Die Tonfolge schien zu vermitteln, dass sich der große Boss des Ganzen dafür bedankte, dass sich wieder jemand bereit erklärt hatte, sein Betriebssystem zu kaufen, ohne es vielleicht zu wollen, aber es war nun mal beim Kauf schon auf der Festplatte.

»Billyboy«, sagte Freerk immer, wenn es um den großen Boss ging.

»Der«, dachte August, »könnte nicht nur den Polder, der könnte ganz Deutschland mal eben aufkaufen.«

Den Spruch hatte er von Freerk, der gleichwohl auf Linux schwor.

14

Wiard machte einen Doppelklick auf ein Icon, das mit ›GIS-Viewer‹ bezeichnet war. Es erschien eine Oberfläche, auf der, außer allerhand Buttons, zunächst einmal nichts Erwähnenswertes zu sehen war.

»Das ist ein Viewer für Geodaten«, erklärte Wiard kurz, »so etwas kann man gebrauchen, um …«

August unterbrach ihn: »Das habe ich doch schon mal gehört!«

»Natürlich, das musst du schon gehört haben, demnächst muss nämlich jeder Landwirt GIS-Daten nutzen und ebensolche liefern, zum Beispiel, wenn er noch Ausgleichszahlungen von der EU haben möchte. GIS steht für ›Geo-Informationssystem‹. Ein Viewer ist aber eigentlich keine echtes GIS …«

»Da kam so ein Schreiben von der Landwirtschaftskammer oder sogar vom Ministerium, weiß ich nicht mehr genau. Die haben Infomaterial über die neue Regelung der Ausgleichzahlungen geschickt. GIS-Flächenskizzen-Beteiligungsverfahren, ja, so nannten sie das.«

»Ich weiß, habe ich gelesen. Gar nicht so dumm. Zukünftig müsst ihr eure Daten digital an die Kammern oder Ämter für Agrarordnung, oder wie die heißen, schicken und die berechnen die Höhe der Zahlungen. Dabei greifen sie auf hochgenaue Flächengrößen zurück, die du liefern musst. Allerdings gibt es Kontrollen, die per GPS durchgeführt werden, also mogeln geht nicht mehr.«

»Genau. Mit Abschreiten nichts mehr, ich meine, mit unterschiedlichen Schrittweiten, und …«

»Nee, GPS ist supergenau«, diesmal unterbrach ihn Wiard, »darauf basieren die meisten sogenannten Navigationsdienste weltweit, auch im Auto. ›Precision Farming‹ basiert auch auf satellitengestützter Positionierung. Hast du doch sicher schon gehört, oder?«

»Gehört schon, aber viel weiß ich noch nicht darüber, passgenaue Düngung und so was …« August sah Wiard etwas unsicher an und dachte: »Wieso weiß er das nun wieder alles?«

»Ja, genau, Düngung so, dass auf jeden Quadratmeter genau die richtige Menge kommt, nicht Gießkanne, man immer drup damit, sondern schön unter Berücksichtigung auch kleinster räumlicher Variationen.« August sah Wiard an, ohne dass man hätte erkennen können, ob er ihm folgen konnte. Kleinste räumliche Variationen? Na, er mag wohl recht haben …, dachte er sich.

»Frag mich ruhig immer«, sagte Wiard jetzt, »ich berechne deine Flächengrößen mit dem GIS, mache alles etwas größer, und das Geld, das dir nicht zusteht, überweist du dann mir.«

»Ach …«, August starrte etwas abwesend auf den Bildschirm. Er war hier doch nicht auf Weiterbildung.

»Also«, sagte Wiard, »nun mal wieder ernst. Ich will dir etwas zeigen. Ein GIS arbeitet mit Geodaten, Informationen, die man mit einem Standort verbinden kann. Zum Beispiel deine Hofgebäude, deine Ackerschläge. Nehmen wir mal einen deiner Ackerschläge, den du immer ›Am Schlafdeich‹ nennst. Jede Ecke des Schlages kann man mit Koordinaten beschreiben, also zum Beispiel Länge und Breite, du erinnerst dich dunkel an die Schulzeit? Mit einem GPS-Empfänger kann jeder den Ackerschlag sofort finden, selbst wenn er noch nie in der Gegend war. Alles, was sich auf der Erdoberfläche befindet, hat einen Standort, den ich mit Koordinaten angeben und also prima auf einer Karte anzeigen kann. Jedes Objekt ist individuell, aber nur durch die genaue Ortsangabe mittels seiner Koordinaten. Es gibt sicher noch mehr Schläge, die ›Am Schlafdeich‹, oder so ähnlich heißen. Da kommt es schnell zu Verwechslungen. Nicht aber, wenn’s eindeutig verstandortet ist. Ist ja logisch.«

August mochte Wiards Ausdruck ›ist ja logisch‹ nicht besonders. Wiards gebrauchte ihn oft, wenn er in seinem Element war und anderen Neues erklärte. Und wenn man etwas nicht gleich verstand, erschien es, als sei man ein wenig beschränkt, denn wenn etwas ›einfach logisch‹ war, war es ja kaum möglich, es nicht zu begreifen.

»Schau mal, hier ist zum Beispiel eine Karte des Landkreises«, fuhr Wiard fort, klickte auf ein Icon, das neben einer gezackten Linie die Abkürzung ›TK25‹ enthielt, und es erschien eine Karte.

»Das ist eine einfache topografische Karte, deshalb TK, im Maßstab 1 : 25000. Eine amtliche Karte, das heißt eine, die von den Landesvermessungsämtern abgesegnet ist und für weitere Karten als Grundlage dienen kann.«

»Interessant«, sagte August nur, für Karten hatte er sich nie sonderlich interessiert, wusste aber, dass es ohne sie nicht ging, bei Anträgen an die Kammer schon gar nicht. Henrike hatte ihm einmal ein Buch mit alten Karten und Stichen geschenkt, in dem er vor allem die Entwicklung der Küstenlinie im Bereich des Polders nachvollziehen konnte, was er durchaus interessant fand. Aber wann kam man schon mal dazu, sich in Ruhe mit einem solchen Buch in die Ecke zu setzen (ein Pils oder ein Glas Wein daneben)?

»So. Mit dem Viewer kann ich weitere Karten anzeigen, die sich thematisch voneinander unterscheiden. Voraussetzung ist nur, dass sie die gleichen Koordinaten haben, also die Eckkoordinaten übereinstimmen, dann passen sie genau aufeinander. Man sagt, sie sind georeferenziert«, Wiard war nun ganz in seinem Element.

»Sag mal, wird das hier ein ganzer Einführungskurs, oder was?«, ärgerte sich August und wollte gerade fortsetzen, dass er auch anderes zu tun habe.

»Nein, keine Angst, August. Entschuldige, wenn ich zu viel rede, du kennst mich ja, wenn ich von etwas begeistert bin … und GIS und GPS sind nun einmal begeisternde Technologien …«, Wiard machte eine kurze Pause, »ich will dir etwas ganz Bestimmtes zeigen, über das andere können wir gerne mal reden – wie gesagt, du wirst das demnächst sowieso brauchen. Und wenn du nicht nur die Abrechnungsgeschichten, sondern auch andere Dinge mit einem GIS machst, kann dir das eine Menge erleichtern, und vor allem kriegst du ein ganz neues Bild deines Hofes, deines Landes, deiner Äcker. Aber das heben wir mal für später auf. Jetzt zu dem, was im Moment wichtig ist. Schau mal hier.« Wiard klickte erneut, und diesmal erschien eine Karte, die einen deutlich größeren Maßstab aufwies. August brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es sich hier um den Westteil des Polders handelte.

»Mein Hof«, rief er fast wie ein Kind aus, das auf einem Foto sich selbst entdeckt.

»So ist es«, stimmte Wiard kurz zu, »und hier ist der Deich, der alte Verlauf, und der neue. Warte mal.« Wiard änderte über einen ›Legend Editor‹ einige Strichstärken und Farben. Nun erschien die Karte des Polders neu, und die Linien des Deiches – alter und neuer Verlauf – wurden wesentlich dicker, einmal in Grün und einmal in Rot dargestellt.

»Jetzt kannst du den Deichverlauf genau sehen«, erläuterte Wiard. »Rot ist der neue Deich, und hier ist die Ostkrümmung, na, das brauche ich dir nicht erklären, du kennst dich ja aus. Aber jetzt musst du genau aufpassen, ich rufe jetzt noch ein neues Layer auf …« Doch August unterbrach ihn:

»Ein was?«

»Ein Layer, ach so, na, das ist jetzt egal, erkläre ich dir später. Pass einfach mal auf«, wehrte Wiard die Frage ab.

»Jawohl, Herr Lehrer.«

»Komm, sei nicht so. Es geht etwas schnell, aber ich will dir eines noch zeigen, bevor du los gehst.«

»Na, denn man los.«

Wiard rief besagtes Layer auf, und über die rot und grün eingefärbten Deichlinien legte sich eine Art Skizze, auf der u. a. Handnotizen zu lesen waren. Außerdem einige ebenso per Hand gemalte Linien. Die Notizen und Linien befanden sich offenbar auch auf einer topografischen Karte. Die beiden Karten, die zuerst aufgerufene und die darübergelegte, passten zwar recht gut übereinander, die Linien wiesen jedoch Abweichungen auf. Die Notizen waren über per Hand gezeichnete Pfeile mit diesen Linien verbunden. ›Schadstelle 1a−c‹, ›Schadstelle 2b‹ und ähnliche Notizen las August.

»Was bedeutet das?«, fragte er. Wiard hatte bislang geschwiegen, um August Zeit zu geben, sich das Ganze anzusehen.

»Das habe ich von jemandem bekommen, dessen Namen ich im Moment nicht nennen will. Ein paar Umwege, dauert zu lange, es jetzt zu erklären. Jedenfalls ist es nichts weiter als eine Handskizze, gemalt auf einer topografischen Karte, in einem recht großen Maßstab natürlich, nicht wie eben, 1 : 25.000. Die Handeintragungen zeigen Schadstellen am Deich, um es kurz zu machen. Erfasst, wie du siehst, im Juli und August letzten Jahres. Die Handskizze ist schlicht gescannt worden, und den Scan habe ich als JPEG hier eingeladen, aber transparent dargestellt, damit man die Karte darunter auch noch sehen kann«, Wiard machte eine Pause.

»Aha«, sagte August nur, bislang verstand er nicht so recht, worauf Wiard hinauswollte. Während die vorab gezeigten Karten recht übersichtlich und seriös ausgesehen hatten (es waren ja auch amtliche), erschien ihm dieses JPEG störend. Was JPEG bedeutete, war ihm schon völlig unklar, er kannte diese Situationen aber. Freerk bombardierte ihn manchmal auch mit einer Reihe ihm nicht bekannter Begriffe oder gab in einer für August wenig nachvollziehbaren Sprache Erklärungen ab, meinte etwa, auf der neuesten DVD irgendeiner Top-Band sei eine saugeile Sequenz, die total abging …

 

»Also«, fuhr Wiard fort, »es ist eine Handskizze der neuen Deichlinie, auf der einige der Schadstellen verzeichnet sind, die uns die großen Sorgen machen. Ich habe das von einem Mitarbeiter der Wasserwirtschaftsverwaltung. Sozusagen ein Untergebener von Georg Redenius. Ich bin, wie gesagt, über Umwege an ihn herangekommen, und er hat durchweg meine Vermutungen bestätigt. Er fühlt sich nicht recht wohl in seiner Haut, darum hat er mir diese Informationen zukommen lassen. Er will absolut nicht genannt werden – fürchtet Konsequenzen, auch wenn es sich um die Wahrheit handelt. Das muss ich respektieren und werde selbst dir den Namen nicht nennen. Ich hoffe, du glaubst mir, dass nicht ich diese Skizze gemalt habe – wozu auch?

Ich hatte das mit dem Scannen und Übereinanderlegen im GIS nur mal testweise probiert – finde aber, dass man aus dem Ergebnis neue Schlüsse ziehen kann, vor allem aber ist meine Theorie bestätigt, und unsere Beobachtungen vor Ort finden sich hier eigentlich auch wieder.«

Im ersten Moment war August ein wenig verblüfft. An Wiard war ein Lehrer verloren gegangen, wenn er so daherredete.

Dann fasste er sich und sagte: »Ein paar Striche auf ein Blatt Papier malen und ›Schadstelle‹ dranschreiben, das kann ich auch schnell machen. Und das stimmt doch alles nicht exakt mit der Karte überein, das ist für mich kein Beweis.«

»Von Beweisen redet hier doch keiner. Dir muss ich auch gar nichts beweisen. Dass da nichts übereinstimmt, ist auch nicht ganz richtig. Natürlich, die Deichlinie der Skizze und die der Karte sind nicht identisch – aber das ist ganz logisch. Die Handskizze ist nun mal nicht exakt vermessen, und selbst wenn sie es wäre, könnte es sein, dass die Linien nicht genau aufeinanderliegen, wenn nämlich die Georeferenzierung nicht gut genug ist. Schau dir mal die dicke rote Linie der Karte und die der Handskizze an. Da sind doch deutliche Ähnlichkeiten zu erkennen. Und hier, schon gesehen?« Wiard zeigte am Bildschirm auf einen schlecht lesbaren Schriftzug, recht klein zwischen zwei ›Schadstelle‹-Bezeichnungen gequetscht.

»Ostkrümmung«, las August laut vor.

»Eben«, sagte Wiard, »das ist unser Deich, der neue, gespickt mit Schadstellen. Handskizze auf amtlicher Karte, aber, in gewissem Sinne, amtliche Handskizze, wenn auch inoffiziell und natürlich streng geheim. August, die Sache ist heißer, als wir gedacht haben.«

August wusste nichts zu entgegnen. Wieder gingen allerhand Gedanken durch seinen Kopf: Wenn das stimmt, dann …

Als hätte Wiard seine Gedanken gelesen, fuhr er fort: »… dir erzähle ich nun wirklich keine Märchen, August. Das, was wir hier mit dem GIS sehen, müssen wir irgendwie publik machen. Freund Computer – wie du ihn immer nennst – hilft uns doch, die Sachverhalte zu verdeutlichen. Auf diesem Weg müssen wir weitermachen. Und dann, seriös und mit ordentlicher Unterstützung der Medien die Missstände anprangern. Nur so etwas ist überzeugend in unserer heutigen Welt. Ich kann’s auch anders ausdrücken: Wenn wir das nicht tun, stell dir mal vor, im Winter oder Frühjahr gibt’s ein, zwei oder auch drei richtig heftige Stürme, aus Nordwest, Stärke zehn bis zwölf. Weißt du, was dann ist? Dann bricht uns der Puddingdeich einfach so weg, dann ist Land unter, und wir kriegen hier verdammt nasse Füße.« Wiard lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm und machte den Eindruck, als wolle er sagen: ›Puuh, nun ist es raus.‹ August war erschüttert, jedenfalls für kurze Zeit. Er hatte Wiards aufrichtige Erregung bemerkt.

Puddingdeich, wiederholte er in Gedanken. »Welche Beweise? Woher? Das muss ein Offizieller bestätigen. Und wenn nicht ein Schorsch Redenius von der Aufsichtsbehörde, wer dann?«

August war ratlos.

»Gute Frage, nächste Frage«, sagte Wiard. »Da habe ich noch keine zündende Idee. Und nach dem, was du von Georg Redenius erzählt hast, wird der keine große Hilfe sein. Er will wahrscheinlich vor allem Ruhe haben, will auf seine alten Tage noch Chef werden, und da muss er alles, was auch nur den geringsten negativen Anstrich haben könnte, aus seinem Haus raushalten. Er wäre ansonsten natürlich ideal, um die Missstände anzuprangern, in seiner Position … Trotzdem, wir wissen jetzt, dass da was im Busch ist, was uns alle unsere Existenz kosten kann. August, wenn mein kleines Häuschen hier weggespült wird, mit dem alten Kram, finde ich schon was Neues. Ich paddele einfach mit meinem alten Faltboot davon, falls die Mäuse es nicht längst zerfressen haben, es liegt schon seit zwei Jahren unbenutzt auf dem Dachboden«, er lachte, doch dann wurde er ernst. »Aber bei dir, da hängt ein ganzer Hof dran, mit sauteuren Maschinen, einem Haus, deine komplette Existenz mit Familie. Wenn das weg ist – na dann, prost Mahlzeit, dann kannst du dir auch nur noch ’nen Strick nehmen. Oder betteln, dass dich einer mit einem gezielten Steinwurf vom Stuhl haut und du einfach liegen bleibst.«

»Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, wehrte August erneut ab, »das ist ja das schlimmste Szenario, das man sich vorstellen kann. Seit 1962 haben wir doch dazugelernt, oder?«

»Ich weiß nicht. Der Mensch ist so bestellt, dass immer etwas passieren muss, bevor gehandelt wird.«

»Da ist was dran.«

»’62 ist menschlich betrachtet eine halbe Ewigkeit her. Seitdem glauben alle, die Deiche seien sicher. Zeit, dass mal wieder was passiert, was genau das widerlegt … Könnte sein, oder? Es sei denn, es gibt einige, die vor möglichen Folgen falschen Handelns warnen.«

»Mann, Wiard, du hättest Politiker werden sollen!«, meinte August, der Wiard zuletzt doch recht überzeugend gefunden hatte.

»Bloß das nicht. Dann würde mir ja niemand mehr glauben«, witzelte Wiard und beendete per Mausklick den ›GIS-Viewer‹, »oder glaubst du denen noch irgendetwas?«

»Im Moment weiß ich nicht, was ich glauben soll. Und ich muss los. Was nun weiter?«

»Bleib an Schorsch Redenius dran. Ich höre mich auch weiter um. Ich will nicht übertreiben, August, aber wenn was passiert und man erfährt, dass wir davon wussten, aber nichts getan haben, dann können wir nur noch nach Mauritius auswandern.«

»Da ist doch auch bald Land unter, dank dem Treibhauseffekt und dem Anstieg des Meeresspiegels«, antwortete August und fragte sich, warum er ›auch‹ gesagt hatte.

»Dann ziehen wir eben irgendwo in den Kaukasus«, bemerkte Wiard, und fuhr fort: »Hätte nicht gedacht, dass du dich für den Treibhauseffekt interessierst als friesischer Bauer.«

»Da kannste mal sehen. Und der friesische Bauer macht demnächst deinem Puddingdeich zu schaffen. Ich habe die Nase voll! Sollten wir nicht gleich zur Polizei gehen?«

»Unserem Puddingdeich, August, unserem.« Wiard gab ihm die Hand. »Lass uns noch ein, zwei Tage warten, dann gehen wir zur Polizei. Ich möchte meine Unterlagen noch so ordnen, dass sie auch jedem Dorfpolizisten klar und deutlich zeigen, was Sache ist.«

Die Hand zur Verabschiedung reichte Wiard selten. August ergriff sie, und für einen Moment dachte er an so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft; verwarf den Gedanken aber sehr schnell wieder. Von so etwas hielt er eigentlich nicht viel. August warf den Trecker an und fuhr nachdenklich nach Hause. Fast zwei Stunden war er bei Wiard gewesen. Der kaputte Zaun würde wohl noch warten müssen. Das Vieh stand ohnehin im Stall, schließlich war es Herbst. Und im Herbst kamen die Stürme.

15

Als Henrike an diesem Nachmittag aus Norden kommend nach Hause fuhr, wunderte sie sich über Aktivitäten am neuen Deich. Die Straße beschrieb hier eine lang gezogene Kurve und umrundete so die Ostkrümmung. Der alte Deich hatte wesentlich näher an der Straße gestanden, von ihm war aber so gut wie nichts mehr zu sehen. Das alte Material war teilweise direkt im neuen Deich verbaut und dieser 200 Meter Richtung Wattenmeer hinaus angelegt worden, ein kleines Stück Neulandgewinnung, obwohl das längst nicht mehr das vorrangige Ziel war. Bislang hatte der neue Deich frei gestanden, zwar wiesen vereinzelt Schilder darauf hin, dass ein Betretungsverbot bestand, da das Bauwerk durch die Verlegung in die Ruhezone des Nationalparks fiel, aber das war es auch gewesen. Als Henrike an diesem Tag vorbeikam, waren – wieder einmal – rege Bautätigkeiten im Gange. Es wurde aber nicht am Deich gebaut, sondern davor. Einige Pkws standen herum, zwei Lieferwagen und ein kleiner Bagger waren zugegen, und schnell hatte Henrike erkannt, was dort errichtet wurde. Sie war ziemlich erstaunt. Ein Zaun, an der Binnenseite des Deiches, und zwar ein recht hoher. Sie schätzte ihn auf etwa zwei Meter, obwohl sie gestehen musste, dass sie verdammt schlecht im Schätzen war.

Zufällig hatte sie Lübbert Sieken getroffen, der nicht weit von hier in einem kleinen Haus lebte, mit einem Hund, einer Katze und zwei Schafen. Siekens Frau war vor drei Jahren an Krebs gestorben, dieser »gottverdammten und völlig nutzlosen Seuche«, wie Sieken seitdem nicht ohne Verbitterung sagte. Er war, nach einer Phase, in der alle überzeugt gewesen waren, dass er nun endgültig dem Alkohol verfallen würde, vor dessen krankhaften Folgen ihn bis dahin wahrscheinlich nur seine Frau weitgehend abhalten konnte, vor anderthalb Jahren von einem Tag auf den anderen aus seiner Lethargie erwacht und hatte sich daran gemacht, aus seinem Haus und dem Grundstück ein kleines Schmuckstück zu zaubern. Das war sein neues Lebensziel geworden. Er hatte alles selbst gemacht, Fenster und Türen dunkelgrün gestrichen, was gut zu den roten Ziegeln passte (zumindest fand Lübbert das), den Garten auf Vordermann gebracht, Obstbäume beschnitten und den Zaun erneuert, an dem im Frühling Wicken rankten, die im Sommer herrlich dufteten. Manchmal wurde er ganz melancholisch und seufzte: »Wenn Erna nun von oben guckt, wird ihr das gefallen.«

Nicht dass er dem Alkohol abgeschworen hätte, aber er hielt den Konsum so weit in Grenzen, dass er den Tag über arbeiten konnte, klar, mit Pausen natürlich, aber schließlich war er Rentner. Mittlerweile ging er wieder mit offenen Augen durch seine Umwelt, zwischenzeitlich hatte ihn rein gar nichts mehr interessiert. Sein Verstand war immer noch scharf. Die 35 Jahre als Gemeindearbeiter im nächsten Sielort hatte er hinter sich, war etwas früher in Rente gegangen, und die »reichte allemal, selbst wenn sie die noch mal kürzen, damit die Diäten erhöht werden können oder wenn es wichtiger war, ein paar Panzer mehr für die Bundeswehr anzuschaffen, um die Heide kaputt zu walzen.« Außerdem, so ergänzte er, spare der Staat doch auch, obwohl er ihm Rente zahle – schließlich sei seine Stelle nach seinem Weggang nicht wiederbesetzt worden.

Am Deich hatte Lübbert Sieken Henrike schon von Weitem gegrüßt. Lübbert kannte Henrike seit deren Kindheit. Henrike ihrerseits schätzte ihn als netten, älteren Mann, der oft witzig war und beim Dorffest den Kindern eine Süßigkeit spendierte. Gerade dann besonders gern, wenn er angetrunken war. Der manchmal mürrische Sieken wurde unter Alkoholeinfluss lebhaft und lustig, was bekanntlich nicht bei allen Zeitgenossen der Fall ist, und von daher verband sie positive Erinnerungen mit ihm. Als Kind hatte sie den Alkohol nie bemerkt, jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie grüßte ihn zurück, und als er nahe genug herangekommen war mit seinem Fahrrad, rief er: »Moin, min Kind, wat makst du hier so alleen bi de Schietwedder?«

»Moin, Lübbert, ich kam gerade aus der Stadt, und da sah ich, dass hier schon wieder gebaut wird …Was machen die denn hier?«

»Hest du Bohnen up dien Oogen?«, meinte Lübbert und fuhr dann auf Hochdeutsch fort: »Hier wird ein Zaun gebaut, würde ich mal tippen.« Geradezu väterlich lächelte er sie an, und wieder ging ihm durch den Kopf, dass er schon, als Henrike noch nicht einmal zehn Jahre alt gewesen war, immer hervorgehoben hatte: »Das wird mal das schönste Mädchen im ganzen Polder.« Henrike hatte später entgegnet, ob das denn nun ein Kompliment oder eher das Gegenteil davon sein sollte, aber Lübbert hatte erwidert: »Wieso? Gibt’s denn noch was anderes als unseren Polder auf dieser Welt?«

»Ja, das sehe ich, aber wozu?« In diesem Moment fiel Henrike auf, dass sie eigentlich immer mit Lübbert Sieken Gespräche geführt hatte, in denen sie Fragen stellte und Lübbert wohlwollend antwortete.

»Na, ich denke, da soll keiner mehr auf den Deich.«

 

»Da standen doch schon Schilder, reicht das nicht?«

»Doch, das reicht wohl. Aber erklär das mal den Leuten auf’m Amt. Die meinen, das reicht nicht. Und dann kann man ja noch ein paar Steuergelder verschleudern, ist ja Herbst, da muss das Geld weg, baut man eben einen Zaun an den Deich, wenn einem nix anderes einfällt. Und die Verbotsschilder dazu, die gibt’s ja auch nicht umsonst, da kann man noch ein bisschen mehr Geld verballern«, ereiferte sich Sieken, und wusste nicht, ob er dabei nun lachen oder weinen sollte. Kurz dachte er auch wieder an die erneute Nullrunde bei den Renten.

»Aber man muss doch mal drauf können, auf den Deich. Die können hier doch nicht alles dichtmachen«, war das Einzige, was Henrike hervorbrachte.

»Da kommen sicher ein paar Türen rein. Ja, klar.« Lübbert machte eine kleine Pause. »Aber die werden wohl verschlossen sein, und den Schlüssel hat dann wieder so ein Amtlicher – also, wir, die hier wohnen, wir kommen nicht mehr auf den Deich, jedenfalls nicht hier.« Es lag echte Trauer in seiner Stimme, denn er war über viele Jahrzehnte hinweg fast jeden Tag auf und vor dem Deich gewesen. Der Wind, die See, das waren Lebenselixiere für ihn. Wenn man hinter dem Deich wohnte, aber ihn nicht begehen durfte, war das mindestens so bitter wie zu lang gezogener Tee, und dann noch ohne Kluntje. Oder Beutel-Tee, im Glas, mit Kondensmilch. Holl mi up.

»Ich verstehe ja, dass nicht jeder drauf soll, aber die Einheimischen, die wissen, dass man auf so einem Deich nicht alles machen darf und auch nicht im Deichvorland einfach herumtollen kann, wie man will, die müssten doch eine Sondergenehmigung erhalten«, dachte Henrike laut nach, und Lübbert Sieken nickte zustimmend, aber schweigend mit dem Kopf.

Schließlich fügte er hinzu: »Das meine ich auch, min Deern, aber solche Dinge zählen heute nicht mehr, alles schnuppe. Amtliche Vorgänge sind anders. Zäune bauen, betreten verboten, und wer’s trotzdem tut, kriegt ’ne saftige Strafe aufgebrummt. So geht das. Die Krux ist, dass so etwas nicht hier beschlossen wird, sondern in der Kreisstadt oder noch weiter weg. Das entscheiden Leute, die zum Deich hier keinerlei Verbindung haben, denen es egal ist, ob ein Zaun davor steht, oder nicht. Die wissen doch rein gar nicht, was uns der Deich hier bedeutet – und dass wir gut mit ihm umgehen, schließlich schützt er uns. Denen da oben ist das so schnuppe, wie der nächste Huster des bayerischen Ministerpräsidenten mir piepegal ist«, Lübbert Sieken sah durchaus erbost aus.

Henrike und Lübbert standen eine Weile, sahen zu den Arbeiten am Deich hinüber und sagten nichts. Schließlich ergriff Lübbert wieder das Wort, und was sie hörte, verblüffte Henrike.

»Ich mache mir aber weniger Sorgen um den Zaun und die Schilder als um den neuen Deich.«

»Sorgen?«

»Also, man darf den Deich nicht mehr begehen, das ist schlimm für mich, weißt du? Ich wohne hier hinter’m Deich und darf nicht darauf, das ist fast wie im Knast. Du kannst dir vorstellen, dass ich oft hingegangen bin, zum Deich, vor allem abends, um noch ein paar Schritte auf oder vor ihm zu gehen. Ich brauche das einfach, den frischen Wind, den Geruch des Watts, die Vögel, die irgendwo rufen. Möwen, Enten und vor allem Austernfischer, Tütjevögels. Du weißt ja, wie schön das ist, hast August doch auch am Deich kennengelernt, ja … da kann Liebe entstehen … Ich habe den alten Deich gekannt wie meine Westentasche, und auch der neue ist mir schon ein wenig vertraut geworden.« Lübbert machte eine kleine Pause, als denke er nach. »Der neue ist aber nicht wie der alte, obwohl er ja höher, fester und besser sein soll. Wie alles Neue angeblich besser sein soll, schneller, weiter, am höchsten, am … ach, was weiß ich …« Lübbert Sieken schwieg wieder. Seine Wangenknochen traten hervor, er schien sich auf die Zunge zu beißen. Sein Blick ging in die Ferne.

»Was meinst du?« Henrike spürte, dass sie sich der Wiard’schen Deichgeschichte näherten, die nun auch im Kopf ihres Mannes herumschwirrte.

»Ich glaube, die haben den Deich nicht überall so gebaut, wie er eigentlich gebaut sein müsste. Das ging alles zu schnell. Ich habe nicht Buch geführt, aber man hat das im Gefühl, wenn man sein ganzes Leben hinter dem Deich verbringt. Auch mit den neuen Maschinen und so, ich habe das damals schon komisch gefunden, wie schnell plötzlich alles fertig war. Da wurde mit einer Hochgeschwindigkeit gebaggert, aufgeschüttet, modelliert, gesodet, gesät, dann war die Einweihung und schwupp, alles bestens. Und nun ist mir bei meinen – zugegebenermaßen verbotenen, aber da sag ich mal wie die im Süden: ›Hobt’s mi alle gern‹ – abendlichen Wanderungen etwas aufgefallen, was mir ernsthaft Sorgen macht.« Er machte wieder eine Pause.

»Was?« Henrike ahnte, worauf er hinauswollte.

»Der Deich ist weich. Und ich reime da nicht aus Spaß.«

»Weich?« Henrike wusste genau, was Lübbert meinte, wollte aber seine Version hören.

»Er ist nicht so widerstandsfähig, wie ein Seedeich sein sollte.«

»Wie meinst du das? Da steht ja sogar ein Bagger drauf, der ist doch stabil.«

»Nee, so mein ich das nicht. Weich heißt, dass der Kern, das Innere des Deiches, vor allem aus Sand besteht, was ja in Ordnung ist, aber ich glaube, den haben die einfach nur reingespült. Was auch normal wäre, wenn man ihm genug Zeit gelassen hätte, um sich setzen zu können. Noch schlimmer ist, dass die Kleischicht viel zu dünn ist und eine ordentliche Einsaat fehlt. Klar, Gras wächst da, aber wohl mehr, damit es schnell über etwas wächst, was nicht gut gemacht ist. Da gibt es jetzt schon Schadstellen, die nur aufgrund der miserablen Arbeit entstanden sind und die extrem nachlässig geflickt wurden. Ich habe mir das mit eigenen Augen angesehen! Wenn man ein bisschen den Blick dafür hat, sieht man das sofort. Also ich sage: Der hält keine zwei Sturmfluten aus. Ist vielleicht übertrieben, aber vielmehr werden es nicht sein. Und es soll mehr davon geben in Zukunft, sagt man. Ein paar Nordweststürme, hoch auflaufendes Wasser, läuft ja sowieso höher auf nach dem Eindeichen der halben Bucht, dann ist Land unter, es könnte zumindest sein. Ich übertreibe nicht, Henrike! Das alles passt zusammen mit der Hektik, mit der der Deich hier an der Ostkrümmung fertiggestellt wurde – die haben auf ein paar elementare Dinge verzichtet. Wenn Karnickel am Deich wühlen und ganz schnell heller Sand aus ihrem Bau kommt, dann stimmt da was nicht. Und weißt du was? Die bauen hier den Zaun und machen all das Verbotstrara, weil das keiner sehen soll. Dann würden hier nämlich ein paar Leute mal zur Verantwortung gezogen. Die sitzen aber auf Stellen, dank derer sie die Möglichkeiten haben, das zu verhindern.« Wieder schwieg Lübbert Sieken, und wieder traten seine Wangenknochen deutlich hervor.

»Der neue Deich?«, Henrike konnte kaum glauben, dass Lübbert bestätigte, was Wiard August erzählt hatte, dies aber ganz unabhängig voneinander.

»Ich denke, hier, am Deichschluss, ist es am schlimmsten, wahrscheinlich ist der Rest in Ordnung. Ich glaube, nur hier, im Bereich der Ostkrümmung, ist was faul. Ich habe das im Gefühl. Habe auch mit den Leuten gesprochen, die dort arbeiten. Die reagieren ein bisschen verstockt. Manchmal meine ich, sie weichen aus. Sagen dann: »Keen Tied, du, ick mutt arbeiten, wie hebben hier Akkord«, so wat ähnelsk jedenfalls. Aber an einem Deich darf’s nirgendwo eine Schwachstelle geben. Schließlich kannst du einen Eimer, der nur ein winzig kleines Loch hat, wegschmeißen. Am Deichfuß entstand nach der etwas höheren Flut neulich ein richtiger Wasserstrom. Ich war jeden Abend da, die Nässe hat mich gewundert und daran erinnert, wie die Leute bei der großen Oderflut in Ostdeutschland befürchteten, dass die alten Flussdeiche nach einigen Tagen Wasserhochstand durchweichen und schließlich brechen könnten. In Holland, an den Rheindeichen, war es genauso. Die haben gebangt und gebibbert, unsere lieben Nachbarn, dass die Deiche halten. Es war schon alles für eine rasante Evakuierung geplant, na der Herrgott, oder wer auch immer, hat’s erst einmal noch nicht so weit kommen lassen, obwohl es grob fahrlässig ist, Deiche über Jahrzehnte nicht zu sanieren. Oder denk mal an diese Hurrikane in den USA, in New Orleans. Da haben die Deiche nicht gehalten, weil sie schlecht gebaut waren. Und was sie danach wieder aufgebaut haben, war wahrscheinlich noch schlechter. Stand doch alles in der Zeitung. Also, so was gibt’s, das sind keine Märchen. Und hier, Henrike, hier haben wir einen Seedeich vor uns, keinen Flussdeich, das ist noch ein kleiner Unterschied«, nach einer weiteren Pause fuhr er fort, »und das mit der Ostkrümmung passt gut, denn das war sozusagen das Schlussstück des Meisterwerks. Damals gab es diese Verzögerungen und Diskussionen, weil die Baufirma plötzlich vor der Pleite stand, und es musste dann alles ganz schnell gehen. Nee, der Deich ist gut, aber hier, genau hier, wo ich wohne, gibt es eine Schwachstelle, ich bin mir da sicher. Ich bin vielleicht alt, aber nicht blöd. Mindestens 500 Meter, die müsste man noch mal sorgfältig prüfen und sanieren. Ich überlege schon die ganze Zeit, was man tun kann.«