Tatort Nordsee

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11



»Freerk, was ist denn los, der Bus wartet nicht!« Henrike war genervt, weil gerade ihr Ältester an diesem Morgen nicht fertig wurde. Freerk hatte am Abend zuvor bei einem Freund Geburtstag gefeiert, versprochen, spätestens um zehn zu Hause zu sein, und war schließlich um kurz nach zwölf zurück gewesen.



»Du riechst nach Bier, vorsichtig ausgedrückt«, hatte Henrike ihm ohne zu grüßen ins Gesicht gesagt. Sie hatte schon geschlafen, Freerk hatte seinen Hausschlüssel vergessen und so lange geklingelt, bis seine Mutter ihm geöffnet hatte. Sie war natürlich sauer, erstens wegen seiner Verspätung, zweitens, weil er mitten in der Nacht so einen Lärm veranstaltete. Zum Glück war keines der Kinder aufgewacht, und auch August hatte wie ein Bär geschlafen.



»Die Geburtstagsfeiern, bei denen Kakao getrunken und danach Topfschlagen gespielt wird, sind eben vorbei, Mama«, hatte Freerk grinsend in der Tür stehend gesagt und war dann schnurstracks in sein Zimmer gegangen, ein »Danke fürs Türaufmachen« nuschelnd. Jetzt kam er nicht aus dem Bett, um 7.20 Uhr fuhr sein Bus. Es war bereits fast 7 Uhr, und Freerk hatte noch nicht gefrühstückt.



»Kannst du mich mit dem Auto bringen?«, rief er zu seiner Mutter herunter.



»Vergiss es, das kannst du selbst ausbaden.«



»Mann, Mama, ich hab den Wecker nicht gehört, und so ganz fit bin ich heute Morgen nicht.«



»Das wundert mich nicht. Soll ich dich jetzt bemitleiden, oder was?«



»Ist ja gut. Aber ein Brot einpacken, das kannst du doch?«



»Könnte ich, hier liegt aber gerade keines rum, das man einpacken könnte. Ein geschmiertes schon gar nicht.«



»Ich möchte eins mit Käse und eins mit Salami.«



»Mach’s dir selbst, wozu wirst du bald 17?« Henrike ärgerte sich. August war muffelig zum Melken gegangen, und nun wurde der Große nicht fertig. Ausgerechnet der. Nächstes Jahr wird er 18 Jahre alt. Wahlfreiheit, alle Rechte des freien Bürgers in der Demokratie, Führerschein (das Gebettel um das Geld dafür ging schon los) – aber morgens nicht rechtzeitig in die Socken kommen und dann noch von Mama das Butterbrot machen lassen. Henrike blieb stur.



Schließlich kam Freerk die Treppe heruntergestürzt. »Wo sind meine Brote?«



»Weiß nicht, wo hast du sie denn hingepackt?«



»Och Mama, hast du wirklich keine gemacht?«



»Nein, hab ich nicht. Ich bin nicht euer Sklave, Freerk, du wirst demnächst volljährig …« Weiter kam sie nicht.



»Ist ja gut, hör mit den Sprüchen auf … immer dieselben … wäre ja nur mal ein Gefallen gewesen, aber wenn das schon zu viel verlangt ist … kann doch jedem mal passieren, dass er verschläft …«



»Das sind keine Sprüche, das ist …« Freerk warf sich seine Jacke über und knallte die Tür hinter sich zu. Henrike schaute aus dem Fenster auf die Hauseinfahrt und sah Freerk nur Sekunden später auf seinem Rad Richtung Haltestelle sprinten, mit offener Jacke und der Tasche unterm linken Arm.



»Mach die Jacke zu«, murmelte sie nutzloserweise und dachte gleichzeitig: »Na, die Brote hätte ich doch machen können.« Einen Moment zweifelte sie, ob sie nun richtig gehandelt hatte, entschied aber, dass es keinen Sinn habe, weiter darüber nachzudenken. Nur wenig später betrat August das Haus.



»Na, fertig mit dem Melken?«, fragte Henrike, mehr um irgendetwas zu sagen.



»Saukalt heute Morgen im Stall. Hast du Tee klar?«



»Nein, hab ich nicht, hast du, hast du … könnt ihr nichts anderes als fragen, ob ich dies oder das gemacht habe? Ihr könnt mich mal gernhaben!« Diesmal knallte Henrike die Küchentür und verschwand im Schlafzimmer. August guckte erst einmal etwas verdattert in die plötzliche Leere. Dann verstand er, dass an diesem Morgen nicht alles so verlaufen war, wie es sollte. Er stellte den Wasserkessel auf den Herd, räumte den Frühstückstisch ab, wischte ihn sauber und platzierte zwei Tassen darauf. Nachdem er den Tee aufgegossen, das Stövchen auf den Tisch gestellt und Kluntjes in die Tassen gegeben hatte, ging er zum Schlafzimmer und öffnete behutsam die Tür. Henrike stand am Fenster.



»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich so sanft es einem friesischen Bauern möglich war.



»Ja, klar. Aber ich sehe nicht ein, warum ich euch alle von hinten bis vorne bedienen muss. Ein paar Dinge können die Kinder mittlerweile auch allein tun – die sehen gar nicht, was alles zu erledigen ist, und wundern sich nicht, wenn alles immer wieder auf wundersame Weise in Ordnung gebracht wird. Und bei dir habe ich auch manchmal den Eindruck.«



August merkte, dass Henrikes Wut noch keineswegs verraucht war.



»Hast wohl recht«, begann er und überlegte angestrengt, was zu sagen jetzt wohl das Beste wäre. »Vielleicht sollten wir feste Aufgaben verteilen, so nach dem Motto, du räumst den Tisch ab, du die Spülmaschine ein …«



»… wenn schon mal nicht jeder seinen Scheiß überall einfach so liegen lassen würde. Jeden Tag räume ich hinter allen her, ich hab es satt!«



Einen Moment war Stille. August näherte sich mit kleinen Schritten seiner Frau. Früher hatte er öfter gekocht, es hatte ihm Spaß gemacht, jedenfalls so zwei, drei Gerichte. Die konnte er. Aber in den letzten Jahren hatte es nachgelassen.Vieles war selbstverständlich geworden, Henrike wirbelte von morgens bis abends. Ein ›Danke‹ sprang dabei selten heraus, was für ihn selbst und für alle restlichen Familienmitglieder galt. Mama macht das schon.



»Lass uns Aufgaben verteilen. Und wer nicht mitmacht, bekommt Taschengeldkürzung. Gute Worte sind prima, aber Restriktionen helfen, sie zu verstärken«, schlug August vor.



»Na, du bist ja ein Erziehungsgenie.« Henrike schien aufzutauen. »Jedenfalls kommt das heute Abend auf die Tagesordnung. Und jetzt will ich Tee trinken, ich mach mal welchen.« Damit stand sie auf und wandte sich Richtung Treppe.



»Ist fertig«, sagte August, der auf diesen Moment gewartet hatte.



»Das hört sich schon besser an«, Henrike zeigte ein Lächeln, »und das nun nicht nur einmal, sondern öfter, immer öfter.«



»Ja, ich werde in Zukunft dran denken, versprochen!« August fügte hinzu: »Soll ich am Wochenende nicht mal kochen? Du weißt, mein Gulasch ist sehr gut.«



»Mann, bist du platt.« Henrike wusste nicht, was sie noch dazu sagen konnte, irgendwie so etwas wie ›Männer sind manchmal so furchtbar banal.‹ Andererseits war der Vorschlag an sich ja gar nicht so schlecht.



Sie lächelte erneut. »Der Vorschlag ist o. k., Samstag oder Sonntag?«



»Sonntag, 13 Uhr ist alles fertig.«



»Da bin ich gespannt.« Mittlerweile waren beide in der Küche angekommen, hatten sich vor ihre Tassen gesetzt, und August schenkte ein.



»Sieh mal, wie eine sanfte Wolke …«, flötete August. Beide schauten sich einen Moment die Sahne auf der Oberfläche des Tees an, dann küsste August Henrike auf die Stirn.



»Im Film geht das immer mit Prosecco oder Champagner. Du machst das mit Tee …«



»Tee ist mindestens genauso gut – vielleicht besser.« August setzte sich, und für ein, zwei Minuten hing jeder seinen Gedanken nach.



Dann begann August, von seinem Telefongespräch mit Georg Redenius zu erzählen. Er versuchte, so objektiv wie möglich zu sein, verschwieg aber seinen Eindruck nicht, Redenius habe bei einigen Fragen etwas unsicher gewirkt.



»Wenn er was weiß und an dem, was Wiard gesagt hat, etwas dran ist, und dafür spricht vieles, hat er allen Grund gehabt, unsicher zu sein«, meinte Henrike. »Aber aus den Aussagen kann man nichts konstruieren, was irgendwie Hand und Fuß hätte.«



»Vielleicht sollte ich ihn mal persönlich in seinem Amt aufsuchen. Ich glaube, er weiß mehr, als er gesagt hat.«



»Das wird nichts bringen, du bekommst aus dem nichts raus.« August war verblüfft über diese ungewohnt direkte Aussage Henrikes. »Der ist schon sensibilisiert. Mit ihm hat sich Wiard doch gestritten, als er anfing, über den Deich zu reden. Mit Redenius stimmt was nicht. Der weiß mehr, als er zugibt. Wie wär’s, wenn du mit Peter mal einen trinken gehst und ihm sagst, du würdest dich für diese Gerüchte um den Deich interessieren, und ob er seinem Schwager ein bisschen auf den Zahn fühlen könne …«



»Ob Peter da mitmacht, weiß ich nicht.« August bewunderte Henrikes feste Meinung und die direkten Vorschläge zum Handeln, er selbst war oft viel zu zögerlich. »Aber es ist eine Möglichkeit. Immerhin sind seine Hinweise ja ein Fingerzeig auf das, was Wiard erzählt hat. Zusammen mit den Geschichten, die damals von der drohenden Pleite des Konsortiums in den Zeitungen gestanden haben, ist das eine Sache, die zu Pfusch führen könnte und was weiß ich noch für … für Sauereien.«



»Ja, und Peter kann noch am ehesten etwas aus seinem Schwager herauskriegen. Ich weiß allerdings nicht, was für ein Verhältnis sie haben.«



»Och, ich glaube, die verstehen sich ganz gut. Vielleicht nicht die große Schwagerliebe, dazu sind sie zu unterschiedlich, in jeder Hinsicht. Versuchen kann ich’s ja. So unauffällig wie möglich.« August musste ohnehin noch einen zweiten Getreidehänger nach Norden fahren, solange die Preise stimmten, sodass er die Gelegenheit beim Schopfe packen und mit Peter einen Termin für ein Bier im ›Schwarzen Bock‹ vereinbaren konnte. Früher hatte er dort einmal wöchentlich Doppelkopf gespielt, hatte sich allerdings nach dem dritten Kind endgültig aus der Runde zurückgezogen. Zu Hause war jetzt, neben der Arbeit auf dem Hof, zu viel zu tun. Immerhin war er einer der jungen Väter gewesen, die auch mal den Kinderwagen den Deichverteidigungsweg entlang geschoben hatten, oder, bei gutem Wetter, außendeichs.



»Ich komme aber wieder, so in einem Jahr«, hatte er den anderen gesagt. Inzwischen waren jedoch vier Jahre seit der Geburt seines jüngsten Sohnes vergangen.

 




12



Der ›Schwarze Bock‹ war eine Kneipe, in der sich in den letzten Jahrzehnten nichts verändert hatte. Selbst die Einrichtung war noch haargenau dieselbe. Der Wirt, den alle immer nur ›Joke‹ nannten, war längst über 70 Jahre alt, führte die Kneipe noch, allerdings hatte er den Gastraum um mehr als die Hälfte verkleinert. Einen Nachfolger gab es nicht, man würde für den alten Laden wohl auch keinen finden. So führte er die Kneipe weiter. »Bis ich hinter’m Tresen liege, aber nicht, weil ich duhn bin«, fügte Joke meistens noch hinzu. »Ich mache das, was die Regierung und die Arbeitgeberverbände immer als Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit und zur Rentensicherung predigen – ich arbeite bis 80. Wenn ich einen Nachkommen hätte, würde ich allerdings nicht mehr hinter dieser gottverdammten Theke stehen …«



Für den Lebensunterhalt brauchte er die Kneipe nicht mehr, er hatte zeit seines Lebens in die Rentenkasse eingezahlt, das reichte ihm jetzt, auch wenn es, angesichts einer erneuten Nullrunde bei den Renten, nichts würde mit den drei Wochen auf den Malediven, die Jokes Lebenstraum waren. Angesichts der mittlerweile um sich greifenden Billigflüge hatte August ihm vorgeschlagen, er könne doch wenigstens mal nach Mallorca fliegen, aber Joke brachte diese schöne Mittelmeerinsel ausschließlich mit dem Ballermann in Verbindung, was ein Fehler war, denn sie war zweifelsohne überaus schön. Sangria trinken mit überlangen Strohhalmen aus 10-Liter-Eimern, das wäre nichts für ihn. Und ein ordentliches friesisches Pils könne er sich auch selbst an der eigenen Theke zapfen. Seine Frau war schon seit über zehn Jahren tot, und Kinder hatte er keine. Von anderen Verwandten war nichts bekannt, und eigentlich wusste auch keiner, ob Joke tatsächlich Freunde hatte.



Peter Kümmel hatte den Vorschlag gemacht, gemeinsam mit Schorsch ein Bier im ›Schwarzen Bock‹ zu trinken. Joke öffnete nur noch an drei Tagen pro Woche, von Mittwoch bis Freitag; sie hatten sich für den Freitag entschieden. Das war Georg Redenius’ Vorschlag gewesen, da könne er dann auch ein, zwei Bier mehr trinken, weil er am nächsten Tag nicht auf’s Amt müsse.



Um die Runde aufzulockern, hatten sie beschlossen, Skat zu spielen, und das erwies sich als gute Idee, denn insbesondere Schorsch war ein begeisterter – und guter – Skatspieler. Doppelkopf, von August ins Gespräch gebracht, der zunächst anvisiert hatte, Wiard mitzunehmen, hatte Schorsch abgelehnt – das sei ihm zu kompliziert, und was das überhaupt solle, anstatt des Kreuz-Bauern, die Herz-Zehn zum höchsten Trumpf zu erklären. Außerdem, das müsse er gestehen, wäre er nicht besonders gut auf Wiard zu sprechen, seit diesem Sportfest, neulich. Da Wiard an diesem Abend ohnehin keine Zeit hatte, waren sie zu dritt, und damit hatte sich Doppelkopf von selbst erledigt. Joke stand hinter seiner Theke und sprach mit zwei Gästen, die hier jeden Freitag saßen, den Arbeitstag ausklingen ließen und das Wochenende einläuteten.



Schorsch Redenius spielte gut, was natürlich auch durch gute Blätter bedingt war, die er gerade in der Anfangsphase zugespielt bekam. Im Moment stand er unangefochten auf Platz eins. Bis auf einen vergeigten Null-Ouvert war bei Schorsch alles im grünen Bereich, bis Peter sich nicht verkneifen konnte, zu Beginn des nächsten Spiels prahlerisch anzukündigen, dass er sie nun alle satt machen werde. Er legte einen Grand Hand hin, der ihm eine Menge Punkte bescherte, zumal er mit Dreien war. August sah sich indes auf Platz drei und hatte bisher kaum Land gewonnen.



Während eines Spiels, bei dem August eine erneute Niederlage drohte, entschloss sich dieser, das Gespräch, das sich vorher nur um Kommentare zu den Spielen, Fußball und die Arbeit gedreht hatte (Frauen würden wohl erst bei weiterem Alkoholgenuss einbezogen), auf den Deich zu lenken.



»Also, diese Geschichte um den Deich, die hat mich immer noch nicht ganz losgelassen, Herr Redenius«, begann er.



»Herr Redenius«, sagte Georg beinahe etwas abfällig, »das ist das Stichwort, Joke, bring mal drei Corvit.«



»Oh nee, bloß nicht«, kommentierte Peter Kümmel, allerdings schien das nicht ganz ehrlich gemeint, und Joke war auch schon blitzschnell mit drei eiskalten Corvit im Anmarsch. Umsatz.



»Auf meinen Deckel.« Schorsch Redenius hob sein Glas und sagte: »Herr Redenius ist nun nicht mehr, Herr Saathoff. Ab jetzt Georg, oder besser, Schorsch.« Er hielt August sein Glas hin.



»Na dann, von mir aus, ich bin August.«



Die drei kippten den Klaren, nicht ohne sich danach kräftig zu schütteln.



»Ich nehme noch einen«, raunte Schorsch Joke zu, sah in die Runde, aber die beiden anderen lehnten ab. Wenig später stand ein Schnaps da, und so schnell er vor Schorsch Redenius gelandet war, so schnell war er auch geleert.



»Jetzt geht’s mir besser.« Schorsch atmete tief durch und fügte hinzu: »Wir können doch nicht bei Joke sitzen, Skat spielen und uns immer mit ›Herr Redenius‹, ›Herr Saathoff‹ ansprechen. So’n Tüdelkrams. Also, ab jetzt auf Du.« Er lachte etwas krampfig und fuhr fort: »Nun lass uns nicht über den vermaledeiten Deich reden, der steht, und der steht auch noch in 100 Jahren, das sage ich euch. Auch dir, Peter, du hast heute auch schon zweimal danach gefragt.« August sah kurz Peter an, der nichtssagend zurückblickte. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Schorsch Redenius’ plötzliche Freundschaftsgeste nicht ganz ehrlich, ja, gespielt war.



»Na, Georg«, versuchte August es erneut, »ich wohne nun mal knapp hinter dem Deich, da interessiert man sich schon dafür, ob er stabil ist oder nicht. Davon hängt die Zukunft meiner Familie ab. Es hat schon mal einer behauptet, sein Bauwerk werde noch in hundert Jahren stehen, und ruckzuck war’s weg.«



»Da haben auch zu viele dran rumgehämmert, und es wurde zugelassen, dass sie dran rumhämmern. Du siehst ja: Der neue Deich wird heute gesichert wie einst die Mauer, da geht schon nix kaputt.«



»Aber diese Gerüchte gehen herum im Polder, dem Baukonsortium sei damals das Wasser bis zum Hals gestanden, die mussten schnell fertig werden, und eben vielleicht zu schnell, da fehlt es am Ende an Qualität.«



»Das sind Gerüchte, du hast es selbst gesagt, August. Du solltest nicht so viel darauf geben. Wir sind nicht beim ›Schimmelreiter‹ im Hauke-Haien-Koog, wo es darum ging, über Deichstabilität zu sprechen, weil man keine Ahnung hatte, wie man einen Deich baut. Aber ich verstehe deine Sorgen. Wie gesagt, es hat Unregelmäßigkeiten gegeben«, offenbar wurde Schorsch Redenius nach Bier und Corvit nun doch etwas redseliger, und er hatte noch einen dritten Korn bestellt, »aber ich weiß auch, dass alle Stellen, bei denen was zu beanstanden war, ordnungsgemäß erneuert wurden, oder was heißt erneuert, sie wurden eben nachgebessert.«



»Alle Stellen? Ich dachte, es wäre nur eine. Auch die Ostkrümmung?« August hatte entschieden, mit der Tür ins Haus zu fallen, drum herumreden und sich langsam dem Ziel nähern, das war nicht seine Stärke.



»Die Ostkrümmung? Ja, die Ostkrümmung …«, Schorsch zögerte, sein Gesicht ergraute plötzlich. »Ja, sicher, klar, auch die. Ach, da war nicht viel. Also, ich war nicht oft dort und kann das nicht so gut beurteilen. Mein Chef erzählte davon. Das wurde nachgebessert, soweit ich weiß. Genaues ist mir zur Ostkrümmung aber nicht bekannt. Man kann sich nicht um jede Einzelheit kümmern, wir hatten schließlich die amtliche Aufsicht über das Gesamtwerk. Leute, ich habe keine Lust mehr, darüber zu reden. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, verdammt noch mal.« Tatsächlich verfinsterte sich Georgs Miene für einen Moment.



»Ja, sicher, das Gesamtwerk«, bemerkte August noch. »O. k., lasst uns nicht mehr über den Deich sprechen. Er soll wohl halten.«



»Sicher tut er das«, bemerkte Redenius und bestellte drei Bier. August indes strich mit Genuss einen Stich ein, zwei Asse, geholt mit dem Karo-Bauern. Gestochen, ha, machte 24 Punkte. Damit hatten die anderen nicht gerechnet, er hatte nur zwei Farben auf der Hand. Jetzt hatte er den Sieg so gut wie in der Tasche, war sich aber von vorneherein schon recht sicher gewesen. Das war nicht immer so.




13



Am Samstag war August mit Wiard verabredet, um ihm von dem Abend mit Peter Kümmel und dessen Schwager zu erzählen. Er hatte sich auch vorgenommen, Wiard von dem Schuss in den Reifen zu erzählen – und mit ihm zusammen die Polizei zu alarmieren. Die musste nun informiert werden, davon war er überzeugt. Sollten die den nächtlichen Unbekannten jagen und festsetzen – wozu war die Polizei schließlich da?



Vor allem anderen musste August jedoch die Entmistung reparieren. Sie war heute Morgen ausgefallen, weil irgendeines der Kinder ein etwa ein Meter langes Brett in die Anlage geworfen hatte, das mitgeschleift worden war, sich verhakt und zum Bruch eines Bolzens geführt hatte. Eine Brücke hätten sie gebaut, über eine 1.000 Meter tiefe Schlucht, in der ein Ungeheuer hauste. (Das war der Mitnehmer, der den Mist abtransportierte.) August hatte vor Wut gekocht, zumal keines der Kinder ihn informiert hatte und alle erst einmal behaupteten, es nicht gewesen zu sein.



»Nee, das war wieder mal der dicke Bär«, hatte August wütend gerufen und war schnaubend davongestapft, um sich erst einmal zu beruhigen. Nun musste er den Bolzen dringend ersetzen, denn es war erstaunlich, in welch kurzer Zeit seine Kühe allerhand Mist produzierten. Angenehm überrascht war er, als er noch einen entsprechenden Bolzen in seiner Werkstatt fand und nicht extra in die Stadt fahren musste, um einen neuen zu kaufen. Beim Auswechseln jedoch kehrte sein Groll zurück:



»Düfel, Düfel, Dönnerschlag. Und die Kinnings vergnügen sich wer weiß wo, kein Schwein schert sich um die kaputte Entmistung …«, doch August fluchte nur für sich. Niemand hörte ihn.



Nachmittags machte er sich gegen 15 Uhr auf den Weg zu Wiard. Er fuhr mit dem Trecker, da er glaubte, es würde seltsam aussehen, wenn er mitten unter der Woche und mitten am Tag einfach so durch das Dorf spazieren würde – er sah schon bestimmte Leute hinter den Gardinen:



»Het de vandaag nix to dohn?«



Oder hörte Malte Kröger mit den Worten: »Na, Landwirte haben aber auch oft Urlaub pur, was?«



Das sagte er vor allem dann gerne, wenn die Zeiten kamen, in denen es wegen Wind und Wetter im Herbst und Winter tatsächlich nicht mehr so viel draußen zu tun gab. August hatte es aufgegeben, sich zu verteidigen, er ließ diese Sprüche einfach durchrauschen, links rein, rechts raus. Dennoch entschied er, jetzt mit dem Trecker zu fahren: Mit dem Trecker unterwegs – das sah immer nach Arbeit aus.



Wiard öffnete gleich nach dem ersten Klopfen mit dem schweren, eisernen Ring nebst Löwenkopf, den er nach dem Brand des Hofes von Eilert Onken hatte mitgehen lassen. Eilert hatte das später entdeckt, glaubte sich Wiard aber zu Dank verpflichtet, obwohl er sich nicht hundertprozentig sicher war, ob Wiard tatsächlich etwas über die Brandstiftung wusste, geschweige denn, ob er es beweisen konnte. Aber Eilert Onken wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten lassen, daher war ihm der Türklopfer an Wiards Hauseingang durchaus recht.



»Moin, Wiard«, grüßte August, als Wiard ihm Platz machte, einzutreten.



»Moin, schön, dass du kommst, ich habe etwas Neues zu berichten.«



»Ich auch, wenigstens ein bisschen«, schränkte August gleich ein, um nicht schon zu viel zu verraten.



»Tee?«, bot Wiard an.



»Wenn du gerade einen fertig hast, sonst mach dir aber keine Umstände«, bat August.



»Nee, ich habe keinen fertig – aber ich mag auch eine Tasse, hast du etwas Zeit?«



»Na, ’ne halbe Stunde, ich bin extra mit dem Trecker gekommen, weil …« August war froh, dass Wiard ihn unterbrach:



»Egal, ich weiß ja, ihr Landwirte habt auch alle einen 24-Stunden-Tag. Wie alle fleißigen Deutschen, jedenfalls die, die Arbeit haben.« Wiard entschwand in die Küche und setzte den Wasserkessel auf.



»Mann, der glänzt aber«, meinte August, der ihm gefolgt war.



»Habe ihn gestern beim ›Tatort‹ blitzblank geputzt. Ich habe fast die Auflösung des Mordes verpasst, als ich einen neuen Lappen holen musste«, Wiard lachte.



»War er gut?«



»Wer?«



»Der ›Tatort‹.« August musste über Wiards verblüfftes Gesicht lachen.



»Ach, der ›Tatort‹, ja, war gut, war einer von diesen älteren, mit Manfred Krug und dem – na, wie heißt er noch – jedenfalls die, die immer am Ende zusammen singen. Spielt auf einer Insel, das ist natürlich eine tolle Atmosphäre. ›Tod auf Scharhörn‹, ja, so hieß der Titel. Gut gemacht. Und spannend. Manfred Krug ist vielleicht nicht der schönste Kommissar, aber der beste. Nee, die schönste Kommissarin ist ja wohl Charlotte Lindholm, ganz klar«, meinte Wiard etwas geistesabwesend.

 



»Ja, machst wohl recht haben«, sagte August und ergänzte unvermittelt: »Brockmüller.«



»Wie, Brockmüller?«



»Brockmüller heißt der andere, der mit Stöver singt.«



»Richtig, genau, Brockmüller.« Eine kleine Pause entstand.



»Wir können auch ins Wohnzimmer gehen«, Wiard zeigte in die genannte Richtung, aber August winkte ab.



»Du, deine Küche ist so gemütlich, lass man gut sein. Dein Wohnzimmer ist mir auch zu gefährlich«, fügte er etwas sarkastisch hinzu.



Wiards Küche war klein, alle Möbelstücke und Küchengeräte waren bunt zusammengewürfelt, und da Wiards Aktivitäten vielfältig waren und er ständig irgendwelche Bücher, Zeitschriften oder Unterlagen las, lagen diese ebenso bunt verstreut herum. Dazwischen waren viele Erinnerungsstücke von seinen Reisen untergebracht, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, und das alles, zusammen mit dem jetzt durch die zwei kleinen Fenster hereinfallenden Sonnenlicht, machte die Küche tatsächlich urgemütlich, obwohl sie mancher als den Inbegriff des Chaos bezeichnet hätte.



»So ein Durcheinander würde Henrike nicht durchgehen lassen, was?« Wiard hatte beobachtet, dass Augusts Augen durch den ganzen Raum schweiften.



»Holl mi up. Nee. Aber, man muss ja den Kindern wenigstens ein bisschen ein Vorbild sein.«



»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich denke, die machen sich schon ihren Reim, früher oder später. Du sagtest, du hast Neuigkeiten?«



»Ja, nichts Weltbewegendes«, August legte eine kurze Pause ein. »Ich war mit Peter Kümmel und dessen Schwager Skat spielen bei Joke.«



»Ist ’ne Neuigkeit, aber so weltbewegend nun wirklich nicht, hast du wenigstens gewonnen?«, meinte Wiard, merkte dann, dass hinter der lapidaren Aussage von August mehr stecken könnte, wartete Augusts Antwort gar nicht erst ab und fragte: »Ach, der Schwager von Peter, der, wie heißt er noch …?«



»Georg, genannt Schorsch«, half August aus.



»Ja, richtig, Schorsch Redenius, der vom Amt für Küstenschutz, der mir einen auf die Nase geben wollte? Na, wir waren reichlich duhn. Und nun hat mir ja jemand anderer eine Kopfnuss verpasst«, Wiards Gesicht zeigte ein gequältes Lächeln.



»Ich dachte mir, der weiß vielleicht etwas mehr über die Deichgeschichte – immerhin war das die damals zuständige Aufsichtsbehörde, die übrigens mittlerweile ›Landesamt für Wasserbau, Küsten- und Inselschutz‹ heißt, oder so ähnlich. Hat auch ’ne tolle Abkürzung, hmm, ach, hab’s schon wieder vergessen.«



»Ja, immer wenn die auf’m Amt nichts zu tun haben oder wenn die Regierung wechselt, wird umstrukturiert, und dazu gehört dann auch eine Namensänderung. Dann sagt man, man habe alles neu, besser und schöner gemacht, und danach geht’s genau so weiter wie zuvor«, begann Wiard zu lamentieren, worauf August intervenierte:



»Nee, ganz so ist das auch nicht mehr. Als ich den Hof übernommen habe, waren da 84 Leute untergebracht, jetzt, 15 Jahre später, sind es noch ganze 53. Die machen jetzt das, was vorher 84 gemacht haben. Und die Aufgaben haben sich erweitert, das lässt sich ja prüfen, also die machen den anderen Kram jetzt mit, und die ganzen EU-Auflagen und so, das müssen die auch machen. Ich kenne ja nicht nur Schorsch Redenius, sondern auch ein paar von den Arbeitern, die immer mal am Deich, am Siel oder am Kanal zu tun haben. Die sitzen nicht mehr einfach so rum den halben Tag. Das war früher so, ich habe es ja selbst gesehen, wenn ich auf’m Acker war, da kreiste auch schon mal vormittags das Bier. Aber heute, wo es überall an Geld fehlt, die Stellen gestrichen werden, wohin man guckt, haben die einiges auf dem Tagesplan stehen.« August wusste, wovon er sprach, und war im Gegensatz zu früheren Jahren dazu übergegangen, die Staatsdiener auch einmal in Schutz zu nehmen: »Also, diejenigen, die dableiben, haben jetzt ganz gut zu tun. Die Gefahr ist natürlich, wenn man sieht, so klappt’s auch, dass so weitergemacht wird, und dann wird’s irgendwann haarig, dann hapert’s wieder an allen Ecken und Kanten, dann wird zu viel gespart.«



»Darauf wird’s hinauslaufen, die kürzen auf Teufel komm raus«, merkte Wiard noch an, kam dann aber auf d