Tatort Nordsee

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»Das ist die Kleischicht, ein entscheidender Faktor für die Stabilität des Deiches. Sie verhindert, dass der gesamte Deich allzu schnell durchweicht. Die konnte hier wegfallen oder zumindest dünner ausfallen. Und ich weiß auch warum. Es ging schlicht darum, dass die Lieferungen des Materials für ein, zwei Wochen eingestellt worden waren, weil das Konsortium in dieser Zeit als zahlungsunfähig galt. Gleichzeitig hatte sich die Betriebsleitung verpflichtet, die Ostkrümmung bis zu einem bestimmten Datum fertigzustellen. Die vertraglich festgelegten Sanktionen bei Nichterfüllung wären vermutlich ziemlich saftig ausgefallen. Und nun kam es, wie es kommen musste. Da wir gerade mal wieder Landtagswahlkampf hatten und ein Termin mit hochkarätigen Politikern am neuen Deich nicht fehlen durfte, wurde beschlossen, den Deich gemäß des Zeitplans fertigzustellen. Das offizielle Bauende war nach den Verzögerungen im Rahmen der finanziellen Schwierigkeiten des Baukonsortiums nach hinten verschoben worden. Andererseits war es praktisch nicht möglich, den Deichbau ordnungsgemäß abzuschließen. Also musste man etwas tun, um den Bau voranzutreiben. Gleichzeitig kamen offenbar Lieferschwierigkeiten hinzu – eben bedingt durch die drohende Insolvenz. Da stand nun die Deadline im Weg, wie bei so vielen Projekten, die fertig werden müssen, obwohl man weiß, dass dies in ausreichender Qualität kaum möglich sein wird. An dieser Stelle, an der Ostkrümmung, ist der Deich also schnell zusammengeschustert worden, anders kann man das wohl nicht sagen. Im Moment kein Klei vorhanden, extremer Zeitdruck, also Klei weglassen. Oder wenig Klei, dann eben nur das verbauen, was gerade noch da ist, kommt hier ja nicht so drauf an … Sand, Steine, Deckwerk für den Deichfuß? Auch weglassen. Sand setzen lassen? Ja, aber nicht zu lang …. Positive Folge: Der Zeitplan wurde eingehalten, die Verantwortlichen haben den obligatorischen Schnaps drauf getrunken, es wurden Reden gehalten, alle sind nach Hause gefahren, und das war’s. Nachteil: Na, dazu brauche ich dir nichts zu sagen …«

August sah Wiard an, entgegnete aber nichts.

»Und nun lies mal das hier«, fuhr Wiard fort und drückte August eine weitere Kopie in die Hand, die nun keine Zeichnungen, sondern ausschließlich Text enthielt. ›Vertraulich‹, dieser Stempel war nicht zu übersehen.

»Nun lies schon, den Tee nehme ich mir selbst«, sagte Wiard und setzte seine Absicht in die Tat um.

August folgte der Aufforderung und konnte nicht glauben, was er da wahrnahm. Nach einigen einleitenden Sätzen kamen die entscheidenden Worte: ›… ist davon auszugehen, dass angesichts der wesentlich geringeren seeseitigen Bedrohung dieses Deichabschnittes auf Höhe der Ostkrümmung die standardmäßig überaus hohen Qualitätsanforderungen nicht notwendig sind und daher von der vorgeschriebenen Norm geringfügig abgewichen werden kann.‹ Weitere Erläuterungen zu ›DIN‹ und ›ISO‹ und anderen, ihm oft nicht bekannten Abkürzungen las er nur oberflächlich, wusste aber, dass es hier um gute Ingenieurpraxis und gängige Vorgehensweisen beim Deichbau ging, die offenbar in der Endphase mit Füßen getreten worden waren. Soviel jedenfalls verstand er. ›Auf Höhe der Ostkrümmung werden daher angesichts des knapp bemessenen Zeitplanes einige sonst gängige Komponenten in von der Regel abweichender Menge verwendet, die für die speziell in diesem Abschnitt zu gewährleistende Sicherung des Deiches ausgelegt und in einem kurzfristig bei einem unabhängigen Büro in Auftrag gegebenen Sondergutachten unter den gegebenen Maßgaben als ausreichend erachtet worden sind.‹ August musste den Abschnitt zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Wenn es so ausgedrückt wurde, dass man’s nicht gleich verstand, musste wohl etwas daran faul sein. So jedenfalls dachte August. So war das immer, auch beim Kleingedruckten in Versicherungsverträgen. Die Wahrheit kann man auch einfacher ausdrücken. Dennoch mutmaßte er: »Vielleicht ist das ja wirklich so, dass hier den Anforderungen nicht in vollem Umfang entsprochen werden muss, wenn ein unabhängiges Büro das bestätigt.«

»Absoluter Unsinn«, befand Wiard barsch, »die Anforderungen müssen überall gleichermaßen erfüllt werden. Und so ein unabhängiges Büro, das kannst du erstens schmieren und zweitens ganz schnell mal eben gründen und dann ebenso schnell wieder auflösen, gerade wie es am besten passt. Alles andere zu denken, wäre naiv, August. So ist die Welt. Ich sage dir: Weil die Finanzierung plötzlich auf schwachen Füßen stand, wurden auf einmal ganz viele Leute nervös. Die im Konsortium tätigen Bauunternehmer, weil sie ihre Felle davonschwimmen sahen, die Chefs, weil sie ohne das Geld das Projekt nicht ordentlich zu Ende führen konnten und dann wohl kaum ihren verabredeten Lohn – na, das soll wohl einiges gewesen sein – bekommen würden, die Politiker, weil sie die Erfolgsgeschichte ihrer Legislaturperiode gefährdet sahen, die lokalen Behörden, weil sie der Bevölkerung hätten sagen müssen, dass sie den Deichbau trotz nahender Herbst- und Winterstürme stoppen würden, und, und, und … Die Finanzierung musste – wie auch immer – wieder passend gemacht werden, und der Deichschluss musste her. Was also dahintersteckt, ist eines: Geld – die einen wollten nicht Gefahr laufen, in Regress genommen zu werden, die anderen wollten das Risiko eines weiteren Kredites nicht eingehen, diese wollten das, andere jenes. Das alles wäre für die Verantwortlichen ein Desaster geworden. Außerdem wäre der politisch wichtige Termin geplatzt und die ganze Angelegenheit in die Presse gekommen, und …«, Wiard leerte die dritte Tasse in einem Zug, »… und es wäre, alles in allem, ein großes Hallo geworden, gelinde gesagt. Öffentlich ein großes Hallo, für die Politiker ein sehr negativer Punkt gerade vor der Wahl, für die Firma – und das ist das Entscheidende – endgültig das wirtschaftliche Fiasko. Die hatten ihre Gläubiger schon bis an den Rand des Wahnsinns getrieben; die erneute Nichteinhaltung der Deadline hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Für die Politiker hätte das einen Haufen neuer Arbeitsloser bedeutet, gerade hier in der Region, wo es ohnehin reichlich mau aussieht mit der Arbeit. Das hätte was bedeutet, und das so kurz vor der Wahl, das hätte wieder Prozente gekostet …«

»Was ist mit dem Sondergutachten? Die Ostkrümmung liegt so weit vom Ufer weg, da läuft doch das Wasser wirklich nicht so hoch auf. Wiard, das sind doch alles noch keine Beweise – hier steht ja auch gar nicht, was eigentlich gemeint ist, wir haben das jetzt mal so interpretiert, dass es passt, aber …«

»Mit dem Sondergutachten ist es genau so, wie ich es dir erklärt habe: Irgendwo findet man immer einen sogenannten Fachmann, der ein Gutachten schreibt, das so ausfällt, wie man es wünscht – man muss nur genügend bieten. Warum gibt es wohl Gegengutachten? Und wenn’s nicht klappt, schreiben die Ersten ein Gegengutachten zum Gegengutachten, und so weiter … Und wer soll sagen, welches Gutachten nun stimmt? Wir mit Sicherheit nicht, August, das steht fest. Etwas Derartiges wird manchmal so lange betrieben, bis es keine Sau mehr interessiert … Na, und am Ende wird’s dann eines der Gegen-Gegen-Gegengutachten, aufgrund dessen irgendetwas unternommen wird. Und wenn Argumente nicht mehr ausreichen, ob sie nun stimmen, oder nicht, na, dann muss man eben mit anderen Mitteln nachhelfen. Da steckten große Firmen drin, und wo viele Große sind, da ist auch großes Geld.« Wiard gönnte sich eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Was soll’s, ich habe es dir erzählt. Ich jedenfalls gebe nicht auf. Gerade jetzt, nach dem Steinwurf, der auch dir alle Zweifel nehmen sollte. Weißt du, ich will auch einfach wissen, wer es da auf mich abgesehen hat. Schließlich läuft der hier noch irgendwo herum und kommt unseren Häusern gefährlich nahe. Ich habe schon ein wenig Fracksausen, wenn ich mir das so vorstelle«. Wiards Wangen waren inzwischen wieder rötlich angelaufen.

»Deinem Haus«, warf August ein.

»Ach nee, und wer sagt dir, dass derjenige nicht auch weiß, dass wir ständig zusammenstecken? Der kann sicher eins und eins zusammenzählen, und dann ist die nächste Scheibe kaputt – aber auf deinem Hof.«

August entgegnete darauf zunächst nichts, dann wurde ihm bewusst, dass Wiard recht hatte, und sein Pulsschlag erhöhte sich merkbar. Er murmelte: »Oh nee, holl mi up!«

»Ich habe dir deshalb noch ein bisschen Bettlektüre mitgebracht. Aber bitte, ich weiß ja, dass das alles noch kein vollkommen rundes Bild ergibt«, er lächelte und schob ihm einen Plastikschnellhefter zu. August nahm den Ordner und ließ die Blätter einmal durch seine Hände rauschen.

»Ich kann’s mir ja mal ansehen«, er flüsterte geradezu, Papierkram lag ihm nicht, egal wie er ihm entgegentrat. Er dachte an seine Kälberställe und daran, dass er nun weiter wittjen wollte. Wo war noch einmal die Linie, die er in Gedanken an die Wand gemalt hatte? Und überhaupt – es war Montagvormittag, und es musste jetzt weitergehen.

»Wat sitten ji in’t Köken to proten«, hätte sein Großvater gesagt, »Tee drinken gafft bi uns nur an’t Weekenend, so kanns’t keen Geld verdeenen.« Das ging ihm jetzt seltsamerweise durch den Kopf.

Aber sich den Deich aus dem Kopf schlagen konnte August nicht mehr. So viel hatte Wiard erreicht, das musste er anerkennend zugeben. Vor allem aber war er zutiefst beunruhigt. Er lebte hier mit seiner Familie. Und es trieb sich jemand in der Gegend herum, der offenbar vor Gewalt nicht zurückschreckte. Wenn er daran dachte, dass seine Kinder in die Schusslinie geraten könnten, dass sie eventuell schon jetzt bedroht waren … Es fröstelte ihn. Als Wiard gehen wollte, drehte dieser sich noch einmal um: »Übrigens, seitdem die Bucht und andere Teile hier an der Küste weiter eingedeicht worden sind, läuft die Flut tatsächlich doch höher auf, ich habe dazu zufällig eine wissenschaftliche Studie gefunden, die genau dies bestätigt. Stimmt also nicht, was du eben gesagt hast und was in dem Sondergutachten steht …«

 

»Tatsächlich?«, entgegnete August matt. »Wiard, also, wir müssen sehen, dass wir weiterkommen, weißt du, ich guck mir das mal an. Mein Kopf ist jetzt zu, ich muss das erst mal alles sacken lassen. Also, bis dann.« Wiard sah August an, dass es ihm für den Moment reichte.

»Tschüss«, sagte er und ging. Kurz vor dem Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und setzte an, etwas zu sagen, doch er ließ es, wandte sich wieder ab. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.

7

Wieder war August in der Nacht oft aufgewacht. Die Angelegenheit ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste nicht, ob er Henrike etwas erzählen sollte. Er wollte seine Familie aus all dem heraushalten. Bloß kein Steinwurf in eines seiner Fenster. Was, wenn nun gerade das geschah und er dann zugeben musste, dass er gewusst habe, dass so etwas passieren konnte? Er hatte Wiards Kopfverband vor Augen. Wenn er sich vorstellte, dass Gero oder Karina gerade hinter der Scheibe spielten …

August und Freerk waren gut mit den Kälberställen vorangekommen, abends waren viele schon fertig in Persil-Weiß gekalkt.

»Fehlen nur noch die Tiere. Und die sauen dann alles in ein paar Tagen wieder ein.«

»Aber nur unten, oben bleibt das erst mal so, und es sieht doch gut aus«, entkräftete August sogleich den Einwurf seines Sohnes. »Und nun habe ich Hunger. Hast du Mama schon gesehen?«

»Ja, von Weitem, da stand eine Zeit lang ein Auto vor der Tür, und sie hat mit jemandem geredet, kannte ich aber nicht.«

»Was für ein Auto?«

»Roter Opel Zafira. Keine Ahnung, wer das war. Jedenfalls war er nach kurzer Zeit wieder weg, obwohl, zunächst schien er nicht anspringen zu wollen. Ich glaube, das war irgend so ein Vertreter, wollte euch wahrscheinlich ’nen neuen Laufstall oder Melkstand andrehen.«

»Das fehlt mir noch, ich frage mich, ob ich das, was hier jetzt rumsteht, jemals abbezahlen kann.« August machte sich auf den Weg zum Haus. »Kommst du auch?«

»Gleich. So in ’ner halben Stunde. Ich will noch kurz zum Schlafdeich, das Wetter ist so geil.«

Ja, ja, alles nur noch voll krass und geil bei der Jugend, ging es August durch den Kopf. Und wenn nicht, dann war es – wie war das noch – lappig, ja, so hieß das heute. Genau wusste er aber nicht, was lappig eigentlich bedeutete.

Der Schlafdeich lag etwa 300 Meter südwestlich vom Hof. Vor mehr als 120 Jahren hatte er noch als Außendeich gedient, damals hatte er den alten Polder geschützt, vor dem nun der jetzige, neue angelegt worden war, in dem die Saathoffs ihren Hof hatten, und der im Schutz des neuen Deiches lag, an dessen Standhaftigkeit Wiard Lüpkes so sehr zweifelte.

Hoffentlich hält er, schoss es August durch den Kopf, und er erkannte, dass irgendetwas passieren musste. Es konnte nicht alles einfach so weiterlaufen, er würde das auch nicht lange nervlich durchstehen. Er war ein ruhiger Typ, aber so etwas, Unbekannte, die Straftaten begingen, und das hier in der Einöde, das hatte er noch nicht erlebt – und es machte ihm zu schaffen.

Freerk ging gerne, gerade abends bei Sonnenuntergang, zum alten Schlafdeich. Der Blick nach Westen war dann besonders schön, vor allem bei Wind Stärke drei bis vier, wenn der Himmel sternenklar, aber dennoch von schnell dahinziehenden Kumuluswolken durchzogen war und der Mond sein Licht in immer neuen Facetten in den Polder warf. Freerk blieb meistens eine gute halbe Stunde dort, manchmal auch länger, und war anschließend oft sehr gut gelaunt. Als August und Henrike sich kennenlernten, waren sie auch oft zum Schlafdeich gegangen. Zum einen, weil es dort schön war. Man hatte Ruhe, konnte sprechen, träumen, knutschen. Zum anderen, weil es in diesem platten Land eine Erhebung war, die die Sicht zum Hof nahm. So war es einer der wenigen Plätze, wo man sich ungestört nach Herzenslust küssen konnte oder auch mehr, wenn eine laue Sommernacht es wettermäßig hergab. Schon als Junge war August dort herumgestromert. Er dachte an den Song von Udo Lindenberg: ›Bin jahrelang tagtäglich am Deich entlanggerannt …‹ Er überlegte einen Augenblick, ob er seinen Sohn begleiten sollte, doch schnell entschied er, dass Freerk sich kaum darüber freuen würde, hatte er doch den ganzen Tags schon mit dem Vater verbracht. Dafür war August ihm sehr dankbar. Und Freerk würde ihm dankbar sein, wenn er ihn jetzt allein ließe. Wer weiß, worüber er zu grübeln hatte. Vielleicht wollte er wirklich nur den Sonnenuntergang genießen. Ein ungeschriebenes, uraltes Familiengesetz besagte außerdem: ›Wer zum Schlafdeich geht, ob allein oder zu zweit, wird in Ruhe gelassen.‹ Selbst seine Eltern hatten sich immer daran gehalten. Aus seinem Zimmer hatten sie August und dessen Freundinnen (viele waren es nicht gewesen, bis er Henrike kennenlernte) das ein oder andere Mal vertrieben (so etwas gehörte sich schließlich nicht) – am Schlafdeich hatte er immer ungestört die Zeit mit dem Mädchen verbringen können. August entschied, in Kürze mal wieder mit Henrike einen Spaziergang dorthin zu machen. Der letzte lag schon längere Zeit zurück. Immer kam etwas dazwischen. Die tagtägliche Hausarbeit, der Hof, die Tiere, die vielen kleinen Probleme der Kinder und die größeren der Erwachsenen. Man vergaß einfach, auch einmal etwas für sich selbst zu tun, den Tag zu genießen, und wenn es nur für ein paar Minuten war. Die Tage, Wochen und Monate vergingen schnell, sodass sie eins ums andere feststellten, dass man doch in diesem Sommer mal wieder dies oder jenes hatte tun wollen, die Umsetzung aber ausgeblieben und nun schon wieder Oktober war, es überwiegend stürmte und regnete, und es schon wieder so früh dunkel wurde, dass man draußen zu nichts mehr kam. So war es nach dem letzten Sommer jedenfalls gewesen, und jetzt, im November, erwies sich das Wetter oft als noch miserabler, sodass es keinen Spaß gemacht hätte, obwohl August sich auch im Winter gerne mal auf den Deich, auch den Außendeich stellte, um sich so lange vom Nordwestwind durchpusten zu lassen, bis es zu kalt und ungemütlich wurde. Das tat einfach gut und führte nicht – obwohl viele das meinten – zu Erkältung, Lungenentzündung und Triefnase, sondern zu klaren Gedanken, neuen Ideen und guten Gefühlen. Ein heißer Tee danach wärmte den ausgekühlten Körper schnell wieder auf. Und wieder dachte August an einen Lindenberg-Song: ›… und jetzt trinken wir erst mal einen Rum mit Tee.‹

Als er ins Haus trat, hörte er die Kleine schreien. Sie zeterte in dem Zimmer, das sie sich mit der Schwester teilte.

»Was ist mit Wienke?«, fragte er Henrike, die Küche betretend.

»Sie meint, ich müsse ihr etwas zu trinken hochbringen, ich habe gesagt, sie soll es sich hier abholen. Das reichte für einen Heidenradau.«

»Soll ich mal hochgehen?«

»Wenn du dich beliebt machen willst, klar. Ich jedenfalls bin bis auf Weiteres ›oberdoof‹, dir wird sie das sicher gerne bestätigen.«

»Ich warte noch ein bisschen.« August küsste Henrike auf die Stirn und sagte, dass er nach dem Abendessen mit ihr gerne kurz über das, was Wiard ihm erzählt hatte, sprechen würde. Er wunderte sich, hatte das ganz spontan gesagt, ohne vorab darüber nachzudenken.

Wienke beruhigte sich glücklicherweise kurz vor dem Abendessen, sodass die Vierjährige mit ihren drei Geschwistern und den Eltern am Tisch sitzen und den vor Eigenlob strotzenden Geschichten des Vaters und des großen Bruders zuhören konnte. Sie priesen die Schönheit der neu geweißten Kälberställe, nicht ohne zu betonen, wie viel Arbeit das gewesen sei und sie nur wegen der fehlenden Pausen so weit gekommen wären.

»Ich habe euch aber lange Tee trinken sehen, und Wiard war auch da«, rief Karina dazwischen.

»Na, höchstens eine halbe Stunde«, warf August ein.

»Wiard war da?«, fragte Henrike.

»Ja, sagte ich doch. Er ist im Moment ein bisschen hinter einer Sache her – deshalb will ich mit dir ja auch mal sprechen.«

»Worum geht’s denn?«, fragte Freerk, der sich ansonsten herzlich wenig um die Probleme anderer kümmerte. Meistens sah er nur seine eigenen.

»Ach, um einen Job, den er bei der Firma hatte, während des Sommers, als sie hier den Deichschluss bauten.« August hatte diese Frage von seinem Sohn nicht erwartet.

»Was ist ein Deichschluss?«, fragte Karina.

»Wenn der Deich von der einen Seite und von der anderen kommt und dann dazwischen auch fertig gebaut wird«, antwortete Freerk und ergänzte: »Die Lücke wird eben geschlossen«, denn seine Erklärung für die kleine Schwester hatte ihm selbst nicht besonders gefallen, er merkte aber auch, dass er momentan keine wirklich bessere parat hatte.

»Was für eine Lücke?«, wollte nun Wienke wissen.

»Die Deichlücke eben«, antwortete Freerk patzig, »das Stück, was noch fehlt«, fügte er hinzu; und nuschelte noch »Frag nicht so blöd« in den mit dem ersten Fläumchen sprießenden Bart, als August ihn mit tiefer Stimme und fast buchstabierend ermahnte: »Fre-herk!« Freerk lachte seinen kleinen Bruder Gero an, der lachte voller Bewunderung zurück, während Wienke erneut zu heulen begann.

»Mann, Wienke, stell dich nicht so an!«, fuhr Karina sie an, und Henrike bestätigte, das habe sie auch gerade sagen wollen. Wienke habe diesen Nachmittag schon genug geheult: »Und immer wegen irgendwelcher dusseliger Kleinigkeiten.«

»Wenn ihr mich immer ärgert«, schnaufte Wienke.

»Das war doch kein Ärgern, es war die Wahrheit«, stellte Freerk fest, was für einen neuen Tränenausbruch vollkommen ausreichte.

»Wenn ich dir an den Kopf werfe, dass du blöd bist, was würdest du sagen?«, fragte August, der nicht wusste, ob er etwas lauter um ordentliches Benehmen am Tisch bitten oder Wienke nachlaufen sollte, die inzwischen ihren Stuhl verlassen und weinend in ihr Zimmer gerannt war.

»Ich würde nicht heulen, bin ja kein Mädchen«, sagte Gero.

»Ich habe dich aber heute auch schon heulen sehen«, warf Henrike ein.

August ergänzte: »Jungen, sogar Männer heulen auch manchmal«, und dachte, sich mit dieser Aussage pädagogisch klug verhalten zu haben.

»Nee, heulen tun immer nur Mädchen«, war Gero überzeugt, womit die Diskussion vorerst beendet war und August nun doch entschied, seine Jüngste wieder zum Abendbrottisch zu holen. Schließlich hatte sie noch nichts gegessen und würde wahrscheinlich bald so müde, dass ihr, egal wo, die Augen zufallen würden. Nachts geweckt zu werden und noch ein Butterbrot schmieren zu müssen, wollte August auf jeden Fall vermeiden und war sich der Solidarität Henrikes in dieser Frage absolut sicher.

Schließlich waren die Kinder im Bett, und August und Henrike blieb noch ein wenig Zeit, sich über Wiards Geschichte vom Deich zu unterhalten.

Nachdem August ihr Wiards Schilderungen erläutert hatte – er hatte auch den Steinwurf, das zerborstene Fenster und damit den wahren Grund für Wiards Kopfverletzung erwähnt –, dachte Henrike, ins Leere schauend, einen Augenblick nach. Sie schien nicht genau zu wissen, was sie sagen sollte. In ihren Augen sah man große Beunruhigung.

»Ich bin ein bisschen geschockt, August. Ich kann das gar nicht glauben, dass so etwas hier bei uns passieren kann. Außerdem, wenn dieser Verrückte Wiard kennt, dann kennt er vielleicht auch uns, und … wenn er weiß, dass Wiard recherchiert, und dass du oft mit Wiard zusammen bist …, ich mag gar nicht dran denken.«

»Mir macht das auch zu schaffen.«

»Was können wir tun?«

»Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Erst hatte ich ein wenig das Gefühl, dass das mal wieder eine von Wiards Geschichten ist, so alles Mögliche zusammengereimt. Aber durch diesen Anschlag und die Kopien, die er mir vorgelegt hat, kam ich ins Schwanken, ach, es ist eindeutig. Mir geht die ganze Angelegenheit nicht mehr aus dem Kopf. Andererseits habe ich immer noch eine Stimme im Hinterkopf, die mir sagt: ›Nein, so was kann doch gar nicht passieren.‹ Es klingt alles zu sehr nach einem schlechten Film. Nehmen wir mal an, Wiard hat recht – was dann mit dem Polder geschehen kann und mit unserem Hof, oh Mann!« August hielt inne und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

»Wir müssen versuchen, sachlich zu bleiben. Obwohl mir das jetzt gerade sehr schwerfällt. August, wir haben vier Kinder, die müssen wir schützen. Auf jeden Fall muss die Polizei her. Lass uns mal überlegen. Wir kennen doch Wiard schon lange. Klar, manchmal muss man aufpassen bei dem, was er so sagt. Aber wie er jetzt so verbissen hinter einer Sache her ist, dann ist da auch was dran. Und die Warnung, die er bekommen hat, ist Beweis genug, finde ich. Es hat jemand definitiv etwas dagegen, wenn Wiard sich weiter um den Deich kümmert – und das kann auch dich betreffen, August. Wiard hat den richtigen Riecher. Denk mal an die Geschichte bei der Feuerwehr vor Jahren – da war wirklich was im Busch gewesen, bei dem Einsatz auf Eilert Onkens Hof, weißt du noch?«

 

»Ja, sicher, klar. Onken hat ihn natürlich selbst angesteckt. Dem stand das Wasser bis zum Hals – da hat er nur noch die Möglichkeit gesehen, den Hof einfach abzufackeln. Die Entschädigung der Versicherung war ja nicht gerade üppig, aber hat ihm geholfen, noch mal von vorne anzufangen. Und er hat’s gut gemacht, schließlich hat keiner was gemerkt.«

»Keiner hat’s nachweisen können, sagen wir mal so. Und ich bin noch immer davon überzeugt, dass Wiard das Ganze hätte aufdecken können, aber die beiden spielen bis heute Skat zusammen – außerdem ist niemand zu Schaden gekommen, was soll’s, ich gönne es Eilert.«

Eilert Onken hatte einen Schweinezuchtbetrieb etwa fünf Kilometer vom Saathoff’schen Hof entfernt, und eine Zeit lang war er ein wenig aus der Bahn geraten (»De is van’t Pad off«). Seine Frau hatte sich von ihm getrennt, er hatte daraufhin mehrere Monate gesoffen wie zehn und es mit dem Betrieb auch nicht mehr so genau genommen. Das aber hat in jedem landwirtschaftlichen Betrieb, ganz besonders aber in der Schweinezucht, fatale Folgen. Er entwickelte neue Pläne, wollte den Hof aufgeben, dann wieder nicht, kaufte ein kleines Häuschen nahe der Kreisstadt (»Wat sall de Blödsinn nu weer?«, hatte man im Polder gefragt). Jedenfalls war er recht schnell in eine finanziell bedrohliche Lage gekommen. August erinnerte sich, dass er noch mit Eilert geredet hatte. Er konnte zwei Monate seine Kreditraten nicht abzahlen, und schon stand die Bank auf der Matte: »Herr Onken, bislang waren wir ja sehr nachsichtig. Sie waren lange ein guter Kunde, aber jetzt, Herr Onken, geht es so nicht mehr weiter …«

»Dass man so schnell am Ende sein kann, ich habe den Betrieb doch zehn Jahre lang gut geführt, und nun strauchelt man mal ein kleines bisschen …«, hatte Eilert gezweifelt und August um Hilfe gebeten. August sah damals kaum Möglichkeiten, ihm zu helfen, er hatte gerade die Verträge für den neuen Laufstall und den Melkstand unterschrieben und war finanziell bis an die Grenze gegangen (»Mann, der Kredit ist nun wirklich auf Kante genäht«, hatte er mehrfach Henrike gegenüber geklagt). So hatte er Eilert zwar nicht finanziell, aber moralisch unter die Arme greifen können. Eilert hatte sich auch bei einigen anderen erkundigt, aber Geld zu verschenken hatte nun mal niemand und leihen war den meisten zu unsicher. Die Banken waren indes unnachgiebig. Freundlich war man zu zahlungsfähigen Kunden, bei anderen ging es rasch in schrofferem Ton zu, schließlich sitzt man als Bank am längeren Hebel und lebt von denen, die brav zahlen. Plötzlich war, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, Eilert Onkens Hof in Flammen aufgegangen. Erstaunlicherweise waren die Schweine – bis heute weiß keiner, wie – vorher aus dem Stall entkommen, sodass nur wenige Tiere Opfer des Brandes wurden. Da das Feuer an drei Stellen mehr oder weniger gleichzeitig ausbrach und sich schnell ausbreitete, hatte die Feuerwehr, ohnehin reichlich spät eingetroffen, da viele den Samstagabend anders zu gestalten dachten als mit einem Einsatz, das Hofgebäude nicht mehr retten können. Der Stall nebenan hatte renoviert werden können, was Eilert etwa ein halbes Jahr nach dem Brand auch begonnen hatte. Jetzt, zwei Jahre später, standen wieder Schweine drin. Jeder im Polder wusste, dass Onken weder Menschen noch Tieren etwas zuleide tun konnte. Da er zu dem Zeitpunkt allein auf dem Hof gewesen war, konnte er Menschen nicht schaden, und natürlich hatte er dafür gesorgt, dass die Schweine entkommen konnten. Sie wurden an allen möglichen und unmöglichen Orten wieder eingefangen, einige waren bis ins Deichvorland gelaufen, was selbst die härtesten Kritiker davon überzeugt hatte, dass die ›überzüchteten und mit Medikamenten vollgestopften Kreaturen‹ gesundheitlich offenbar doch stabiler waren, als diese vorher angenommen hatten.

Wiard war damals zu August und Henrike gekommen, da er durch seine Recherchen belegen konnte, dass Eilert seinen Hof selbst angesteckt hatte. Das hatte er August eigentlich nie erzählen wollen, und bis heute wusste Eilert Onken vielleicht selbst nicht, dass es Leute gab, die im Bilde waren. Eines schönen Sommerabends hatten Wiard und August sich mit ein paar Bieren und einer Flasche Korn an den Deich gesetzt. Und da August sich an dem Abend mit Henrike über die Haushaltspflichten gestritten hatte und Wiard ohnehin hier und da jemanden suchte, der mal einen mit ihm trank, hatten sie alle Flaschen, auch den Korn, geleert. Dabei hatten sie so manches Wort von Freund zu Freund gewechselt. Seitdem sagte August immer: »Wiard spinnt ein bisschen, aber im Grunde seines Herzens ist er ’n feiner Kerl.« Wiard hatte ihm seine Sicht des Hofbrandes erläutert, und August hatte es später Henrike erzählt.

Wiard jedenfalls hatte recht gehabt, daran gab es nichts zu rütteln. Es war Brandstiftung gewesen. Da Eilert aber auch ein feiner Kerl war, »im Grunde seines Herzens«, wie Wiard über Onken nun wiederum sagte, und er auf den Pfad zurückkehrte, von dem er abgekommen war, hatten die Dorfbewohner Gras über die Sache wachsen lassen. Erstaunlich schnell.

»Die Versicherungen sollen ruhig mal wieder was von dem abgeben, was sie einem jeden Monat aus der Tasche ziehen«, hatte Wiard damals gesagt. »Was die sich da für Paläste hinsetzen in München und Frankfurt, woher kommt denn das ganze Geld?« Da stimmten ihm ausnahmsweise alle zu. Von da an galt der Brand unter der Hand sogar als geschickter Schachzug eines Polderbewohners, dem man es gönnte, dass er nach einer schlechten Phase – wie sie das Leben eben auch bereithält – den Weg zurück gefunden hatte.

»Wiard hat auf jeden Fall recht gehabt«, wiederholte August, aus all den Gedanken erwachend.

»Eben«, reagierte Henrike, »Wiard ist gut in solchen Sachen, schließlich hatte er auch die Zeit, sich um so etwas zu kümmern, wer hat die schon? Und genau darauf … darauf spekulieren die da oben immer, wenn etwas schiefläuft. Da wird sich schon keiner drum kümmern, hat doch heute keiner mehr die Zeit … Da gibt es ein großes Unglück, zwei Wochen sind die Zeitungen und Nachrichten voll davon, und dann war es das auch schon. Dann muss was anderes kommen – der Hunger auf neue Sensationen ist zu groß, als dass die alten noch von Bedeutung sein könnten. Wer sich weiter für das Thema interessiert und vielleicht auch noch gegen Missstände etwas unternimmt, den kriegt man dann schon irgendwie still. So wird das auch mit dem Deich laufen.«

August fand, dass Henrike den Kern der Sache mit wenigen Worten getroffen hatte.

»Magst wohl recht haben. Und was nun?« Er merkte, dass es ihnen beiden gutgetan hatte, mal kurz vom eigentlichen Thema abzuschweifen und über anderes zu sprechen. Außerdem hatten sie sich so vergegenwärtigt, dass Wiard, wenn es um etwas Wichtiges ging, durchaus ernst zu nehmen war.

»Ich bin immer noch … völlig unentschlossen. Keine Ahnung, was jetzt das Richtige ist. Aber es muss was passieren! Mir ist ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier jemand durch den Polder schleicht und Fensterscheiben einschmeißt. Deshalb müssen wir die Polizei einschalten, das musst du Wiard klarmachen, August. Wer weiß, was der Täter sich noch überlegt! Aber um Wiards These zu stützen, brauchen wir noch ein paar Beteiligte, die sie bestätigen, sodass die Verantwortlichen es nicht mehr nur mit einem Gegner zu tun haben. Wiard allein schafft das nicht. Und wir mit ihm auch nicht. Am besten wären klare Beweise und dann Presse, Funk und Fernsehen.«