Tatort Nordsee

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»Klar, in der kurzen Zeit, in der einmal Wasser am Deich steht, da leckt das Ganze unten schon durch … Nee, Wiard, hör mir auf, das kann nicht, das ist unmöglich, ich bitte dich!«

»Weiß ich doch auch, August, aber es ist so. Als es so schnell mit der Ostkrümmung gehen musste, haben die ’ne Menge Material auf- und eingespült. Mir kam das damals schon reichlich nass und wässrig vor – aber da muss ich nun wieder sagen, dass ich ja kein Deichbauer bin. Weißt du, was ich glaube?« Er nahm einen Schluck Bier und fuhr fort, ohne Augusts Antwort abzuwarten: »Ich glaube, dass der ganze Deichkern von vornherein viel zu feucht war, weil die den Sand viel zu schnell und nachlässig eingespült haben und er sich nicht setzen konnte. Aber vor allem ist die Kleidecke viel zu dünn, und sie wurde zu früh aufgetragen. Und darum wurde dann tatsächlich bei dieser ersten Sturmflut schon Wasser in den Deich gedrückt. Es ist dann wieder aus der anderen Seite raus – nicht das vorne reingedrückte, aber das, was vorher schon im Deich drin war. Sozusagen ein Dominoeffekt der Wassermoleküle, eines drückt das andere weg.« Wiard lehnte sich zurück und fand diesen Vergleich sehr passend. Er atmete aus, lange und bedächtig.

»Puh, das ist ’ne Theorie, ein bisschen viel auf einmal – also … keine Ahnung. Das würde ja heißen, dass die uns alle hier im Polder verarscht haben, und noch viele Leute mehr. Nee, wir leben doch nicht in einer Bananenrepublik, also …«, August leerte die zweite Flasche.

»Konnte ich auch nicht glauben, obwohl mein Gedankenmodell immer besser passte. Aber jetzt kommt’s. Jetzt werde ich dich überzeugen, denn was dann passierte, kann ich selbst noch kaum glauben. Hier kommt meine Verletzung ins Spiel. Ich saß an meinem kleinen Schreibtisch, abends, Lampe an, Tasse Tee … Da fliegt plötzlich ein Stein durch die Scheibe, gut gezielt, genau getroffen. An meinen Kopf, meine Schläfe – bin umgekippt, weggedämmert. Irgendwann kam Jan Peters, dann der Krankenwagen. Habe ich ja alles gar nicht mitbekommen …«

»Ein Stein, durch die Scheibe?« August starrte Wiard ungläubig an.

»Komm her.« Wiard schritt ins Nebenzimmer. »Hier«, er zeigte auf die kaputte Fensterscheibe, die er notdürftig mit einer Plastikplane abgedichtet hatte.

»Oh, Mann, das gibt’s nicht! Das kann doch kein Zufall sein!« August war sprachlos.

»Zufall? Mitnichten. Weißt du, ich habe denen im Krankenhaus eine tolle Geschichte erzählt, wie das passiert ist, aber nicht die Wahrheit. Die steht hier drauf«, Wiard drückte August einen kleinen Zettel in die Hand.

August las. Da stand in ungelenken Druckbuchstaben, mit Bleistift, verwischt, aber noch sichtbar: ›Lass die Finger vom Deich, Schnüffler!!!‹

»Nee, das glaub’ ich jetzt nicht …« August wischte sich mit fahrigen Bewegungen über’s Gesicht.

»Ist aber so. Ich verspreche dir hoch und heilig: Ich habe weder mein Fenster zerstört noch den Zettel an den Stein geheftet. Aber natürlich bestätigt mich das voll und ganz. Sollte wohl eine Warnung sein – hätte aber fast zu meinem Exitus geführt. Wenn das nichts Ernstes ist, August, was dann? Und wenn da was mit dem Deich nicht ganz gewaltig faul ist, ich bitte dich, August, was dann?«

»Ja, ich muss dir wohl doch recht geben. Das mit dem Stein … Da gibt’s jemanden, der weiß, was du tust, und dem ist das gar nicht recht. Das ist ja wie in einem schlechten Film. Du bist gefährdet, Wiard. Mann, Mann, und das hier, irgendwo zwischen Utlandshörn und Greetsiel, an einem Stück ostfriesischer Küste – wo doch sonst nichts Aufregendes los ist. Was können wir jetzt tun?«

»Es gibt hier einen Skandal – den müssen wir aufdecken!«

Plötzlich wurde August unwohl. Er hatte überhaupt keine Lust, Steine durch seine Fenster fliegen zu sehen, und dachte an Henrike und seine vier Kinder, die womöglich etwas abbekommen könnten. Ihm fielen schlimmere Dinge ein: Entführung, Mord. Und – war das, was Wiard passiert war, nicht schon versuchter Mord? Hätte schließlich auch schiefgehen können.

»Sag mal«, fiel ihm plötzlich ein, »wieso hast du nicht die Polizei alarmiert?«

»Guck mal – schon dich von meiner Theorie zu überzeugen, ist schwer genug. Glaubst du, die Polizei würde mir glauben?«

»Weiß nicht. Immerhin hättest du schwer verletzt werden können, vielleicht dabei draufgehen. Wer weiß? Da muss dann doch die Polizei ran, meine ich.«

»Ja, irgendwann schon. Aber vorerst will ich allein der Sache nachgehen. Oder zusammen mit jemandem, der mir glaubt. Bis die ganze Geschichte insgesamt glaubwürdiger ist. Dann kann von mir aus die Polizei auf Steineschmeißerjagd gehen.«

August zögerte: »Weißt du, ich würde mir den Deich ja gerne mal ansehen. Lass uns doch morgen zur Ostkrümmung gehen, vielleicht um Mittag herum. Und dann … sagen wir mal, das stimmt nun alles so, wie du es gesagt hast, was dann?«

»Dann muss das schleunigst an die Öffentlichkeit«, ereiferte sich Wiard. Er ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, die Geschehnisse ans Licht zu bringen.

»Du, das glaubt dir oder uns tatsächlich kein Mensch. Schlampige Finanzierung, schlechte Verträge, Politiker schmieren vielleicht noch hohe Firmenleute, damit ein Deichbauprojekt fertig wird vor der Landtagswahl, was weiß ich? Vielleicht auch umgekehrt, wohl eher … Und wer deckt den Skandal auf? Wiard Lüpkes und August Saathoff, die beiden Stardetektive aus dem Polder. Sag mal selbst: Das glaubt uns doch kein Schwein. Und der Stein, na, das waren die selbst, um es glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Guck mal: Gestern haben alle noch das große Loblied auf den neuen Deich und die rechtzeitige Fertigstellung gesungen mit viel Sekt und ’n Köhm hinterher, und jetzt so was? Keine Chance. Da kommen zwei ostfriesische Landeier daher und behaupten, der Deich sei nicht sicher, obwohl der zuständige Minister gerade noch einen darauf getrunken hat … Vergiss es. Da braucht es Beweise, handfeste, unwiderlegbare Beweise. Du hättest gleich die Wahrheit sagen sollen, die Polizei holen, nach dem Steinwurf …«

»Super Idee, so im Koma …«

»O. k., hast recht, dennoch – jetzt damit zu kommen, später, macht’s unglaubwürdig.«

»Glaubst du mir?«

»Klar – das ist unbestreitbar, aber wohl nur für mich, noch jedenfalls.«

August war der Ansicht, man solle eine letzte Flasche Bier trinken, Wiard stimmte zu. Während sie auch diese leerten, beschlossen sie, sich um 13 Uhr am nächsten Tag auf dem Saathoff’schen Hof zu treffen und dann mit dem Auto zur Ostkrümmung zu fahren. August verabschiedete sich und lief – nachdenklich und zweifelnd – immer wieder den Kopf schüttelnd nach Hause.

»Danke«, hatte Wiard noch gesagt, »dass du mir zugehört hast. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, um mich selbst, aber vor allem um unseren Deich.«

»Es wird schon nicht so schlimm kommen, so sieht er ja ganz stabil aus«, hatte August geantwortet, »und vielleicht hast du doch unrecht, was in diesem Falle gut wäre.«

»Ja, sicher.« August hatte in Wiards Augen gesehen, dass er voll und ganz überzeugt war, dass dieser Deich einer ordentlichen, wuchtigen Sturmflut mit orkanartigen Böen aus Nordwest nicht gewachsen sein würde.

»Na, wie war’s?« Henrike hatte schon geschlafen, als August sich so leise wie möglich zum Bett schlich, dabei aber auf irgendetwas Hartes trat, das zerbrach und Henrike weckte.

»Verdammt«, hatte er geflüstert, »was liegt hier wieder alles rum«, das war wohl etwas zu laut gewesen, denn Henrike hatte eigentlich einen festen Schlaf.

»Ganz nett.«

»Habt ihr Bier getrunken?«

»Ja, so ein, zwei.«

»Also waren’s drei, vier. Und, was hatte Wiard?« In ihrem Kissen vergraben, war Henrike kaum zu verstehen, sie schlief schon fast wieder.

»Er denkt, dass demnächst unser Polder unter Wasser steht«, antwortete August und ärgerte sich auch im selben Moment, weil er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Henrike irgendetwas zu besprechen, wenn sie in diesem Zustand war.

»Typisch Wiard, der hat ja öfter mal fixe Ideen …Warum ist er verletzt, am Kopf?«, murmelte Henrike mehr, als dass sie fragte.

»Er ist gefallen, unglücklich.« August fragte sich, warum er log. Und auch, ob es nicht doch besser von Wiard gewesen wäre, gleich die Polizei einzuschalten.

»Ach, so ein Pech«, Henrike schlief in Sekundenschnelle wieder ein.

»Na, ist ja noch mal gut gegangen.« August wusste, dass seine Frau ihm nicht mehr zuhörte. »Dieses Mal …« fügte er noch flüsternd hinzu.

6

August hatte schlecht geschlafen. Er erwachte am nächsten Morgen mit dem Klingeln des Weckers um 5.45 Uhr und hatte das Gefühl, er habe mindestens fünf halbe Liter Bier getrunken, was definitiv nicht stimmte. Er war beunruhigt. Dass da Steine durch Fensterscheiben geschmissen wurden, hier, im Polder, das machte ihm Angst. Er schüttelte sich, als wollte er seine Furcht damit abwerfen. Er hatte keine Zeit für trübe Gedanken, denn er hatte sich für heute viel vorgenommen. Die Kälberställe mussten neu gekalkt werden. Freerk sollte ihm dabei helfen. Das ›Wittjen‹, wie er das Kalken nannte, sollte noch vor Weihnachten abgeschlossen sein, was angesichts der Größe der Stallungen ein recht optimistisches Unterfangen war. Das Wetter zeigte sich heute von seiner typisch norddeutschen Seite: Graue Wolken, graues Licht, es wurde eigentlich gar nicht richtig hell (›Regen und Rött‹). Kälberställe kalken, Radio dabei anstellen – das ging bei solchen Bedingungen ganz gut. Angesichts des gestrigen Gespräches bei Wiard war seine Laune allerdings mehr als gedämpft.

»Die Kälberställe müssen blitzen«, predigte sein Vater immer wieder, »das war immer so, und so musst du es auch halten, wenn alles funktioniert, alle Reparaturen sofort erledigt werden, wenn alles betriebsbereit, ordentlich und sauber ist, läuft der Laden automatisch.«

 

Tatsächlich hatte Augusts Vater sein Leben lang bis spät in den Abend hinein, wenn die Hauptarbeit getan war, noch hier und da repariert, gestrichen, gemäht, eben alles getan, damit der Hof immer ›wie geleckt‹ aussah. August kannte es nicht anders und führte diese Tradition fort. Außerdem nahm August am Vereinsleben im Polder rege teil – das kostete Zeit, die er an anderer Stelle einsparen musste. Sein Vater hatte sich derartige Dinge verwehrt, hatte wohl auch kein besonderes Interesse daran gehabt (»Hör mir auf mit der Vereinsmeierei«). Feuerwehr, Fußball, Heimatverein, da kamen für August schon allerhand Termine zusammen (»Vielleicht sollte ich auch ein Amt in den Vereinen übernehmen«, hatte Henrike gesagt, »und du sorgst dann etwas mehr für Haus und Familie …« »Warum nicht?«, hatte er geantwortet, aber Henrike hatte weder am Fußball noch an der Feuerwehr Interesse; Nordic Walking war jetzt trendy, vielleicht kam das ja auch mal im Polder an …). Einmal im Jahr verbrachte August mit alten Freunden aus der Schulzeit ein Wochenende, meist nur von Freitagabend bis Sonntagmittag, aber immer, wenn es so weit war, brachte ihn das ein bisschen mit seinem Gewissen in die Bredouille. Henrike dagegen unterstützte diese Treffen, was nicht uneigennützig war, denn auch sie hatte ein, zwei Wochenenden, an denen sie mit Freundinnen dem Hof, dem Mann und den Kindern den Rücken kehrte – dann blieb August allein zurück, meinte nur: »Kein Problem«, und sah einmal mehr, wie schwer es war, die Arbeit auf dem Hof mit der Hausarbeit und den Angelegenheiten seiner Kinder gleichzeitig zu meistern. Er ertappte sich dabei, mitunter die Nerven zu verlieren, und dann gab’s ein Donnerwetter, das sich gewaschen hatte. So erlebten ihn die Kinder jedoch nur selten. Von dem, was er sich vornahm zu erledigen, schaffte er allenfalls die Hälfte. Damit Henrike Sonntagabend in ein einigermaßen aufgeräumtes Haus zurückkehren konnte, versuchte er zu spülen, zu waschen, aufzuräumen, aber am Ende blieb doch das ein oder andere liegen. Und dann musste er sich auch noch um eine Vertretung kümmern, falls es ein Vereinsereignis gab. »Bloß keinen Einsatz an diesem Wochenende«, dachte er hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur Ortsfeuerwehr. Wenn er für ein Wochenende Familie und Hof verließ, bemerkte Henrike nur: »Das mit dem Melken kriege ich wohl noch gerade so hin«, und August wusste, dass es stimmte.

Nach dem Melken und einer Frühstückspause begann August das Wittjen. Freerk half ihm, heute fielen mal wieder einige Schulstunden aus, schließlich hatte die Landesregierung im Rahmen ihres neuen Qualitätsprogramms für die Schulen allerhand Stellen gestrichen, weshalb es zu Engpässen kam, die in Unterrichtsausfall mündeten.

»Also, die Ställe streichst du wirklich gut, die Landesregierung hat sich bei alldem etwas gedacht, ich bin mal wieder schwer begeistert von der Politik.«

»Mir gefällt’s auch. Ständig anstreichen wäre langweilig, aber ein paar Tage, da habe ich nichts gegen.«

»Aber morgen ist doch wieder Schule?« August sah seinen Sohn nun etwas besorgt an, fürchtete, dass die Auswirkungen des Qualitätsprogramms vielleicht allzu negativ werden könnten, nicht wegen Freerk, den konnte er hier gut gebrauchen, mehr wegen Freerks Schulbildung. Im letzten Jahr war oft der Unterricht ausgefallen.

»Unser Mathelehrer ist wohl wieder gesund, nachdem Mathe die ganze letzte Woche ausgefallen ist.«

»Eine Woche lang kein Mathe?« August fragte sich zunehmend, ob er die richtige Partei wählte. Hatten die im vorigen Wahlkampf nicht etwas von Verbesserung bei der Versorgung mit Lehrern, Verringerung des Unterrichtsausfalls (von Vermeidung war keine Rede gewesen), Chancengleichheit und Ähnliches geschwafelt? Und hatte ihm nicht neulich jemand erklärt, dass die Regierung in ihren Berechnungen zum Bildungshaushalt von vorneherein mit einem Unterrichtsausfall von mindestens 10 Prozent rechne? Auch angesichts der letzten Diätenerhöhung, die sich der Landtag gegönnt hatte, quasi gleichsam zur Festschreibung einer weiteren Nullrunde für die Rentner, kam er ins Grübeln. Sein Vater hatte sehr geflucht: »Selbstbedienungsmentalität ist noch freundlich ausgedrückt, und dann nach fünf Jahren im Parlament schon dick Rente kassieren …« Er war richtig sauer, neulich. Aber deswegen nun beim nächsten Mal eine andere Partei wählen? Nee, das denn doch nicht. Die würden schon noch zur Besinnung kommen.

»Anstatt Mathe hatten wir Vertretung, bei unserem Kunstlehrer vom letzten Jahr, da haben wir ein paar schöne Sachen gemacht, zum Glück kamen keine Zahlen und Rechenaufgaben vor.«

»Na ja«, murmelte August, »das eine wie das andere ist sinnvoll, ihr sollt ja erst mal in der Breite was lernen«, wo hatte er das noch neulich gelesen, er wusste es nicht mehr, »aber Mathe ist nun mal sehr wichtig …«

»Ach«, wehrte Freerk ab, »ich mach später was, das bestimmt nichts mit Mathe zu tun hat.«

»Alles hat mit Mathe zu tun«, reagierte August prompt, und wieder fragte er sich, woher er das hatte, hoffte gleichzeitig, Freerk würde nicht fragen, wie er das meine.

»Ja, ich weiß, das hat unser Mathelehrer auch immer gesagt. So ganz verstanden habe ich das allerdings nicht.«

August war erleichtert, denn zum einen war Freerk offenbar die elementare Wichtigkeit der Mathematik bewusst, zum anderen hatte er keine konkrete Antwort seines Vaters eingefordert. Den Mathelehrer hatte er indes schon durch den Sohn seines Nachbarn als einen im Gegensatz zu anderen Lehrern nicht besonders engagierten Vertreter seiner Zunft kennengelernt, ihn aber persönlich nie getroffen. Sie wittjeten schweigend weiter, und die ersten drei Kälberställe erstrahlten bald schon in neuem Glanze.

»Hier möchte ich auch Kalb sein«, eine bekannte Stimme holte August Saathoff und seinen Sohn aus ihren Gedanken, zu denen sie das Streichen verleitet hatte. Unvermittelt stand Wiard vor ihnen.

»Moin, ihr beiden, das macht ihr aber schön, heel mooi«, er lachte, hatte offensichtlich gute Laune. Er hielt ein paar Blätter Papier in der Hand.

»Moin Freerk«, rief er dem Jungen zu, »keine Schule heute, oder hat dein Vater dir eine Entschuldigung geschrieben, damit du ihm beim Wittjen helfen kannst?«

»Nee, heute fällt ’ne Menge aus, und ich habe mich zu spät abgesetzt. Mein Vater war schneller und hat mich zum Anstreichen verdonnert. Was hast du denn da am Kopf?«

Er mochte Wiard, war schon viele Male bei ihm gewesen, kannte ihn seit Jahren. Im Sommer waren sie oft mit dem Boot in die Bucht rausgefahren und hatten Butt, Meeräschen, Aal mitgebracht, alles, was das Wattenmeer an Gutem zu bieten hat.

»Ach, kleine Verletzung. Bin hingefallen, einfach ausgerutscht, und absolut blöd auf die Stuhlkante geknallt. Zum Glück ist nichts passiert – war aber eine Nacht im Krankenhaus. Aber was soll’s. Wird schon wieder werden … Mann, hier lernst du ja richtig was«, meinte Wiard, »wittjen ist vielleicht ebenso wichtig wie Gemeinschaftskunde oder Chemie, was?« Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob er das auch so meinte, wie er es sagte, und erwartete nicht unbedingt eine Antwort.

»Weiß nicht«, sagte Freerk prompt, und August rief: »Also, wenn ich mir angucke, womit die in einigen Fächern die Zeit zubringen, da würde ich ihn lieber regelmäßig ein paar Tage hier behalten. Ich glaube, da gäb’s ein paar sinnvollere Dinge zu lernen – und der Praxisbezug würde ins Unermessliche steigen, daran fehlt es nämlich, gerade am Gymnasium …Was habt ihr da neulich gelesen? Warten, warten …«

»… auf Godot«, ergänzte Freerk.

»Genau … also so ein Käse, dass so etwas gedruckt wird …«

»Ich fand’s gar nicht so schlecht«, gestand Freerk leise.

»Samuel Beckett ist einer der ganz Großen«, warf Wiard ein, und August wunderte sich, wieso Wiard wusste, wer ›Warten auf Godot‹ geschrieben hatte. Er sagte nichts dazu, strich nur etwas schneller, schließlich musste der Kälberstall fertig werden …

»Ach, August, du hast eben keine Ahnung von diesen Dingen«, lachte Wiard, »wir gehen der Wissensgesellschaft entgegen, da muss unsere Jugend noch viel mehr lernen.«

»Na prima«, entgegnete August, »aber vielleicht was Brauchbares? Erstens fällt dauernd der Unterricht aus, und zweitens ist das mit dem Wissen ja schön und gut, aber es muss doch auch Leute geben, die dafür sorgen, dass Milch, Käse und Fleisch im Laden zu haben sind, und das lernt man bestimmt nicht in der Schule, im Gegenteil, gerade die Abiturienten meinen doch oft, das sei einfach alles da, vom Himmel gefallen, oder was weiß ich. Die Milch steht im Kühlschrank. Punkt. Aber wie kommt sie da eigentlich hin? Und wieso ist sie in Tetrapaks abgefüllt? Und …, ach, holl mi up. Niemand denkt an die schwere Arbeit in der Landwirtschaft, auf die immer alle schimpfen.« Diese Debatte war Wiard bekannt, und er wusste, wie man August prima provozieren konnte.

»Ganz so blöd sind wir auch wieder nicht«, entgegnete Freerk. Er war ein guter Schüler, o. k., Mathe war nicht ganz so prickelnd, aber er selbst hatte darauf bestanden, Abi zu machen, obwohl er in der neunten und zehnten Klasse nur knapp versetzt worden war. Er sagte seinem Vater wieder und wieder, dass er noch nicht wisse, ob er als sein Nachfolger zur Verfügung stehe, vielleicht wolle er auch mehr in die Biologie oder Bioinformatik gehen. August nahm das gelassen – schließlich hatte er noch drei weitere Kinder – und hatte keinerlei Einwände gegen die Idee seiner älteren Tochter, den Hof zu übernehmen. Die war gerade erst sechs Jahre alt, aber großer Pferdefan und meinte, im Laufstall könnten anstelle der Kühe doch ebenso gut gleich viele Pferde stehen. Augusts Eltern meinten zwar, das ginge doch wirklich nicht, es sei denn, sie heirate einen Bauern. Aber August, ganz der Zeit angepasst, entgegnete: »Mann, Mann, die Zeiten ändern sich, das müsst ihr auch einfach mal akzeptieren. Schauen wir mal, was überhaupt so passiert bis dahin, und wenn sie will, meine Unterstützung hat sie. Das sind doch olle Kamellen, von wegen erster Sohn und so, wo leben wir denn?«, und dann, meistens nach einer kurzen Pause, setzte er noch hinzu: »Zum Glück haben wir andere Zeiten!« Das in der Regel folgende: »Na, es gab viel Gutes früher«, überhörte er und dachte an den Spruch: ›Jetzt leben wir in der Zeit, von der wir später sagen werden, es sei die gute, alte Zeit.‹

Eine kleine Pause entstand, als Wiard fragte: »August, kann ich dich kurz sprechen? Ich habe da noch etwas, wegen gestern.«

August hatte eigentlich keine große Lust, jetzt über den Deich zu reden. Er hatte eine imaginäre Linie an die zu streichende Außenwand gemalt, bis dahin wollte er heute mit dem Wittjen kommen; alles andere wäre nicht genug. Seiner Meinung nach, schließlich war niemand sonst da, der das hätte kritisieren können. Andererseits hatte er wieder und wieder über Wiards Deichgeschichte nachgedacht und das Bild des nassen Deichfußes vor Augen.

»Was macht denn deine Verletzung?«, fragte er ausweichend.

»Ich sag ja, wird schon werden.« Wiard ging nicht weiter auf die Frage ein.

»Ja, dann komme ich mal eben«, gab August sich geschlagen, fügte hinzu: »Freerk, mach ruhig mal ’ne Pause, sag Mama doch eben, sie soll Tee machen, wir kommen gleich.«

»Mama ist doch gar nicht da. Die ist doch in die Stadt, einkaufen, und zur Kfz-Meldestelle, den McCormick anmelden.«

»Dann setz doch bitte schnell Wasser auf. Um den Tee kümmern wir uns.« August drückte den Deckel leicht auf den Farbeimer und ging Richtung Tor.

»Den alten McCormick? Den wollt ihr wieder anmelden?«, wunderte sich Wiard.

»Klar, den habe ich repariert, die Kinder haben die Roststellen mit schönem Cormick-Rot übermalt, eine neue alte Lichtmaschine vom Schrotthändler Arnold Poppinga hat er auch bekommen, und nun ist der alte Schlepper wieder fit. Den kriegst du nicht kaputt, wenn man nicht gerade in den Schlot oder gegen eine Wand fährt. Ich brauche zwei Trecker, die offiziell angemeldet sind.«

»Ach, fahr ihn doch so, mach ein altes Schild dran – das merkt doch kein Schwein hier, oder es ist ihnen egal …«

»Ja, und schon steht Holger Janssen, unser Dorfpolizist, vor mir, und ich hab ein Strafmandat an der Backe kleben.«

»Ach, Holger ist ein feiner Kerl … aber er nimmt seinen Dienst ernst, da hast du recht.«

»Du, da kennt der nix. Letztes Jahr habe ich eine halbe Stunde mit ihm diskutiert, weil ich mit der alten 250er-BMW eine Probefahrt gemacht habe. Freerk hat angeschoben, und plötzlich lief die Gurke wieder. War natürlich auch nicht angemeldet. Steht Holger da und macht Alkoholkontrolle, mit zwei Kollegen. Er war der Schlimmste. Also, am Ende haben sie mich gehen – oder vielmehr fahren – lassen, aber auf dem direktesten Weg nach Hause. Er hat mir ernsthaft mit Punkten in Flensburg, Führerscheinentzug und was weiß ich nicht noch allem gedroht … Was gibt’s denn eigentlich?«

 

»Hör zu«, sagte Wiard kurz, »ich habe gestern Abend noch etwas vergessen. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich eine Zeit lang ganz in der Nähe der Bauleitung gearbeitet habe. Ein paar Mal war ich auch in deren Bude, da standen ganze Schreibtische mit Unterlagen herum, und die Ingenieure gaben sich die Klinke in die Hand. Außerdem kamen auch öfter welche vom Vorstand vorbei, die Besprechungen liefen da häufiger. Da ich mitunter auch als Informationsträger genutzt worden war, hatte ich mit einigen Ingenieuren Bekanntschaft geschlossen, und es fiel nicht besonders auf, wenn ich mich dort aufhielt. Ich habe die Leute hier und da auch mal gefragt, so nach dem Motto: ›Ich habe keine Ahnung, aber müsste es nicht so und so sein?‹ Die haben mir dann allerhand erklärt, alles habe ich nicht immer gleich kapiert, die einen können eben erklären, die anderen nicht. Aber ich habe was mitgekriegt und außerdem ein paar Unterlagen kopiert, die ich interessant fand und die damals noch mehr oder weniger herumlagen. Es achtete zunächst niemand auf die Dokumente, in den Bauwagen kamen ja im Prinzip nur die Ingenieure. Damals hatte ich aber schon einen Verdacht, habe den aber verdrängt, da viel anderes zu tun war, außerdem ging’s mir auch um das Geld, gar nicht so sehr um den Deich als solchen. Kurze Zeit später war man wesentlich restriktiver geworden. Ich denke, danach wurde alles noch schlimmer. Ich war nicht bis zum Bauende dort, weil die einen Ein-Euro-Job aus meiner Stelle machen wollten, das hätte mir aber nichts mehr gebracht. Da habe ich den Job besser gelassen. Ich habe die Dokumente jedenfalls mal schnell unter dem Vorwand, für irgendjemanden am Deich den ein oder anderen Planausschnitt vervielfältigen zu müssen, gleich doppelt kopiert. Eigentlich weiß ich heute gar nicht mehr so genau, weshalb ich das getan habe. Vielleicht Intuition. Ich habe auch noch eine Kopie für Dich.«

»Erst mal will ich sehen, was das überhaupt ist.« August war gleichermaßen neugierig wie unschlüssig, ob er das alles wirklich wissen wollte. Denn wenn auch nur ein bisschen stimmte von dem, was Wiard behauptete, war er Mitwisser, und Mitwisser, das wusste er aus amerikanischen Spielfilmen ebenso wie aus dem wahren Leben, lebten mitunter gefährlich. Gerade bei dem Gedanken an den Steinwurf und Wiards schwerer Verletzung wurde August zunehmend unwohler. Sie hatten inzwischen das Wohnhaus erreicht, und Freerk hatte tatsächlich Wasser aufgesetzt, das schon fast kochte. August wäre jede Wette eingegangen, dass sein Sohn es vergessen hatte. Nun gab er drei Löffel Tee in den Treckpott und übergoss das Ganze mit kochendem Wasser. Dann füllte den Tee in die neue doppelwandige Kanne um. Die hielt ihn so schön lange warm. Anhand dieser bahnbrechenden Erfindung hatte August neulich nach dem Fast-Tankerunglück vor Wilhelmshaven den Kindern erklärt, warum doppelwandige Tanker sicherer waren als viele der Seelenverkäufer, die nach wie vor auf der Seeschifffahrtsstraße, also nicht weit entfernt vom Wattenmeer, herumschipperten.

Wiard saß längst am Tisch und sah seine Kopien durch. Von Weitem erkannte August Zeichnungen, Tabellen und ein paar Texte, lesen konnte er aber nichts.

»Kekse?« fragte er Wiard.

»Nee, lass man, habe eben erst gefrühstückt.«

»Eben erst gefrühstückt, das muss man sich mal vorstellen. Es ist nach 10 Uhr. Das ist ein Leben – Urlaub pur.«

»Ich habe vor dem Frühstück schon eine Menge zutage gefördert bei meinen Recherchen. Nu sett di mol henn und guck mal.«

»Nicht so hektisch, Wiard, hier ist erst mal dein Tee.« August stellte eine Tasse des dampfenden Heißgetränks vor Wiard hin. Aus einer großen Schüssel, die er aus dem Kühlschrank holte, schöpfte er die Sahne, die sich oben abgesetzt hatte, ab und gab in beide Tassen ein wenig davon hinein. Wie eine Wolke breitete sich die Sahne im Tee aus, ein Schönwetter-Kumulus.

»Tee as Ölje, Kluntje as’n Schliepsteen und Rahm as’n Wulkje«, wiederholte Wiard, gebannt auf die sich schlierenförmig auf dem Tee ausbreitende Sahne starrend, den Werbespruch einer größeren Teefirma, die diesen allerdings auch nicht erfunden hatte. Für einen Augenblick war er vom Deich ab- und auf den Tee gekommen.

»Hallo, Herr Nachbar!«, rief August Wiard in die Realität zurück, »was hast du da denn nun Feines?«

Wiard sah ihn kurz an und fragte sich, weshalb heutzutage nicht einmal Zeit ist, dem Tee nicht nur als gewöhnlichem Getränk, sondern vielmehr als philosophischem Medium zur Anregung aller Sinne – nicht nur derjenigen, die für den Geschmack zuständig waren – zu huldigen. Doch dann nahm der Deich wieder vollständig seine Gedankenwelt ein. Er legte drei DIN-A4-Bögen so auf den Tisch, dass beide gute Sicht hatten.

»Hier, das ist die Ostkrümmung«, begann er und deutete mit einem Bleistift auf eine Biegung in einem Sammelsurium von parallelen, senkrechten und manchmal auch schräg stehenden Linien, die den neuen Deich kennzeichneten. »Hier war ich ein paar Wochen direkt am Deichbau beteiligt. Und hier – er zeigte auf ein paar andere Striche – haben sie angefangen, auf entscheidende Dinge zu verzichten, weil die Zeit nicht mehr reichte, die Firma nicht mehr im Plan war und die Leute panisch wurden, allen voran der Vorstand, dazu zeige ich dir noch etwas.« Wiard machte eine kurze Pause.

»Guck dir mal die zweite Kopie hier an.« Auf dieser waren neben allem, was auch auf der ersten zu sehen war, einige Anmerkungen angebracht, aus denen August aber nicht schlau wurde.

»Hmm«, machte der, »und?«

»Ja, genau so habe ich auch reagiert und mir zunächst nichts dabei gedacht. Aber mittlerweile ist es mir klar geworden, hier sieh mal, hier steht ›k.w.‹ und hier ›w.m.‹, weißt du, was das bedeutet?

»Nee, bin ja kein Deichbauer.« Wiard hörte die Ironie in Augusts Worten.

»Das hat mit Deichbauer nichts zu tun, August, bleib fair, lass mich wenigstens erklären, was ich dir sagen will, am Ende kannst du entscheiden, ob du mir glaubst oder nicht.«

»Nun mal nicht so empfindlich. Red mal weiter, neugierig bin ich, aber auch kritisch.«

»Ja, ich kenne dich lange genug. Also, beim Finanzamt gab’s auch immer Abkürzungen, eine schöne war ›k.w.‹, das stand für ›künftig wegfallend‹ und wurde für Personalstellen verwendet, die nach Ausscheiden des entsprechenden Mitarbeiters nicht wieder besetzt wurden, weil es neue Einspar­auflagen von oben gab.«

»Das macht mich nicht schlauer, was soll das auf einem Deichbauplan? ›Künftig wegfallend‹ …«

»Hier heißt es natürlich etwas anderes, du musst nur ›künftig‹ durch ›kann‹ ersetzen.«

»Ist aber schlechtes Deutsch.«

»Blödmann. Streich das letzte ›d‹. Sei doch mal ernst, Mann, ich meine es jedenfalls bitterernst.«

»Ja, ja. Kann wegfallen«, murmelte August und schenkte erneut Tee ein. »Und?«

»Mann, du bist aber auch ein Bauer, wie er im Buche steht«, lamentierte Wiard, wurde aber unterbrochen:

»Wie war das mit dem fair Bleiben?«, fuhr August dazwischen.

»Ist ja schon gut. Also, wenn da ›kann wegfallen‹ steht, heißt das, dass hier etwas ursprünglich Vorgesehenes nicht mehr in den Bau eingefügt werden soll. Und dann muss man mal genau gucken, wo der kleine, schwache Pfeil hinzeigt, an dem ›k.w.‹ steht.«

Wiard verfolgte mit dem Bleistift diesen Pfeil, der auf der Plankopie an einer ebenso dünnen Linie endete, die parallel zu einigen anderen verlief, diesmal aber in dem Ausschnitt zum Deichquerschnitt.