Himmel

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Jonathan wurde schwarz vor Augen und er spürte wie ihn ein starkes Schwindelgefühl erfasste. Es war nicht das Gefühl des Fallens das er beinahe schon erwartet hatte, sondern ein vager Eindruck davon, wie sich jemand fühlen musste, der einen Schlag gegen den Kopf bekam. Er verlor jedoch nicht das Bewusstsein, sondern verharrte in einem Zustand der irgendwo zwischen Wachsein und Besinnungslosigkeit lag. Wie lange dieses Entlanggleiten am Rande des Bewusstseins dauerte wusste er nicht zu sagen. Sekunden; Stunden; vielleicht sogar Tage. Irgendwann verschwand das Schwindelgefühl so schnell wie es gekommen war und er erhielt sein Augenlicht zurück. Über ihm war der Himmel. Oder zumindest etwas, das den Himmel darstellen sollte. Es sah aus wie ein Kind ihn sich in seinen Träumen vorstellen mochte. Das Blau war von einer unnatürlichen Intensität und der gelbe Ball der Sonne strahlte schwach genug, dass man direkt hinein sehen konnte ohne Gefahr zu laufen, die Augen dadurch zu schädigen. Jonathan drehte sich zur Seite und sah das saftige, beinahe leuchtende Grün von makellosen Grashalmen an deren Spitzen Tautropfen glitzerten. Es fehlten nur noch... zwei riesige Schmetterlinge die zu tanzen schienen wie ein verliebtes Paar schwebten vorbei. Jonathan verkrampfte sich für einen Moment und sah ihnen misstrauisch nach. „Also gut“ murmelte er und dachte intensiv an etwas Anderes. Nichts geschah. Es gab hier also niemanden, der seine Gedanken las und die Dinge nach seinen Vorstellungen erschuf. Diese Erkenntnis beruhigte ihn ein wenig. Das alles hier war nicht seine kindliche Fantasie. Jonathan setzte sich langsam auf und sah sich um. Er sah Bäume. Wiesen. Felder. Alles war makellos, sauber und … unglaublich intensiv. Das Gras der Wiesen war saftig und grün wie in einem Werbeprospekt für Urlaub auf dem Land. Die regelmäßigen Halme wogten sanft in einer warmen, gleichmäßigen Brise. Auf den Feldern stand goldenes Korn. Jonathan fühlte sich direkt in die Welt eines Märchens versetzt, das ihm seine Mutter vor langer Zeit vorgelesen hatte. Fehlte nur noch ein sprechender Baum und was noch so alles in der Geschichte vorgekommen war, an die er sich nicht mehr besonders gut erinnern konnte. Er blinzelte mehrmals und seufzte ergeben, als sich das merkwürdige Bild nicht auflöste um einer realistischeren Umgebung Platz zu machen. Er stand auf und kämpfte gegen das Zittern in seinen Beinen an bis es schließlich nachließ. Unschlüssig was er als nächstes Unternehmen sollte drehte er sich im Kreis und suchte nach irgend einem Punkt in der Landschaft der ein lohnenswertes Ziel abgeben mochte. Er konnte nur auf sein Gefühl hören. Eine andere Möglichkeit zur Orientierung gab es nicht. Als er die langsame Drehung beendet hatte war er überzeugt, nichts gesehen zu haben das auch nur im Geringsten sein Interesse weckte. Als er sich bereits halb entschlossen hatte einfach in irgend eine Richtung loszumarschieren, erschien etwas vor seinem inneren Auge das er flüchtig wahrgenommen haben musste. Er wusste nicht was es war; einfach ein Ding, das nicht in die Landschaft zu passen schien. Jonathan drehte sich noch einmal im Kreis; langsamer als zuvor und suchte nach diesem Ding. Da ist es. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte noch immer nicht erkennen, was er eigentlich anstarrte. Er musste näher heran. Seine Beine setzten sich bereits in Bewegung bevor der Gedanke zu ende gedacht war. Sein ganzer Körper schien sich danach zu sehnen, dass etwas geschah. Egal was. Die monotone, perfekte Landschaft um ihn herum begann bereits an seinen Nerven zu zerren. Ohne, dass er es wollte beschleunigten sich seine Schritte immer weiter, bis er schließlich beinahe rannte. Das Ding auf das er sich zu bewegte zog ihn an wie eine Fata Morgana einen verdurstenden in der Wüste. Er hoffte, dass sich sein Ziel nicht als ebenso flüchtig erwies. Zumindest hielt es sich an die grundlegenden Naturgesetze und wurde langsam größer, während Jonathan näher kam. Die vorher noch verschwommenen Linien ordneten sich zu etwas das für einen Menschen des 21. Jahrhunderts unverkennbar war. Ein Auto. Ein verdammtes Auto. Mitten im Nirgendwo. Jonathan unterdrückte den Impuls sich die Augen zu reiben. Das Ding würde ja doch nicht verschwinden. Zumindest hoffte er das es sich damit verhielt wie mit allem hier. Vielleicht konnte er einfach einsteigen, den Motor starten und den Fuß auf das Gaspedal drücken. Egal wohin er fuhr; nur die Bewegung zählte, wo der Stillstand unerträglich war. Jonathan spürte wie sich sein Herzschlag beschleunigte und eine gewisse Nervosität von ihm Besitz ergriff. Zum ersten Mal seitdem er aufgewacht war stieß er auf etwas das einen Hauch von Normalität in diese seltsame Umgebung brachte. Ein Gegenstand der für ihn so normal war, dass er ihn unter anderen Umständen keines zweiten Blickes gewürdigt hätte erschien ihm plötzlich wie ein kleines Wunder. Und dieses Wunder stand nun direkt vor ihm, nur noch wenige Schritte entfernt. Die Kraft wich aus seinen Beinen als würde sie von einem gierigen Vampir heraus gesaugt. Er blieb stehen. Während er in Gedanken gewesen war hatte er nur am Rand seiner Wahrnehmung bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Erst jetzt erkannte er was es war. Dieses Auto würde niemals mehr irgendwohin fahren. Weder mit ihm noch ohne ihn. Das Ding war ein Wrack. „Totalschaden Mann. Vergiss es!“ hätte Garry in der Werkstatt gesagt, in der Jonathan seinen eigenen Wagen reparieren ließ wenn es mal wieder sein musste, weil das verdammte Ding wie so oft nicht anspringen wollte. Garry hätte sich schaudernd abgewandt, sich bekreuzigt und „Gott hab sie selig“ gemurmelt. Garry liebte die Autos, über die er redete wie über Frauen, mehr als die Menschen. Jonathan konnte sich nicht abwenden. Das Wrack zog ihn in seinen … ihren? Bann. Mit äußerster Mühe gelang es ihm ein unwilliges Bein vor das andere zu setzen. Ein Schritt. Und noch einer. War das Blut? Auf der gesplitterten Scheibe die schief in der vorderen Tür der Beifahrerseite hing klebte etwas, das wie eingetrocknetes Blut aussah. Hör auf dich selbst zu belügen. Du weißt verdammt gut, dass das Blut ist. Jonathan blinzelte nervös. Seine Augen fühlten sich trocken an. Er ließ seinen Blick an dem verbogenen Blech entlang gleiten. Er begann heftig zu zittern als das Erkennen wie ein greller Lichtblitz durch sein gelähmtes Gehirn fuhr. Er kannte diesen Wagen. Das Modell; die Farbe. Er selbst hatte genau so einen gefahren. Ganz genau so einen. Er kniff die Augen zusammen. Suchte nach etwas. Und da war es. Ein Kratzer in Form eines U, genau unter dem Türgriff. Die Stelle an der Linda... Jonathan hielt den Atem an. Das war doch unmöglich. Das war sein eigener verdammter Wagen. Der Unfall... war das was da vor ihm stand das Ergebnis? Was wenn er die Hand ausstreckte und die Tür öffnete? Würde er sich selbst hinter dem Steuer sehen? Das leere, blicklose Gesicht eines Toten, verklebt mit getrocknetem Blut? Würde sie auf dem Beifahrersitz sein? Mit verrenkten Gliedern und gebrochenen Augen? Ohne es zu wollen streckte er den Arm aus. Seine Finger näherten sich dem Griff, der als eines der wenigen Dinge heil geblieben zu sein schien. „Komm schon. Lass mich nicht länger warten“ schien das kalte Glänzen zu sagen. Jonathan konnte der Verlockung nicht widerstehen. Seine Neugierde war stärker als seine Angst vor dem was er sehen würde. Seine Finger schlossen sich um den Griff zu zogen daran. Die verzogene Tür leistete widerstand öffnete sich aber dennoch mit einem schnarrenden Geräusch als er seine Bemühungen verstärkte. Jonathan stolperte rückwärts und starrte mit leicht geöffnetem Mund in das Innere des Wagens. In seinem Gesicht zuckte es, als wäre unter seiner Haut etwas lebendig geworden, das nicht unter seiner Kontrolle stand. Der Beifahrersitz war leer. Auf dem Armaturenbrett klebte Blut. Aber auf dem Fahrersitz saß jemand. Reglos, nach vorne gebeugt, beinahe über dem Lenkrad hängend, wie jemand der einfach nur eingeschlafen war. Jonathan konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, aber er wusste trotzdem wer er war; hatte es bereits einen Augenblick nach dem er die Tür geöffnet hatte gewusst. Am Steuer des zerstörten Wagens saß er selbst. Das war sein eigener Wagen den er gelenkt hatte bevor … vor was? … bevor er an diesen seltsamen Ort katapultiert worden war. Alles in ihm schrie danach die Tür zuzuschlagen und so schnell er konnte davon zu rennen, aber er konnte sich nicht bewegen. Wie ein hypnotisiertes Kaninchen starrte er sich unverwandt selbst an während sich die Gedanken in seinem Kopf jagten. Die Ausgabe seiner Selbst auf dem Fahrersitz trug die selbe Kleidung wie er. Über die Wange des Jonathans im Wagen verlief eine dünne bereits getrocknete Blutspur und irgend etwas das er nicht genau erkennen konnte schien sich in den Unterleib des Anderen … das bist du selbst Mann ... gebohrt zu haben. Jonathan versuchte die Hand auszustrecken, aber auf seinem Arm schien ein tonnenschweres Gewicht zu lasten. Er konnte sich einfach nicht selbst berühren. Der du bist tot. Das siehst du doch. Es stimmte. Der Mann in dem Wagen sah nicht sonderlich lebendig aus. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen und er bewegte sich kein bisschen. Tot. Jonathan bekam das Wort nicht aus seinem Kopf. Es hatte einen seltsamen Klang. Er hatte einen Unfall gehabt und war gestorben. Und jetzt stand er hier vor seinem Wagen und starrte seinen eigenen Leichnam an. War es das was man als außerkörperliche Erfahrung bezeichnete? Das wovon die klinisch toten, die das Glück hatten wieder zu erwachen berichteten? Und wenn das dort drinnen wirklich er selbst war, wo war dann Linda? Vor allem wenn das ihr Blut ist sagte eine makabere Stimme in seinem Kopf. Er musste sie suchen. Es gab ohnehin nichts anderes was er tun konnte. Auch wenn das alles vollkommen absurd war, so musste er doch irgend etwas tun. Vielleicht hörte der Schrecken dann auf. Oder er begann genau dann, wenn er sie fand.

 

Jonathan lief im Kreis. In ständig größer werdenden Kreisen besser gesagt. Vom Wrack des Wagens aus hatte er begonnen die Gegend so systematisch abzusuchen wie es ihm ohne jegliche Orientierungspunkte möglich war. Auch hier hinter der Tür gab es jede Menge … Nichts. Genau wie auf der anderen Seite. Der Unterschied bestand darin, dass hier kein Nebel war. Ob das wirklich eine Verbesserung war getraute Jonathan sich nicht zu sagen. Vorher hatte er wenigstens nicht genau gesehen woran er war. Ohne den Nebel begrenzte nur die schärfe seiner Augen seine Möglichkeiten der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Da war nur der Wagen, im Moment irgendwo links von ihm und sonst nichts. Linda konnte er nur dann übersehen wenn sie weit genug von ihm entfernt flach auf dem Boden lag. Deshalb die Kreise. Jonathan gab sich keinen Illusionen hin. Diese Suche konnte er im besten Fall einige wenige Tage aufrecht halten bevor ihn die Kräfte verließen und er einfach zusammen brach. Egal wohin er schaute, da war Nichts zwischen ihm und dem Horizont das groß genug war, als dass er es auf die Entfernung hätte erkennen können. Er hatte keine Ahnung wie weit dieser Horizont entfernt war, aber die Strecke war sicher lang genug, um ihn vor unlösbare Probleme zu stellen, wenn er sie zu Fuß zurücklegen wollte; ohne Wasser und Nahrung. Wenn Linda weit genug entfernt war, konnte er hier im Kreis laufen bis er verdurstete oder einen Schlaganfall erlitt, ohne ihr jemals auch nur nahe zu kommen. Er kniff die Augen zusammen, als sich Tränen der Wut in seinen Augenwinkeln sammelten. Das Blut pochte in seinen Ohren; ihm wurde unsäglich heiß und er verspürte den Drang sich das Hemd vom Leib zu reißen, um sich abzukühlen. Womit hatte er es verdient, dass er hier gelandet war? Wer war dafür verantwortlich und warum zeigte er sich nicht endlich? Was konnte jemand davon haben ihn im Nirgendwo auszusetzen und ihn dann seinem Schicksal zu überlassen? Warum hatte er ihn nicht einfach umgebracht? Ganz abgesehen davon, dass du vielleicht bereits tot bist. Das wäre eindeutig schneller gegangen. „Was soll das?“ schrie er mit sich überschlagender Stimme. Etwas von seiner Wut strömte ebenfalls aus ihm heraus und er wurde wieder ruhiger; genug um nicht auszurasten und etwas Unüberlegtes zu tun, das ihn auch nicht weiterbringen würde. Nein. Er musste nach ihr suchen bis ihn die Kräfte verließen. Auch wenn er sie nicht fand hatte er es wenigstens versucht.

Jonathan blieb stehen als wäre er gegen eine Mauer gerannt, als plötzlich jemand, den er nicht sehen konnte lauthals lachte. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und stierte mit tief in den Höhlen liegenden Augen in die Leere, die ihn immer noch umgab. Seine Kräfte ließen besorgniserregend schnell nach. Seiner Schätzung nach, hatte er sich bei seiner Kreisbewegung erst gute zwei Kilometer vom Wrack des Wagens entfernt, spürte aber schon jetzt, dass er nicht sehr viel weiter kommen würde. Und nun verspottete ihn auch noch ein verdammter Unsichtbarer, der ihn bereits wer weiß wie lange beobachtete. Das Lachen wurde leiser und verklang. Jonathan versuchte sich einzureden, dass sein Verstand langsam an den Strapazen zugrunde ging und er sich das Lachen nur eingebildet hatte. Er seufzte schwach und setzte seinen Marsch fort. Nachdem er nur einen einzigen Schritt zurückgelegt hatte wurde er erneut lauthals ausgelacht. Das Geräusch schien von überall zugleich zu kommen. Bedeutete das, dass der Unsichtbare an mehreren Orten zugleich aufhielt? Oder waren es mehrere verborgene Gestalten, die sich über seine Qualen amüsierten? Jonathan blieb stehen, streckte die Arme aus und schrie seine Wut heraus. „Was verdammt nochmal wollt ihr von mir? Könnt ihr mich nicht einfach zufrieden lassen?“ Das Lachen wurde zu einem dröhnenden Donnern das wie Brandung über ihn zusammenschlug. Jonathan unterdrückte den Impuls die Hände gegen die Ohren zu pressen. Er stand einfach nur da, mit ausgebreiteten Armen und ließ es über sich ergehen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis es endlich wieder still war. Eine Stille die Jonathan bis vor Kurzem noch zuwider gewesen war in ihrer Allgegenwärtigkeit. Jetzt war sie ihm willkommen wie eine alte Bekannte. Wenn da nicht dieses verdammte Singen in den Ohren wäre. Jonathan verzichtete darauf weiter zu gehen. Er wartete, dass irgend etwas geschah. Es würde sich wohl kaum jemand die Mühe machen ihn zu beobachten nur um ein paar Mal wie ein Irrer zu lachen und sonst nichts weiter zu unternehmen. Die Möglichkeit, dass an diesem Ort immer jemand seine Heiterkeit weithin hörbar ausdrückte schloss er von vornherein aus. Seine ausgebreiteten Arme kamen ihm mit einem Mal lächerlich vor. Wie sollte er jemanden herausfordern, den er nicht sehen konnte; von dem er nicht einmal wusste, ob er tatsächlich existierte. Plötzlich löste sich Ebene um ihn herum in kleine Bruchstücke auf, die von einem Strudel aus Finsternis davon gerissen wurden. Das Licht verschwand mit der Ebene. Nur undurchdringliche Schwärze blieb zurück. Zumindest für eine gewisse Zeit. Dann loderten nicht weit von ihm entfernt Flammen auf. Etwas brannte. Jonathan konnte die Umrisse auf die Entfernung nur vage erkennen, aber dennoch wusste er sofort was er da vor sich hatte. Es war der Wagen. Sein Wagen. Eine Version davon, in der Linda möglicherweise eingeklemmt war. Der Wagen in dem vielleicht auch wieder er selbst saß; mit durchbohrter Brust. Jonathan handelte ohne weiter nachzudenken. Er rannte auf das brennende Fahrzeug zu. Als er näher kam sah er, dass die Flammen nur aus dem Motorraum schlugen. Außerdem wurde das Feuer langsam schwächer. Warum brennt nicht längst das ganze Ding? Jonathan ignorierte den Gedanken. Darüber konnte er sich später Gedanken machen. Er rannte noch schneller. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust und sein Atem ging nur noch stoßweise. Aber er konnte nicht stehen bleiben. Er musste sie sehen; sie aus dem Wrack zerren und sie von hier wegbringen. Der Beifahrersitz war leer. Etwa, weil er ihr in der Realität geholfen … Unsinn! Unterbrach ihn sein eigener wütender Gedanke. Wie konnte er ihr geholfen haben, wenn er doch selbst im Wagen saß und starb; oder bereits tot war. War sie ausgestiegen und hatte ihn einfach zurückgelassen? Kann sein. Hätte sie deine Leiche durch die Ebene schleppen sollen? Nachdem sie dich von dem Spieß befreit hat, der dich durchbohrt hat? Jonathan wusste, dass das tatsächlich eine Möglichkeit war. Dennoch fühlte er bei dem Gedanken, dass sie einfach gegangen sein mochte einen Stich in seiner Brust. Er hatte immer vorausgesetzt, dass sie nie von seiner Seite weichen würde; auch wenn das absolut keinen Sinn ergab. Erst jetzt überwand er seine innere Abwehr und richtete seinen Blick auf den Fahrersitz, den er bisher völlig aus seiner Wahrnehmung verbannt hatte. Der Sitz war nicht leer wie er eigentlich gehofft hatte. Dort saß er selbst; nach vorne gebeugt als würde er sich an das Lenkrad gelehnt ausruhen. Etwas in ihm wollte um den Wagen herum gehen und näher heran gehen; sehen, was seine Brust durchbohrt hatte; ob er bereits tot war, oder ob noch ein Rest von Leben in ihm war. Ein anderer weitaus vernünftigerer Teil riet ihm dazu einfach wegzusehen. Dieser Teil gewann schließlich die Oberhand. Beinahe erleichtert löste er den Blick von sich selbst und trat er einen Schritt zurück. Er begann nach Spuren zu suchen, die ihm etwas darüber verrieten ob Linda den Wagen aus eigener Kraft verlassen hatte und wohin sie, oder die die sie geholt hatten, sich gewandt haben mochten. Diese dunklen Flecken...Er beugte sich ein Stück hinab und nahm das was er sofort für Blut hielt näher in Augenschein. Sein Verdacht bestätigte sich. Es war Blut. Nicht viel, aber doch deutlich auf dem trockenen Boden zu erkennen. Außerdem waren da Spuren. Jonathan ging langsam rückwärts und verglich die Abdrücke dabei miteinander. Sie unterschieden sich zum Teil voneinander. Sie sahen alle völlig normal aus, waren aber unterschiedlich groß und tief. Es gab relativ kleine Abdrücke, die von jemandem stammen mussten der nicht besonders schwer war, eine Frau oder ein Kind und es gab zwei unterschiedliche Spuren, die sich aus größeren, tieferen Abdrücken zusammensetzten. Alle entfernten sich in der gleichen Richtung vom Wagen, wobei die kleineren Schuhe den Boden erst in einiger Entfernung von dem zerstörten Fahrzeug berührt hatten. Eine Schleifspur führte zu diesem Punkt. Vor Jonathans innerem Auge lief ein Film ab, der zeigte was vorgefallen sein mochte. Seine Frau hing besinnungslos in ihrem Gurt. Blut rann aus einer übel aussehenden Wunde an ihrem Bein herab. Zwei kräftige Gestalten näherten sich dem Wagen, verschwommen erkennbar durch die gesplitterte Seitenscheibe neben Lindas Kopf. Einer von ihnen riss die Tür auf, die zuerst Widerstand leistete, dann aber mit einem gequälten metallischen Kreischen nachgab. Er beugte sich in den Wagen, öffnete das Gurtschloss und zog Linda mit einer Leichtigkeit aus dem Sitz als wäre sie kaum schwerer als eine Puppe aus Plastik. Er schleifte sie ein Stück weit vom Wrack weg, bis auch der zweite Mann zugriff. An dieser Stelle hörten die Bilder plötzlich auf; als hätte der Vorführer in Jonathans Kopf die Filmrolle aus dem Projektor genommen ohne eine neue einzulegen. So konnte es gewesen sein. Du musst nur den Spuren folgen. Natürlich. Das war das schließlich alles was er hatte. Für einen Moment flackerten die Fragen in seinen Gedanken auf, wie der Wagen hierher gekommen war; wo hier überhaupt war und wer seine Frau aus dem Wrack gezerrt hatte; und wieso. Auf keine einzige davon wusste er eine Antwort und das beunruhigte ihn nicht annähernd so sehr wie es normal gewesen wäre. Es war zu absurd. Irgendetwas musste bei dem Unfall mit ihm passiert sein. Was er hier sah, musste einfach seiner Fantasie entspringen. Nichtsdestotrotz musste er einen Weg heraus finden; einen Weg, der ihn in die Realität zurückbrachte. Vielleicht versuchte Linda ihm die Richtung zu zeigen und sein Verstand machte daraus eine wilde Entführungsgeschichte. Diese Variante erschien ihm genaugenommen noch als die wahrscheinlichste. Die Möglichkeit, dass der Wagen wirklich hier auf einer leeren Ebene stand, die wer weiß wo sein mochte konnte er wohl getrost abhaken. Immer wieder seitdem er aufgewacht war versuchte er sich einzureden, dass er in seiner eigenen Fantasie gefangen war; nicht in einer fremden, völlig absurden Welt. Er war schließlich kein Kind mehr, das an Märchen glaubte. Nein. Er musste einfach nur nach seiner Frau suchen, den Brotkrumen folgen, die sie irgendwie für ihn auslegte. Dann würde alles gut werden. Einen Moment lang wartete er darauf, dass eine innere Stimme ihn von einem anderen Weg überzeugen wollte, ihm einredete, dass auch das Blödsinn war, aber in seinem Kopf blieb es still. Die Augen starr auf den Boden gerichtet wie ein Hund, der eine Fährte verfolgte bewegte er sich von einem getrockneten Tropfen Blut zum nächsten und von einem Fußabdruck zum anderen.

Jonathan blieb stehen, als er eine Veränderung in der ewig gleichen Landschaft bemerkte. Ungefähr einen halben Kilometer vor ihm – insofern sich die Entfernung ohne weitere Bezugspunkte abschätzen ließ – schien der Boden in einem ziemlich großen Gebiet dunkler zu werden, beinahe Schwarz. War das überhaupt noch feste Erde, oder gab es dort vorne vielleicht Wasser? Einen See? Oder gar eine Küste? Jonathan kniff die Augen zusammen und versuchte genauer zu erkennen worauf er sich zubewegte, aber es gelang ihm nicht. In dieser Einöde schien alles nahtlos ineinander überzugehen; sich zu einem nicht genau erkennbaren Brei zu vermengen. Egal. Geh einfach weiter, dann wirst du schon noch früh genug sehen was es ist. Jonathan nahm seine Fährtensuche wieder auf und hoffte, dass die Spur ihn genau dorthin führen würde, wo es … irgendetwas gab, für das sich der Aufwand lohnte. Wenn es Wasser war – kein Salzwasser – dann konnte er endlich trinken und danach länger durchhalten, als er ursprünglich angenommen hatte. Vielleicht würde er sie dann doch noch finden. Vielleicht war sie auch irgendwo dort vorne. Er spürte wie neue Energie durch seinen Körper pulsierte, wenn auch nur schwach. Dennoch bewahrte ihn dieser dunkle Flecken davor die Hoffnung endgültig zu verlieren und nur noch auf den Tod zu warten. Was wenn er nicht kommt? Jonathan runzelte für einen Moment die Stirn und schob den Gedanken dann so schnell er konnte von sich, ohne eine Antwort auf die Frage zu kennen. Es brachte nichts, wenn er sich über Absurditäten den Kopf zerbrach. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen und dabei mit brennenden Augen auf den Boden starren. Mehr musste er nicht tun. Schon nach einigen Minuten fiel er wieder in diese seltsame Trance, die ihn nicht merken ließ wie weit er ging, wie sehr der Durst bereits in seiner Kehle brannte und wie der ziehende Schmerz in seinen Muskeln immer stärker wurde. In seiner Welt existierten nur noch die Spuren im harten Boden und der vage Gedanke an etwas Wertvolles, das er unter allen Umständen finden musste. Er war der Realität so weit entrückt, dass er beinahe zu spät wahrgenommen hätte worauf er zusteuerte. Der dunkle Bereich war kein See; es war überhaupt kein Gewässer. Die dunkle Färbung, die er aus der Entfernung wahrgenommen hatte rührte auch nicht davon her, dass der Boden eine anderen Beschaffenheit aufwies. Er hörte einfach auf. Jonathan blieb dicht vor einem gewaltigen Abgrund stehen und bemühte sich die letzten Schleier der Trance zu zerreißen, die ihn daran hindern wollten klar zu denken. Er rieb sich die Augen und warf noch einen Blick auf die Spuren, die dicht vor dem Abgrund aufhörten, als wären die, denen er folgte einfach weitergegangen und abgestürzt. Dann trat er ebenfalls noch einen Schritt nach vorne. Und noch einen. Bis dicht an die Kante. Als er sich leicht nach vorne beugte um hinunter zu sehen wurde das Schwindelgefühl übermächtig und er wich hastig ein Stück zurück. Diese … Spalte war nicht einfach nur tief. Sie war verdammt tief. Und irgendwo dort unten schimmerte es rot wie im Krater eines aktiven Vulkans. Was zum Teufel... Nach einem seltsamen Berg, der so gar nicht in die Landschaft zu passen schien stand er nun vor dem passenden Gegenstück dazu. Ein Abgrund mitten in einer Ebene, der sicher zwei- vielleicht dreitausend Meter tief war. Etwas, das es eigentlich nur auf dem Meeresgrund gab. Aber langsam gewöhnte er sich an die Überraschungen, die dieser Ort bereithielt. Jonathan sah sich lange aufmerksam um. Die andere Seite des Spalts, dort wo sich die Landschaft eintönig wie in jeder anderen Richtung auch fortsetzte war ungefähr zweihundert Meter entfernt. Jeden Gedanken daran den Spalt zu überqueren konnte er also getrost abschreiben. Wenn er auf die andere Seite wollte, dann musste er das Gebilde schon umrunden, was angesichts der schieren Größe einen gewaltigen Umweg bedeutete. Außerdem hörten die Spuren, denen er wer weiß wie lange gefolgt war hier auf. Wozu sollte er also den Spalt umrunden? Auf der anderen Seite gab es sowieso nichts das ihn interessierte. Nein. Er musste hinunter. Den gleichen Weg nehmen, den auch seine Frau genommen hatte. Jonathan tastete sich erneut bis direkt zur Kante des Abgrunds nach vorne und sah vorsichtig nach unten. Da musste irgendwo... Ja. Da war es. Eine Möglichkeit zum Abstieg. So etwas wie eine besonders steile natürliche Treppe, die in die Tiefe führte. Wenigstens nahm er das an. Er konnte schließlich kaum mehr als zehn Meter der Treppe erkennen, bevor sie im Abgrund verschwand. Es gab kaum einen Unterschied zu einer senkrechten Wand. Normalerweise würde niemand ohne entsprechende Ausrüstung diesen Abstieg wagen – es sei denn er wäre ein Freikletterer oder ein Verrückter, was genaugenommen das selbe war, aber hier war nichts normal. Jonathan hatte nichts bei sich als das war am Leib trug und davon eignete sich nicht ein einziges Stück für Gebirgsexpeditionen. Trotzdem musste er dort hinunter. Die andere Möglichkeit war hier oben zu verdursten. Jonathan drehte sich um, schluckte trocken und tastete mit dem rechten Fuß nach dem ersten Stufenabsatz. Er musste rückwärts absteigen um nicht sofort abzustürzen. Er war kein Bergsteiger; schon gar keine erfahrener. Sein Fuß traf auf Widerstand, der wie ein kurzer Versuch zeigte sein Gewicht tragen konnte. Also stellte er auch den linken Fuß auf dem Vorsprung ab. Seine Finger krallten sich in die Kante hinter der der feste Boden der Ebene begann. Es fiel ihm unglaublich schwer loszulassen um nach einem tiefer liegenden Halt zu greifen. Trotz allem was er durchgemacht hatte gewann die Furcht vor dem Tod in der Tiefe schnell die Oberhand über seine Gedanken und Gefühle. Im Moment wollte er einfach nur so schnell wie möglich wieder nach oben klettern um sich irgendwo zu verkriechen. Die Hand die er eben erst mit äußerster Willenskraft von der Kante gelöst hatte griff beinahe ohne sein Zutun wieder danach. Er kämpfte dagegen an und stoppte die Bewegung. Eine Ewigkeit stand er zitternd da, dicht an den Fels gepresst und versuchte die Angst zu überwinden, oder sie wenigstens zu ignorieren. Schließlich gewann er den Kampf und tastete mit der Hand nach unten. Nach einigen quälend langen Sekunden in denen sein Entschluss weiterzumachen erneut zu schwanken begann fand er endlich Halt. Wenn er in diesem Tempo weitermachte würde er noch während des Abstiegs verdursten und musste sich keine Sorgen mehr machen bei einem Absturz ums Leben zu kommen. Was würde wirklich passieren wenn du fällst fragte eine provozierende Stimme in seinem Kopf. „Keine Ahnung“ murmelte er. Es gab nur eine Möglichkeit die Antwort herauszufinden und die würde er garantiert nicht wählen. Sein rechter Fuß baumelte über dem Nichts und suchte nach der nächsten Stufe. Bereits jetzt stand Schweiß auf seiner Stirn. Es war viel weniger als sonst, wenn er unter extremem Stress stand. Sein Körper war anscheinend schon ziemlich dehydriert. In einer Welle überfiel ihn beinahe schmerzhafter Durst, der gleich darauf wieder verschwand. Er war es nicht gewohnt unter irgend einem Mangel zu leiden. Verdammt er war Amerikaner und kein Beduine, der sich sein ganzes Leben mit Entbehrungen herumschlagen musste. Das hier ist aber nicht Amerika. Jonathan kniff wütend die Augen zusammen. „Ach halt doch die Klappe“ knurrte er. Er setze das linke Bein nach und löste die rechte Hand von ihrem Halt. Weiter hinab.

 

Unter Jonathans linkem Fuß brach das hervorstehende Stück Fels ab, auf das er sein Gewicht verlagert hatte. Das verdächtige Knirschen war ihm nicht entgangen, aber seine Reaktion kam dennoch zu spät. Es gelang ihm nicht mehr mit dem anderen Fuß sicheren Halt zu finden, bevor der Fels brach. Seine Finger verkrampften sich, als ein Damm in ihm brach und die Panik jeden vernünftigen Gedanken fortspülte. Der Selbsterhaltungstrieb übernahm die Kontrolle und verlieh ihm Kräfte, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Nur an den Fingerspitzen hing er über dem Abgrund, der immer noch unendlich tief zu sein schien. Lange würde er sich nicht mehr halten können. Er rutschte Millimeter für Millimeter ab. Seine Füße schabten über den Fels als er strampelte wie ein Käfer der auf dem Rücken lag. Er war damit auch ungefähr so erfolgreich wie einer dieser Käfer. Außer dass noch mehr Gestein zerbröselte und in den Abgrund rieselte erreichte er nichts. Nur mit Mühe gelang es ihm sich so weit zu beherrschen, dass er mit den Füßen systematisch nach einem Vorsprung suchte, der zumindest einen Teil seines Gewichts tragen konnte. Er musste die Finger so schnell wie möglich entlasten; noch eine Minute und er würde abrutschen und hilflos aus der Wand fallen. Von seinen Fingern aus begann brennender Schmerz sich über seine Hände zu den Armen vor zu arbeiten. Auch seine Schultern und eine Anzahl von Muskeln, deren Namen er nicht kannte sandten elektrische und chemische Hilferufe durch seinen Körper. Wie es wohl sein würde in die Leere zu stürzen, zu fallen und schließlich mit Knochen zerschmetternder Wucht irgendwo dort unten aufzuprallen? Jonathan neigte den Kopf so gut er konnte und sah an seinen hilflos baumelnden Beinen vorbei in die Tiefe. Das Schwindelgefühl mit dem er gerechnet hatte blieb aus. Stattdessen schien von dem Abgrund plötzlich eine unerwartete Verlockung auszugehen. Es war fast als würde ihn etwas rufen, das ihm einreden wollte wie gut es doch wäre einfach loszulassen. Er ertappte sich dabei, dass er einen Moment lang tatsächlich versucht war der Verlockung nachzugeben und aufzuhören, sich an diese schmerzhafte Existenz zu klammern. Sofort zwang er sich dazu, sich auf die vermeintlich einfache Aufgabe zu konzentrieren wieder Halt zu finden. Alles andere war jetzt unwichtig. Er sah wieder nach oben und erkannte, dass ihn nur noch seine Fingerkuppen davor bewahrten abzustürzen. Sie waren es, die sein ganzes Gewicht trugen. Hätte er ein ähnliches Kunststück auf einer Klimmzugstange versucht – er hätte schon lange aufgegeben. Welchen Unterschied doch die kreatürliche Angst machte. „Ein kleines Stück nach rechts mit dem rechten Fuß. Und ein kleines Stück nach unten.“ Jonathan stockte der Atem. Beinahe hätte er vor Schreck den schmalen Felsvorsprung losgelassen als er die Stimme irgendwo über ihm hörte. Wie konnte hier plötzlich jemand aufgetaucht sein, der mit ihm redete? Zum Teufel er hing in einer beinahe senkrechten Wand über einem unheimlich tiefen Abgrund und kämpfte um sein Leben und plötzlich sollte da jemand über ihm sein, der genügend Atem übrig hatte um mit ruhiger Stimme Ratschläge zu geben? Irgendwie rechnete er plötzlich damit, dass ihm einer dieser berühmten Bergsteiger zuwinken würde, locker in der Wand hängend als handelte es sich um eine einfache Kletterpartie, wenn er den Kopf hob. Als er wirklich nach oben sah erlitt er den zweiten Schock, der seine Finger erneut um einen Millimeter abrutschen ließ. Über ihm, nur knapp zwei Meter von ihm entfernt hing der fette Kerl in einem Seil dessen Ursprung Jonathan nicht sehen konnte und lächelte ihm freundlich zu. Mit einer seiner großen Hände deutete er auf eine Stellte irgendwo rechts von Jonathan. Wahrscheinlich findest du dort tatsächlich Halt. Natürlich. Wenn der fette Kerl ihn hätte umbringen wollen, dann hätte er einfach nur zu warten und zuzusehen brauchen, wie Jonathan schließlich abstürzte. Was hätte er davon ihm einen falschen Ratschlag zu geben, der die Geschehnisse wenn überhaupt nur unwesentlich beschleunigte? Jonathan folgte der Geste des fetten Kerls und tastete mit dem Fuß nach dem Vorsprung der dort sein mochte oder auch nicht. Was hatte er schon zu verlieren? In wenigen Augenblicken würde er zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, was freier Fall wirklich bedeutete; und zugleich auch zum letzten Mal, wenn kein Wunder geschah. Jonathan schloss die Augen und streckte sich so weit er konnte. Und tatsächlich; da war etwas an dem sein Fuß Halt fand. Genug jedenfalls um seine schmerzenden Finger zu entlasten und endlich wieder tief durch zu atmen. Gleichzeitig mit dem Sauerstoff fluteten neue Kräfte durch seine Adern, die sie seine verkrampften Muskeln lockerten und ihm den Willen durchzuhalten zurückgaben, den er schon verloren geglaubt hatte. „Toll“ rief der fette Kerl mit fröhlicher Stimme und klatschte in die Hände. Jonathan verzichtete darauf nach oben zu sehen und ignorierte den seltsamen Fremden. Er musste weiter nach unten. Stück für Stück schob er sich weiter, immer wieder vorsichtig tastend, nach den Schwierigkeiten, die er gerade überstanden hatte in dem Bewusstsein, dass der Fels dieser Wand auch brüchig sein konnte. Gleichzeitig schwor er sich mit jedem Meter den er mühsam zurücklegte, nie wieder auf irgend etwas zu klettern das höher war als eine Leiter. Plötzlich fiel ein Schatten über ihn. Erstaunt sah er, dass der fette Kerl direkt neben ihm in der Luft schwebte, ohne sich irgendwo festzuhalten. Der Typ kann fliegen. „Das hat jetzt lange genug gedauert, findest du nicht auch? So war das nicht vorgesehen.“ Bevor Jonathan verstand was er damit meinte bewegten sich die großen Hände des Kerls, griffen nach seinen Fingern und lösten sie mit einem Ruck vom Fels. Für einen kurzen Moment gelang es Jonathan das Gleichgewicht zu halten. Dann kippte er wie ein Brett nach hinten und fiel. Er ruderte mit den Armen, überschlug sich und hörte mit zunehmender Panik, wie die Luft immer schneller an seinen Ohren vorbei rauschte. Wie lange würde es dauern, bis er gegen die Felswand prallte? Oder würde er ungebremst bis zum Boden der Schlucht fallen? Er wusste, dass er nicht schneller als mit einer gewissen Geschwindigkeit fallen konnte. Das hatte etwas mit der Gravitation zu tun; und mit dem Luftwiderstand. Genau wusste er es nicht mehr. Wenn er unten ankam würde er aber auf jeden Fall viel zu schnell sein, um auch nur den Hauch einer Überlebenschance zu haben. Jonathan hatte viele Geschichten gelesen, die besagten, dass vor dem sicheren Tod das ganze Leben wie ein geraffter Film an einem vorbeilief. Die Wahrheit war wesentlich profaner und beinahe beschämend. In seinem Kopf war nur Platz für kreatürliche Angst und sinnlose Gedankenspielereien. Keine großen Erkenntnisse bevor er abtrat; keine Einsicht getragen von der Weisheit der letzten Momente. Vielleicht bist du auch nicht...Jonathan blinzelte. Plötzlich raste der Boden unheimlich schnell auf ihn zu. Bevor er die Augen schließen konnte löschte ein greller Blitz seine Gedanken aus.